Mobbing – nur ein Missverständnis?
Eine erste systemische Annäherung an ein bedeutsames Phänomen
Neulich fragte die Leiterin einer Kindertagesstätte, in deren Team ich eine Weiterbildung zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung veranstaltete: »Wieso machen wir denn eigentlich diese Schulungen, wenn doch die Rahmenbedingungen in unseren Einrichtungen Kindeswohlgefährdung begünstigen?«
Wie war es dazu gekommen, dass sie diese Frage stellte? Im Laufe der Auseinandersetzung mit der Frage, wann und wodurch das Kindeswohl gefährdet sei, wurde allen anhand eines eigenen Fallbeispiels immer deutlicher, dass in der Einrichtung selbst Gewalt stattgefunden hatte. Konnte es sein, dass die mit Gewalt verbundenen Lösungsversuche der Beteiligten zum Problem geworden waren? Konnte es vielleicht sogar sein, dass der Kontext selbst das Problem war und die gewaltvollen Handlungen nur ein Ausdruck dessen?
Wenn es um das Phänomen »Mobbing in der Schule« geht, sollten wir uns dieselben Fragen stellen. Betrachten wir aber die übliche Behandlung des Tatbestandes Mobbing in der Schule, entdecken wir, dass es hierbei zugeht wie bei einer Hetzjagd. »Mobbing muss in jeglicher Form in der Schule geächtet werden«, so Udo Beckmann, der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung1. Ob er sich bei dieser Aussage dessen bewusst war, dass »ächten« bedeutet, jemanden aus einer Gemeinschaft auszustoßen? Diese Maßnahme klingt noch absurder, wenn wir uns die Definition des Begriffes »Mobbing« anschauen.
Der Autor und Studiendirektor Karl Dambach schreibt in seinem Buch Mobbing in der Schulklasse2, »dass mit ›Mobbing‹ nur die lange anhaltende (mindestens über mehrere Monate anhaltende) Ausgrenzung Einzelner von der Mehrheit bezeichnet wird«. Soll nun also Gleiches mit Gleichem bekämpft werden? Dies scheint immerhin nicht überall üblich zu sein, denn kürzlich hörte ich, dass eine Erzieherin ihres Arbeitsplatzes verwiesen wurde, nachdem sie ein Kind, von welchem sie getreten worden war, zurück getreten hatte. Aber birgt Beckmanns Forderung nicht einen unlösbaren Widerspruch: Genau das zu tun, was eigentlich verhindert werden soll? Also mehr desselben? Wenn wir jetzt aufhorchen, werden wir dank dieses Lösungsversuchs erkennen, dass wir auf dem Holzweg sind.
Was ist eigentlich »Mobbing«?
Wer oder was soll denn hier »geächtet« werden (diese Bezeichnung findet sich bemerkenswerterweise auch an anderer Stelle, in einer Pressemitteilung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes3)? Das Phänomen Mobbing? Das ist ein interessanter Gedanke, wenn bedacht wird, in welchem Zusammenhang dieser Begriff ursprünglich verwendet wurde. Der Zoologe und Ethnologe Konrad Lorenz beschrieb Anfang der 1960er Jahre ein bestimmtes Verteidigungsverhalten vieler Vogelarten, die sich zu einer Gruppe zusammentaten, um gemeinsam durch Alarmrufe und Scheinangriffe einen Fressfeind oder anderen überlegenen Gegner in die Flucht zu schlagen (das konnte auch ein Artgenosse sein, der die eigene Brut bedrohte). Dieses Verhalten nannte er »Hassen« (Singvögel beispielsweise »hassen besonders intensiv auf« Eulen), was auf Englisch »Mobbing« bedeutet.
Mobbing ist also in seinem ursprünglichen Sinne ein sinnvolles Verhalten: eine Lösungsstrategie in Notsituationen. Gleichzeitig ist dieses Verhalten ein Ausdruck des Erlebens von Gefahr, das heißt, wenn die entsprechenden Lebewesen etwas als gefährlich wahrnehmen, greifen sie zu diesem Verhaltensmuster, um die vielleicht nur vermeintliche oder gar tatsächliche Gefahr abzuwenden.
Greifen nun junge Menschen in der Schule zum Verhaltensmuster Mobbing, stellt sich dann nicht die Frage nach dem Sinn dieses Verhaltens? Ist es denkbar, dass diese jungen Menschen sich in einem Verteidigungsmodus befinden, da sie sich in einer Notsituation erleben? Eine Situation, in der sie sich bedroht fühlen von Gefahren für ihren Selbstwert, ihre Würde, ihre Integrität und Freiheit, für ihr Selbstvertrauen, ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit, für ihre Selbstbestimmung und ihr Potential zur Selbstentfaltung – kurzum: für ihr Leben? Sind es also vielleicht die Rahmenbedingungen, die Mobbing begünstigen oder überhaupt erst hervorrufen? Und was sagt uns umgekehrt das Phänomen Mobbing über diese Rahmenbedingungen?
Diese Fragen leiten hin zu dem eigentlichen Schlüsselgedanken, der zum besseren Verständnis der Problematik führt: Mobbing ist ein Symptom, ein Kennzeichen, ein Hinweis darauf, dass das System, innerhalb dessen es auftritt, gestört ist.
Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, betrachten wir einmal beispielhaft und sehr vereinfacht dargestellt das kleine »System« Familie. Kennzeichnend für dieses System ist, dass seine Mitglieder in Beziehungen zueinander stehen und miteinander kommunizieren. In der Familientherapie ist häufig zu beobachten, dass ein Familienmitglied, meist ein Sohn oder eine Tochter, als diejenige Person beschrieben wird, die das Problem »hat«. Wer aber genauer hinschaut, stellt zumeist fest, dass es im Bereich der Beziehungen und in der Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern (meist verdeckte) Schwierigkeiten bzw. »Störungen« gibt. Die Person, die als Problem vorgestellt wird, »besitzt« nicht das Problem, sondern »trägt« es. Sie übernimmt eine ganz wichtige und für die Familie wertvolle Rolle, indem sie zum einen das dysfunktionale System stützt und vor Zusammenbruch bewahrt und zum anderen signalisiert: »Hier stimmt etwas nicht«. »Um dies zu verdeutlichen folgendes Beispiel: Eltern kommen mit ihrem neunjährigen Sohn, der seit Wochen wieder einnässt, in eine kinderpsychologische Praxis. Im Laufe des Gesprächs kommt heraus, dass die Eltern schon seit langer Zeit überlegen, sich zu trennen. Das ›Problem des Sohnes‹ übernimmt hier die Rolle, die Eltern durch ihre gemeinsame Sorge zu verbinden und lenkt den Fokus weg von den Beziehungsproblemen hin zu einem anderen Problem: dem Einnässen. Gleichzeitig dient es als Signal des Sohnes: ›Ich merke, dass etwas nicht stimmt.‹ Würde hier nun die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Jungen gelegt werden und ein irgendwie geartetes Schließmuskel- oder Toilettentraining oder gar eine medikamentöse Behandlung empfohlen, bliebe die Funktion bzw. die Botschaft dieses Symptoms völlig unberücksichtigt.«
Wenn nun Mobbing in der Schule gleichermaßen Ausdruck eines dysfunktionalen Systems ist, so würden wir mit Ächtung genau das Gegenteil tun, als das, was dieser »Rolle« zusteht. Ächtung ist die große Schwester der »Verachtung«, also der dauerhaften Abwertung. Was Mobbing als Symptom aber braucht, ist sowohl Achtung im Sinne von Anerkennung als auch Beachtung im Sinne von Interesse an dessen Botschaft.
Ächtung statt Achtung?
Stattdessen werden im Zuge der Ächtung Schuldige gesucht, gefunden und schlimmstenfalls zu »Tätern« gemacht und bestraft. Dabei wird gerade hier wieder die Paradoxie dieser Vorgehensweise deutlich. In einem Interview erzählt Zoë Readhead, die Leiterin der bekannten Demokratischen Schule Summerhill in England, wie dort mit Mobbing umgegangen wird: »Das ist bei uns zum Glück kein großes Thema, weil solche Vorfälle immer schnell ans Licht kommen. Besonders die älteren Schüler sind da wachsam. Aber wer tatsächlich jemand anderen mobbt, kommt auf die Mobbingliste: Er wird von allen Gemeinschaftsveranstaltungen ausgeschlossen und muss sich als Letzter in der Reihe beim Essen anstellen.«4 Wie kann ein mehr desselben zu weniger desselben führen?
Um es noch anders und mit den Worten Astrid Lindgrens auszudrücken, die sie 1978 in ihrer Rede anlässlich der Verleihung eines Deutschen Friedenspreises gebrauchte: »Das aber hieße den Teufel mit dem Beelzebub austreiben und führt auf die Dauer nur zu noch mehr Gewalt und zu einer tieferen und gefährlicheren Kluft zwischen den Generationen. Möglicherweise könnte diese erwünschte ›härtere Zucht‹ eine äußerliche Wirkung erzielen, die die Befürworter dann als Besserung deuten würden. Freilich nur so lange, bis auch sie allmählich zu der Erkenntnis gezwungen werden, dass Gewalt immer wieder nur Gewalt erzeugt – so wie es von jeher gewesen ist.«5
Um den Kreislauf ein wenig zu verdeutlichen, eine kleine Anekdote aus dem Leben eines zwölfjährigen Jungen:
Dieser Junge berichtete mir, er komme in der Schule mit den Lehrern und Mitschülern nicht gut aus, streite sich häufig und fühle sich oft schlecht, ungerecht behandelt und allein. Er sei schon ein paar Mal von der Schule suspendiert oder weggeschickt worden. Ich fragte nach, aus welchem Grund. Da erzählte er mir die zuletzt geschehene Begebenheit: Ein Mädchen aus seiner Klasse habe ihm die Hose heruntergezogen. Daraufhin sei er zu der Lehrerin gegangen, die sagte, er solle das selbst klären. Das habe er getan – und dem Mädchen die Hose heruntergezogen. Daraufhin sei er wieder suspendiert und in einem Brief von der Schule der sexuellen Belästigung bezichtigt worden.
Eine ganz absurde Geschichte, die zwar offenlässt, ob hier von Mobbing gesprochen werden kann, aber offenbart, dass das Täter-Opfer-Konzept unbedingt infrage zu stellen ist. Könnte es Situationen geben, in denen gar der »Täter« selbst das »Mobbingopfer« ist?
Was ist Gewalt?
Der Begriff »Gewalt« stammt vom althochdeutschen Wort »waltan« ab, welches »stark sein, beherrschen« bedeutet. Der Zusammenhang zu »Herrschaft« im Sinne einer institutionalisierten Form von Über- und...