Wer wir waren, wer wir sind
1. Haus der Geschichte, Bonn
Jener Sommerabend im Kaukasus. Um einen runden Eichenblock sitzen auf zurechtgehackten Baumstümpfen drei Männer. Links Hans-Dietrich Genscher in Anzug und Krawatte. Ihm gegenüber Helmut Kohl im offenen Hemd und in halbbauchig geknöpfter Strickjacke. Zwischen Genscher und Kohl, Arme über dem hochgeschlossenen Pullover verschränkt, Michail Gorbatschow. Im Halbrund hinter ihnen stehen in gleichfalls heiterer Gemütslage die Augenzeugen dieser historischen Szene. Unter ihnen UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse, Gorbatschows Frau Raissa, Kohls Sprecher Hans »Johnny« Klein – alle mittlerweile beheimatet in einer anderen Welt – und Finanzminister Theo Waigel.
Ein merkwürdiger Platz: Dort, auf Gorbatschows Datscha bei Archys, haben am 19. Juli 1990 der sowjetische Staatschef und der deutsche Bundeskanzler Geschichte ausgesessen. Dort im Kaukasus, auf einer Meereshöhe von 1400 Metern, entwarfen vor fünfundzwanzig Jahren die beiden Männer eine Roadmap zur deutschen Einheit, an deren Ende das Ziel Wiedervereinigung stand. Über ihr ungewöhnliches Outfit, in Strickjacke der eine, im Pullover der andere, geschuldet den mitunter am Fluss Selentschuk aufkommenden feuchtkühlen Abendwinden, oder über die aus Baumstämmen gesägten Hocker, auf denen sie saßen, ist seitdem mehr berichtet worden als über manchen Minister oder Parteisekretär.
Deshalb ruhen Wolle und Holz, die unter anderen Umständen in anderen Zeiten eben nur Holz und Wolle gewesen wären, im Haus der Geschichte zu Bonn hinter Glas. Ausgestellt als ansehnliche Wegbegleiter zum großen Ziel geeintes Deutschland. Wie dabei wieder zusammenwuchs, was lange getrennt war, ist zwar eine sagenhaft gute Geschichte, die alle Jubeljahre wieder erzählt wird, weil es eher selten passiert, dass Wunder geschehen und Märchen wahr werden. Doch diese Geschichte setze ich als bekannt voraus, will sie nicht mit Geschichten weiter verdichten und erfülle deshalb im folgenden Text am Beispiel von Daten wie dem 9. November 1989 oder dem 3. Oktober 1990 nur noch meine Chronistenpflicht.
Gehören solche Banalitäten wie eine Strickjacke, ein Pullover, zwei Baumstümpfe aber hierher? Ja. Hier sind sie wesentlich, denn hier gehört zum wissenschaftlichen Gesamtkonzept, auch das auszustellen, was auf den ersten Blick banal wirkt. Mit Speck fängt man Mäuse, behauptet bekanntlich der als Quelle für allen möglichen Schwachsinn missbrauchte Volksmund. Was übersetzt ins wahre Leben etwa bedeutet, dass einem verlockenden Angebot niemand widerstehen könne. Eine Weisheit, die bei den Planungen für das Haus der Geschichte, die 1986 begannen, in die Tat umgesetzt worden ist. Aufgrund von Befragungen der Besucher wurde das Konzept seit der Eröffnung 1994 immer wieder den neuen technischen Möglichkeiten angepasst und entsprechend verfeinert: Dreidimensional, digital, haptisch. Stets blieben die vier Grundsäulen der Anspruch, sowohl unterhaltend als auch belehrend, sowohl berührend als auch berührbar zu sein.
Manchmal sogar tanzbar.
Tanzbare Geschichte? Habe ich mich etwa verrannt auf der Suche nach den noch nicht ausgeschlachteten Geschichten hinter all dem Sichtbaren in den Gängen und den Wänden und den Räumen und den sechzehn historischen Stationen des Museums?
Gemach. Die tanzbare Geschichte wird noch geklärt. Aber nicht schon hier und schon gar nicht jetzt. Erst mal sollen mich die Leser bei meiner Reise durchs Haus der Geschichte begleiten. Ich habe dafür sogar über jeden Verdacht leichtfertigen Umgangs mit Historie erhabene Unterstützer. Aus einer Vielzahl von Geschichten, betont Präsident Hans Walter Hütter, werde schließlich am Ende »unsere Geschichte«. Memory in history wird gestützt von real existierenden historischen Daten.
In diesem Rahmen dürfen viele der ausgestellten Objekte, darunter eben auch Strickjacke, Pullover, Baumstumpf, für sich sprechen. Statt ausschließlich anhand von Akten und Fotos und Zahlen über die Verbrechen der Nazis und der Kommunisten die Banalität des Bösen zu dokumentieren, soll deutsche Geschichte erlebbar, Schritt für Schritt begehbar gemacht werden.
Im Museum gehören deutsch-deutsche Jahrestage wie der 23. Mai 1949, als die Bundesrepublik geboren wurde, oder der 17. Juni 1953, als Arbeiter in Ostberlin gegen die Obrigkeit auf die Straße gingen, oder der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus, wie der 9. November 1989 und der 3. Oktober 1990 selbstverständlich zur Nachkriegsgeschichte.
