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Wer wir sind

Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein

AutorJana Hensel, Wolfgang Engler
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783841216410
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Den Osten verstehen. Wer sind diese Ostdeutschen?, fragt sich die Öffentlichkeit nicht zuletzt seit Pegida, NSU und den Wahlerfolgen der AfD. Antidemokraten, Fremdenfeinde, unverbesserliche Ostalgiker? Zwei herausragende Stimmen des Ostens stellen sich in diesem Streitgespräch jenseits von Vorurteilen und Klischees der Frage nach der ostdeutschen Erfahrung, die, so ihre These, 'vielleicht am besten mit Heimatlosigkeit zu beschreiben ist, mit einem Unbehaustsein, das viele Facetten kennt. Das sich nicht jeden Tag übergroß vor einem aufstellt, aber das immer spürbar ist, nie weggeht.' Ein unverzichtbarer Beitrag zur Geschichtsschreibung des Nachwendedeutschlands.

Jana Hensel, geboren 1976 in Leipzig, wurde 2002 mit ihrem Porträt einer jungen ostdeutschen Generation »Zonenkinder« schlagartig bekannt. Seither arbeitet sie als Journalistin. 2017 erschien ihr Roman »Keinland« und 2018 gemeinsam mit Wolfgang Engler »Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein« im Aufbau Verlag. Das Buch stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Hensel lebt in Berlin und ist heute Autorin von ZEIT Online und DIE ZEIT.

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Leseprobe

Wolfgang Engler: Bis weit in die neunziger Jahre hinein war der Ost-West-Diskurs westdeutsch dominiert. Die Ostdeutschen waren Gegenstand von Zuschreibungen, Vermutungen, bald jovialen, bald wenig freundlichen Porträts, in denen ihre Vergangenheit oftmals als Ballast erschien, von dem sie sich nun trennen sollten, um in dem neuen Gemeinwesen handlungsfähig zu werden. Ich entsinne mich freilich auch einer ganzen Reihe von westdeutschen Historikern und Soziologen, die ich durchaus mit Gewinn gelesen habe.

Jana Hensel: Welche denn?

WE: Hermann Weber, Wolfgang Leonard, Gerhard A. Ritter, Christoph Kleßmann, Hermann Glaser, Sigrid Meuschel, um nur einige Namen zu nennen. Wirklich lesenswerte und interessante Darstellungen der DDR-Geschichte. Was darin fehlte, zwangsläufig fehlen musste, war eine Gesamtdarstellung der ostdeutschen Verhältnisse aus der Innenperspektive, der gelebten Erfahrung. Ein solches Vorhaben kann problematisch sein, weil die eigene Verwicklung in das Geschehen, das man darstellt, leicht in Konflikt zum Anspruch auf Objektivität gerät. Wenn man darum weiß und Wege findet, diesen Widerspruch zu kontrollieren, kann Teilhabe auch Gewinn bedeuten, zum Aufschluss von Erfahrungen führen, die von außen unzugänglich sind.

JH: Das ist sehr richtig, aber Innenperspektiven sind natürlich unerlässlich.

WE: Primär geht es darum, das, was man selbst erlebt hat, mittels anderer Erlebnisse, anderer Wahrnehmungen auf Abstand zu bringen. Sein eigenes Sein im Sein anderer zu spiegeln. Dann wird das Ganze eine Art Selbstversuch, und auch darum war es mir zu tun. Mich zu fragen: Was war meine eigene Position in dieser DDR-Gesellschaft? Wie hat sie sich im Lauf der Jahre verändert? Was konnte ich aus meiner Lage sehen? Zu welchen anderen Erfahrungen hatte ich Zugang, welche verschlossen sich mir, sodass es im Nachhinein einiger Mühe bedurfte, mich in sie hineinzuversetzen? Dass ich die DDR über Jahrzehnte hinweg aus recht unterschiedlichen sozialen Blickwinkeln kennenlernte, war für mein Vorhaben sicher hilfreich. Väterlicherseits wuchs ich in einem Funktionärshaushalt heran, meine Mutter war Hausfrau. 1957 zog ich mit meinen Eltern von Dresden nach Berlin.

