Von Glauben und Globuli
Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Themen wie Homöopathie, Naturheilkunde oder alternative Heilverfahren keine große Rolle spielten. Jedenfalls kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, während meiner Kindheit jemals damit in Berührung gekommen zu sein. Wenn man krank wurde, ging man zum Arzt und bekam Tabletten verschrieben. Ich hatte das Vergnügen, von einer schulmedizinisch ausgerichteten Kinderärztin behandelt zu werden, die streng nach Lehrbuch vorging und vor der ich, um ehrlich zu sein, ganz schön viel Angst hatte. Nach meinem kindlichen Empfinden war sie ziemlich autoritär, hatte einen Oberlippenbart und eine sehr tiefe Stimme, was mir in ebendieser Kombination mächtigen Respekt einflößte.
Mein erster bewusster Kontakt zur Alternativmedizin ergab sich erst viele Jahre später im Rahmen meines Medizinstudiums. Dort wurde ein Kurs im Bereich der Homöopathie angeboten – von Studenten für Studenten –, den ich auch einige Male besuchte, allerdings muss ich zugeben, dass ich nicht lange dabeiblieb. Er fand abends statt, und so beschloss ich ziemlich schnell, meine neben dem medizinischen Hauptstudium noch verfügbaren Energiereserven doch lieber in Partys zu investieren, anstatt mich durch Hunderte von homöopathischen Einzelsubstanzen zu quälen. Trotzdem hat mich dieses besondere Verfahren schon damals neugierig gemacht, und so landete ich eines Tages als interessiert-kritischer Patient (wenn auch ohne aktuelle Beschwerden) bei einem Arzt, der sich ausschließlich auf Homöopathie spezialisiert hatte, um aus erster Hand etwas mehr darüber zu erfahren. Dieser Arzt, der mit seinem weißen Vollbart ein bisschen wie ein Prophet aussah, nahm sich mehr als eine Stunde Zeit für mich und stellte mir wahnsinnig viele Fragen, die aus meinem damaligen Empfinden heraus ziemlich ungewöhnlich waren: über meine Charaktereigenschaften und Essgewohnheiten, meine Hobbys und Vorlieben, meine Familie, meinen Freundeskreis und vieles mehr. Er hörte mir sehr genau zu und verschrieb mir zum Schluss ein homöopathisches Arzneimittel, ein sogenanntes Konstitutionsmittel, das genau für meine Persönlichkeit passend sei und das ich bei Beschwerden aller Art oder auch nur zur Vorbeugung von Beschwerden aller Art künftig einnehmen sollte. Ich kann mich noch gut an den Stapel Rezepte erinnern, die auf dem Arbeitstisch seiner Arzthelferin lagen, auf denen für jeden Patienten die Diagnose bereits vorgedruckt war. Der Name meiner Erkrankung (und anscheinend der Erkrankung aller Menschen, die diesen Arzt aufsuchten) lautete: vegetative Dystonie. Übersetzt heißt das so viel wie »allgemeines inneres Ungleichgewicht« oder etwas griffiger ausgedrückt: Wohlstandsblähungen.
Der Besuch bei diesem Arzt liegt jetzt über 20 Jahre zurück. Im Zuge der Recherchen für dieses Buch habe ich den Begriff »vegetative Dystonie« einfach mal in meine Internet-Suchmaschine eingegeben, und was lachte mir als eine der ersten Seiten entgegen? Die Homepage von Klosterfrau Melissengeist. Auch hier ist von vegetativer Dystonie die Rede und davon, wie man sein inneres Gleichgewicht wiederherstellen kann. Die Überschrift liest sich knackig: »Früher war es die Flucht vor den Löwen, heute fliehen wir vor Terminen.« Dazu wird noch kräftig mit einer Naturarznei aus 13 Heilpflanzen geworben, die zur Besserung des Allgemeinbefindens beitrage, zur Stärkung oder Kräftigung und bei Belastung von Nerven und Herz-Kreislauf durch innere Unruhe und Nervosität helfe. Außerdem soll es die Schlafbereitschaft fördern. Ob die Förderung der Schlafbereitschaft und die Dämpfung innerer Unruhe nicht auch durch den Alkoholgehalt von 79 Volumenprozent zu erklären ist, sei dahingestellt.