Die begann am 8. Mai 1945. Mit dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, mit der Befreiung von KZ-Häftlingen, Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen aus vielen Ländern startet hier die Zeitreise von der Vergangenheit in die Gegenwart. Die wurde noch viel zu lange geprägt von den herrschenden Moralvorstellungen der einst Herrschenden. Wie aus der Adenauer’schen Demokratur eine kämpferische Demokratie aufbrach, ist schon ebenso oft erzählt worden wie Geschichten der deutschen Einheit. Ausgelöst wurde diese Geschichte in einer einzigen Nacht. Nachdem am 26. Oktober 1962 von der Staatsgewalt die Redaktion des Spiegel in Hamburg besetzt und außer einigen Redakteuren auch Herausgeber Rudolf Augstein verhaftet worden war, übten fortan Schüler und Studenten auf den Straßen für ihn und die Pressefreiheit demonstrierend den aufrechten Gang. Mit Erfolg. Sechs Jahre vor den je nach Weltanschauung verklärten oder verteufelten 68ern, siebzehn Jahre nach der Befreiung 1945, nahmen wir uns Schritt um Schritt die Freiheit, die wir meinten.
Die Außerparlamentarische Opposition, kurz: APO, angetreten gegen den Vietnamkrieg der verbündeten Amerikaner und gegen die Verdrängung der Schuld der Väter und Mütter, begann den langen Marsch durch die Institutionen. Vollendet schließlich 1969 durch die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler, der versprach, mehr Demokratie zu wagen. Beim Anblick des Wasserwerfers, den die Polizei dem Museum geschenkt hatte, leider renoviert statt mit sichtbaren Beulen von einstigen Einsätzen, rief bei einem Rundgang der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Kulturstaatssekretär Nevermann laut durch die Halle zu: »Knut, komm mal rüber, die Dinger haben wir damals doch oft vor uns auf der Straße gesehen!«
Seinen internationalen Ruf hat sich das Haus der Geschichte verdient. Mit ihm und in ihm kann sich Deutschland wahrhaft sehen lassen, und damit im Glanze seines Glückes stets alles strahlen kann, was in der historischen Sammlung gezeigt wird, darunter auch die Tür zur damaligen Zelle von Rudolf Augstein, stehen für Pflege und Reinigung pro Jahr vierhunderttausend Euro im Haushalt des Museums bereit.
Der Weg durchs Museum beginnt mit einem Rückblick, um Besucher in jene Zeit zu versetzen, der die meisten von ihnen dank später Geburt entronnen sind. Nach der Stunde Null, befreiend zu sehen im kurzen Filmausschnitt über die Sprengung des Hakenkreuzes auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder symbolisch an einem originalen US-Jeep. Denn Soldaten in Jeeps fuhren voraus in befreite zerstörte Städte, in denen im Mai 1945 wie immer im Mai, egal, ob mal wieder Frieden herrschte in Europa oder mal wieder Krieg, die Bäume blühten. Das erste Bild, das die Geschlagenen von den Siegern speicherten – Amerikaner, Russen, Engländer, Franzosen –, war das eines Jeeps. Egal, ob der mal im Osten oder im Westen produziert wurde. So anschaulich, so sichtbar nacherlebt man im Haus der Geschichte die deutsche Nachkriegszeit. Die der Besatzung in vier Zonen, die der Bundesrepublik, die der DDR.
Bilder vom Hungerwinter 1946/1947. Der Kohlenklau wurde von Gottes amtierendem Vertreter im Bonn nahen Köln, Joseph Kardinal Frings, als überlebensnotwendig in solchen Zeiten abgesegnet, den Dieben von der Kanzel herab Absolution erteilt. Die dankten es ihm und bezeichneten fortan unerlaubtes Klauen als ihnen erlaubtes »Fringsen«.
Berichte von Flüchtlingsschicksalen, nachgebaute Notunterkünfte in Baracken, hörbar, begehbar, sichtbar: Die Zahl von elf Millionen ausgebombten, vertriebenen, verschleppten, vermissten Deutschen, Menschen, die nach Kriegsende ihre Angehörigen suchen oder von denen gesucht werden, verzeichnet bereits ab April 1945 in den Karteien des Rotes-Kreuz-Suchdienstes, kann ich mir nicht vorstellen. Hier sehe ich sie in berührenden Nahaufnahmen vor mir: Kinder, kleine und größere, zwei, drei, vier Jahre alt, manche auch älter, aufgenommen von der DEFA in Potsdam-Babelsberg. Kinder, die nicht wissen, zu wem oder wohin sie gehören, weil sie auf der Großen Flucht ihre Eltern verloren haben. Viele kennen nicht mal ihren eigenen Vornamen, geschweige denn einen Familiennamen. Bis Ende 1946 liefen solche Suchfilme zwischen Wochenschau und Hauptfilm in allen Kinos.
Memory and history, Erinnerungen und Geschichte: Freie Wahlen hier, Einparteiendiktatur dort. Wirtschaftswunder hier, Planwirtschaft dort. Pressefreiheit hier, Zensur dort. Brauner Muff unter den Talaren hier, Kadertraining ab Kita dort. Die Zone Ost, die wir trotzig anschreibend gegen die Reaktionäre von der anderen Straßenseite DDR...