JH: Wie alt waren Sie damals?

WE: Fünf. Und ich zog damals mitten hinein in einen Arbeiterbezirk, als Kind eines »Bonzen«, wie man dort sagte.

JH: In den Prenzlauer Berg?

WE: In den Prenzlauer Berg. Dort bekamen wir eine Wohnung zugewiesen. Unter lauter Arbeitern, Handwerkern, kleinen Gewerbetreibenden, viele arbeiteten zu dieser Zeit noch in Westberlin. Und fast alle standen dem DDR-Regime ablehnend gegenüber, sahen in mir das Funktionärskind. Nicht leicht, Freunde zu gewinnen. Aber es war insofern eine heilsame Erfahrung, als mir schon früh klarzuwerden begann, dass dieses politische System zu keinem Zeitpunkt von Mehrheiten getragen wurde. Meine Schulkameraden und deren Eltern verabscheuten nicht nur Ulbricht, sondern verwarfen die DDR als solche, betrachteten sie allenfalls als Provisorium, dem sie ein baldiges Ende wünschten.

JH: Warum?

WE: Weil das sowjetische Modell, das man dem Osten Deutschlands nach 1949 übergestülpt hatte, von der weit überwiegenden Mehrheit als Zwangsjacke empfunden wurde, und zwar nicht nur politisch. Hier, wie auch in Tschechien, der Slowakei, teilweise auch in Ungarn und Polen, konnte sich die totale Verstaatlichung des Kapitals von Anfang an nicht einmal auf die relative historische Rationalität einer nachholenden Entwicklung moderner bürgerlicher Gesellschaften berufen. Dieses Stadium war hier bereits erreicht, strukturell und habituell, jedenfalls so weit, dass der Modernisierungsprozess auf seinen bereits geschaffenen Grundlagen hätte weiterlaufen können. Oder in den Worten von Robert Kurz aus seinem Buch »Der Kollaps der Modernisierung« von 1991: »Die zwangsweise Eingemeindung dieser Gesellschaften in die Sphäre des sowjetischen Etatismus war also historisch reaktionär und kontraproduktiv, wovon die lange Kette von Volksaufständen und Massenbewegungen seit den fünfziger Jahren beredtes Zeugnis ablegt.« Die Menschen in Ostdeutschland waren dem Sozialmodell entwachsen, das ihnen verordnet worden war, das spürten sie instinktiv. Und das politische System mit seiner Verweigerung elementarer Grundfreiheiten vergraulte sie vollends. Das Projekt DDR, wenn man es so nennen darf, war zu keinem Zeitpunkt mehrheitsfähig. Mit seinem antifaschistischen Selbstverständnis konnte der ostdeutsche Teilstaat zu Beginn noch Teilgruppen der Gesellschaft an sich binden, Loyalität erzeugen, mehr nicht.

JH: Im Nachhinein scheint es mir doch so zu sein, dass der Antifaschismus als offizielle Interpretation der Geschichte – ich sage mit Absicht nicht Ideologie, sondern Interpretation – für die Zigtausenden neuen DDR-Bürger, die im Nationalsozialismus Mitläufer und mit Sicherheit auch Täter gewesen sind, ein Angebot gewesen ist, das Leben neu zu beginnen. Wie ein Pakt oder ein Tauschhandel hat der Antifaschismus als eine Art gesamtgesellschaftlicher Persilschein doch ein festes Loyalitätsband geknüpft, das bis in die achtziger Jahre zu halten vermochte. Jene Generation, die 1989 auf die Straße ging, hat den Krieg selbst nicht mehr erlebt. Auch deshalb konnte sie sich von der herrschenden Geschichtsinterpretation und vor allem auch von den herrschenden Machthabern emanzipieren. Sie brauchte deren Geschichtsverständnis nicht mehr, sie hatte sich in beinahe vierzig Jahren DDR ein neues geschaffen.