Aber zurück zu meiner ersten homöopathischen Erfahrung. Ich bekam von dem vollbärtigen Arzt das Medikament Lachesis verordnet. Hierbei handelt es sich um das Gift der Buschmeisterschlange. Voller Neugier habe ich mir die Eigenschaften dieses homöopathischen Arzneimittels ganz aktuell noch einmal angeschaut und staunte nicht schlecht. Jahre nachdem ich mich nur ein einziges Mal mit diesem Arzt unterhalten habe, finde ich unter den Anwendungsbereichen dieses Arzneimittels eine zum Teil erschreckend zutreffende Beschreibung meiner Person und meiner körperlichen Schwachstellen. Zum Beispiel wird eine besondere Anfälligkeit des Herz-Kreislauf-Systems genannt, die ich damals mit Sicherheit noch nicht hatte – heute nehme ich mehrere Blutdruckmedikamente. Eine starke Blutungsneigung mit Hang zum Nasenbluten wird beschrieben – heute vergeht kaum ein Monat, in dem ich nicht mindestens einmal kräftiges Nasenbluten habe. Andere Dinge treffen ebenso erschreckend klar auf mich zu, zum Beispiel die Neigung zu häufigen Halsentzündungen, die bei mir letztlich dazu geführt haben, dass im jungen Erwachsenenalter die Mandeln rausoperiert werden mussten. Spannend finde ich auch die Beschreibung eines Beklemmungsgefühls durch das Tragen von zu enger Kleidung, insbesondere am Hals. Ich finde Krawatten furchtbar, und selbst im kältesten Winter friere ich mir lieber den Kehlkopf ab, als dass ich mir einen Schal um den Hals wickle. Andere Punkte, die eher im Bereich des Gemütes liegen, wie Redseligkeit, ein hohes Maß an Emotionalität, ein zum Teil etwas überschießendes Temperament sowie ausgeprägte sexuelle Bedürfnisse, ein starkes Verlangen nach Alkohol und Kaffee lasse ich an dieser Stelle einfach mal unkommentiert stehen. Andere Ausführungen zu Lachesis in der Anwendung haben mir dann aber doch ein leichtes Schmunzeln ins Gesicht gezaubert. So finden sich Beschreibungen, dass es besonders hilfreich bei Halsentzündungen sein soll, wenn diese links beginnen und nach rechts wandern oder lediglich linksseitig auftreten. Also, ich kenne Wanderdünen und Wanderbaustellen, aber Wanderhalsschmerzen mit Linkslastigkeit? Nachdenklich hat mich dann aber doch der Satz gestimmt, dass Lachesis ein hervorragendes Mittel bei einer beginnenden Blutvergiftung sein soll. Da wiederum muss ich als Schulmediziner ganz klar sagen, dass bei einer beginnenden Blutvergiftung Antibiotika angesagt sind, oftmals auch eine rasche intensivmedizinische Therapie, denn an so etwas kann man auch als junger, sonst gesunder Jugendlicher problemlos sterben, was ich als Arzt leider schon erlebt habe.
Doch zurück zu meinen ersten Erfahrungen mit alternativen Heilmethoden. Nach meinem Medizinstudium habe ich dann angefangen, auf der Kinderkrebsstation eines Universitätsklinikums zu arbeiten, wo Therapiemaßnahmen nach Datenlage neuester Studien entschieden werden und alternativmedizinische Überlegungen selbstverständlich keinen Platz finden. Oder doch?
Eines Tages erzählte mir ein Kollege, dass seine Tochter eine sehr hartnäckige Dornwarze im Bereich der Fußsohle habe, die sie sich im Schwimmbad eingefangen habe, und dass alle bisherigen Behandlungsversuche mit verschiedenen Tinkturen, Vereisungsmethoden und das chirurgische Herausschneiden nicht funktioniert haben. Er erzählte die Geschichte in einer größeren Medizinerrunde, und ein anderer Kollege sagte spontan: »Weißt du was? Diese Warze zaubern wir weg!« Erstaunte und skeptische Blicke allerorten, aber es wurde vereinbart, sich am nächsten Tag im Keller des Uniklinikums zu treffen, wo sich ein uraltes, schon längst eingestaubtes Bestrahlungsgerät befand. Der zehnjährigen Tochter wurde erzählt, dass es sich hier um ein extrem effektives, aber auch ebenso teures und nicht ganz ungefährliches Behandlungsverfahren zur Warzentherapie handeln würde und dass sie dazu ihren Fuß nach genauer Anweisung unter das Gerät halten müsse. Der Arzt würde dann den Raum verlassen, von draußen das Gerät mit Fernbedienung einschalten, die entsprechende Bestrahlungsdosis abgeben, und nach einer Woche würde die Warze verschwinden. Gesagt, getan. Der Fuß des Mädchens wurde unter dem Gerät platziert, sie wurde aufgefordert, sich keinen Millimeter zu bewegen, und bekam eine Bleischürze als Schutz gegen mögliche Streustrahlen umgelegt. Der Kollege gab durch die geschlossene Tür noch mehrere Kommandos, kam nach zwei Minuten zurück und erklärte die Behandlung für erfolgreich beendet. Und siehe da, knapp eine Woche später war die Dornwarze tatsächlich verschwunden. Zur Erinnerung: Dieses Gerät war schon seit über zehn Jahren außer Betrieb und nicht einmal am Strom angeschlossen. Was war passiert? Die Dornwarze ist schlicht und ergreifend durch die Erwartungshaltung des Mädchens und den damit augenscheinlich verbundenen Selbstheilungskräften verschwunden (mehr zu solchen erstaunlichen Effekten im Kapitel »Die Macht der Erwartung«).
Eine ähnliche Erfahrung habe ich mit einem kleinen Jungen aus meinem Bekanntenkreis gemacht, der unter außergewöhnlich vielen Dellwarzen litt. Das ist eine Warzenart, die durch Viren verursacht wird. Es können sich dabei überall auf der Haut viele kleine Knubbelchen bilden, mit denen man sich auch noch ständig an neuen Stellen am Körper selbst anstecken kann. Ich sage Ihnen, eine äußerst unschöne Angelegenheit. Auch hier sind alle schulmedizinischen Therapieversuche meisterlich fehlgeschlagen. Der arme Wicht sah mehr oder minder aus wie ein Mensch gewordener Streuselkuchen. Er war ebenfalls das Kind eines Kollegen, der sich lange verzweifelt und bis dato erfolgreich gegen den Wunsch seiner Frau gewehrt hatte, doch endlich einen homöopathisch tätigen Arzt aufzusuchen. Als alle klassischen Therapien letztlich versagten und eigentlich nur noch eine chirurgische Abtragung der Warzen von den Hautärzten als letzte Behandlungsmöglichkeit präsentiert wurde, gab er kleinlaut nach und sagte zu seiner Frau: »Bevor...