WE: So sehe ich das auch. Vor allem in den Anfangs-, den Aufbaujahren gab es auch echte Begeisterung für die DDR, vor allem unter jungen Leuten. Die griffen das Angebot auf, wollten anpacken, ein neues, besseres Deutschland schaffen, Aufstiegschancen nutzen, die sich unter anderen Verhältnissen nie für sie eröffnet hätten, und zehrten oft ein Leben lang von diesem frühen Enthusiasmus. Von dem Kredit, den die DDR ihnen und den sie ihr gegeben hatten, um zuletzt doch mit ansehen zu müssen, dass es auf diese Weise nicht gelingen konnte. Am Ende griff die Erosion sogar auf den Machtapparat über, das Vertrauenskapital war aufgezehrt und der Staat am Ende. Aber um den Ausgangsgedanken kurz zu Ende zu führen: Mein Aufwachsen in Prenzlauer Berg in den sechziger Jahren war eine prägende Lektion. Ich lernte damals jene Großgruppe der Gesellschaft kennen, die zentral für diesen Staat war, der sich Arbeiter-und-Bauern-Staat nannte, und wurde von allen Illusionen geheilt, die man im sozialen Umfeld meines Elternhauses hegte. Geschichtliche Prozesse aus der Sicht der Mehrheiten heraus wahrzunehmen und zu beurteilen wurde mir zur zweiten Natur und bewahrte mich noch 1989 davor, der Hoffnung vieler Kulturschaffender auf einen dritten Weg auch nur die geringste Chance auf Verwirklichung einzuräumen. Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte mit dieser Idee gebrochen. Das würde den Ausschlag geben, daran zweifelte ich zu keinem Zeitpunkt.

JH: Haben Sie den Prenzlauer Berg, also Ihren ersten DDR-Erfahrungsraum, später verlassen?

WE: Zunächst wollte ich kein Abitur machen, wohl deshalb, weil das mit einer Verpflichtung zum dreijährigen Wehrdienst bei der NVA verbunden war. Das wollte ich nicht, stellte mich im Unterricht dümmer an, als ich war. Später habe ich das Abitur auf einer Volkshochschule nachgeholt und zeitlich überlappend eine Lehre als Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung absolviert. Während dieser Ausbildung lernte ich eine andere Personengruppe kennen. Leute, die sich für Technik, für Mathematik interessieren, Aspiranten der wissenschaftlich-technischen Intelligenz.

JH: Interessierten Sie sich denn damals überhaupt für Mathematik und Technik?

WE: Nein, ich wusste einfach nicht, was ich sonst machen sollte.

JH: Aber Sie waren sicher auch bei der NVA?

WE: Ja, achtzehn Monate, eine Erfahrung, auf die ich gern verzichtet hätte. Für mich war das die DDR auf den schwärzesten Punkt gebracht. Inkompetenz, Dummheit, Leerlauf, die reinste Zeitverschwendung. Danach bin ich in meinen derweil erlernten Beruf zurückgekehrt, um von dort aus zur Humboldt-Universität zu gehen und Philosophie zu studieren, sechs Jahre, mit Forschungsstudium und Promotion. Dummerweise arbeitete ich anschließend genau in dem Jahr am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften, als dort der letzte Schauprozess gegen DDR-Philosophen stattfand.

JH: Wann war das?

WE: 1980/81.

JH: Und gegen wen fand dieser Schauprozess statt?

WE: Da hatte der oberste DDR-Kaderphilosoph mit Namen Manfred Buhr eine Gruppe ausgehoben, von der er meinte, sie sei revisionistisch oder wenigstens parteischädigend, und das hatte endlose Versammlungen in diesem Institut zur Folge mit Parteistrafen und beruflichen Schikanen für Leute, die die falsche Position bezogen hatten. Dem habe ich mich durch Flucht in die Kunstwelt entzogen.

JH: Um noch einmal kurz bei Ihren Milieubeschreibungen zu bleiben: Trafen sich an der Universität nicht viele Kinder der Funktionselite wieder?

WE: Das war schon auffällig. Die...

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