Einleitung
Werte spielen in unserem Leben eine wichtige Rolle. Als Vorstellungen von dem, was gesellschaftlich und persönlich wünschenswert ist, geben sie uns Orientierung und beeinflussen unser Handeln. Persönliche Wertvorstellungen sind maßgeblich dafür, wie wir unser Leben gestalten. Die in einer Gesellschaft geltenden Grundwerte wiederum bilden die Basis für das Miteinander und den sozialen Zusammenhalt.
Daher ist und bleibt Wertebildung für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft essenziell. Für das Individuum steht die Entwicklung eines stabilen handlungsleitenden und identitätsprägenden Wertesystems im Mittelpunkt. Für die Gesellschaft ist vor allem die Weitergabe der für das Zusammenleben erforderlichen Grundwerte an die heranwachsende Generation entscheidend. Doch wie gelingt Wertebildung? Wie entwickeln sich Kinder und Jugendliche zu gemeinschaftsfähigen, eigenständigen und verantwortungsvollen Persönlichkeiten? Und wie können die Bildungsinstitutionen sie dabei unterstützen und so ihrem Auftrag der Werteerziehung gerecht werden? Diese Fragen müssen angesichts der Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft neu beantwortet werden.
Wir diskutieren Wertefragen in unserer Gesellschaft heute zunehmend intensiv und kontrovers. Es scheint, als befänden wir uns gegenwärtig erneut in einer Phase, in der die Auseinandersetzung mit und über Werte an Relevanz und Brisanz gewinnt. Einwanderung und Integration werden etwa vermehrt unter dem Blickwinkel einer kulturellen Passung diskutiert und es wird darüber gestritten, ob der Islam überhaupt mit westlichen Werten vereinbar sei. Aber auch hinsichtlich des Status gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, des Beschneidungsverbots oder der Sterbehilfe prallen unterschiedliche Werte aufeinander und werden gegeneinander abgewogen. So wird beispielsweise einerseits mehr Toleranz gegenüber alternativen Lebensmodellen gefordert oder für Religionsfreiheit und Selbstbestimmung gestritten, andererseits wird auf die Unverletzlichkeit der Person verwiesen oder eine Rückbesinnung auf christliche Werte gefordert.
Aktuelle Herausforderungen im Bildungsbereich – Inklusion, wachsende soziokulturelle und religiöse Vielfalt in Klassenzimmern, die Einführung islamischen Religionsunterrichts oder Probleme des Sozialverhaltens wie Gewalt oder Extremismus – sind ebenfalls eng verbunden mit Fragen der Wertorientierung und Wertebildung sowie dem Beitrag, den Bildungseinrichtungen hier leisten können und sollten.
Die Ursachen für diese Aktualität und Brisanz von Wertefragen liegen in tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen: Globalisierung, Migration, Individualisierung haben dazu beigetragen, dass unsere Gesellschaft heute deutlich vielfältiger ist als früher. Vor allem aber ist diese Vielfalt im Alltag sichtbar und fordert ihr Recht ein. Immer mehr Menschen nutzen ihre freiheitlich-demokratischen Grundrechte, um Beschränkungen, die sich aufgrund ihrer Lebensweise, ihrer Kultur, aber auch ihres Geschlechts ergeben haben, zu beseitigen. Heute leben in Deutschland Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen, mit unterschiedlichen Überzeugungen, Wertorientierungen und Lebensstilen zusammen. Entsprechend vielfältig sind die Vorstellungen davon, was persönlich oder gesellschaftlich wünschenswert ist und an welchen Werten der oder die Einzelne die eigene Lebensweise orientieren soll.
Fraglos bereichern diese Vielfalt und Wertepluralität unsere Gesellschaft. Zugleich fordern sie aber Gesellschaft und Individuum heraus: Das Leben der Menschen ist im Zuge von Modernisierungsprozessen komplexer und unübersichtlicher, chancen-, aber auch risikoreicher geworden. Zahlreiche Handlungsmöglichkeiten bieten Freiheiten, muten den Einzelnen aber auch größere Unsicherheiten und mehr Verantwortung zu. Die mitunter konkurrierenden Wertepräferenzen und Lebensstile führen zu Ambiguitäten, Spannungen und Konflikten, die Aushandlungsprozesse erforderlich machen und den sozialen Zusammenhalt gefährden können. In der Summe vergrößert sich dadurch der Bedarf an Orientierungshilfen und damit auch an Wertebildung.
Vor diesem Hintergrund ist eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber erforderlich, welche Werte wir als Basis für ein friedliches Zusammenleben brauchen. Wir benötigen ein Wertefundament, das ein respektvolles Miteinander unterschiedlicher Menschen ermöglicht und Vielfalt und Offenheit zulässt.
Von diesem Punkt ausgehend, müssen sich Wissenschaft und pädagogische Praxis der Frage stellen, wie Wertebildung – als Prozess der Wertaneignung und Entwicklung von Wertekompetenz – in Familie, Kita, Schule und Jugendarbeit unterstützt werden kann.
Heute muss der gelingende Umgang mit Wertevielfalt ein vorrangiges Ziel pädagogisch initiierter Wertebildung sein. Hierfür ist zunächst die Aneignung freiheitlich-demokratischer Grundwerte – wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Grundgesetz verankert sind – als gemeinsame Wertebasis der erste und wichtigste Schritt. Die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Werten und die Vielfalt der Lebensstile sind nur dann möglich, wenn eine gemeinsam geteilte Wertebasis wechselseitigen Respekt und Anerkennung sicherstellt und zugleich einen Orientierungsrahmen bietet, der dort Grenzen setzt, wo Diskriminierung beginnt und ein friedliches Miteinander in einer heterogenen, pluralistischen Gesellschaft gefährdet ist.
Entscheidend ist als zweiter Schritt die Aneignung individueller Wertekompetenz. Sie hilft dem Individuum auch unter unübersichtlichen Bedingungen, den eigenen Lebensweg zu finden und mit der Vielfalt umzugehen. Wertekompetenz zeichnet sich dadurch aus, sich mit widersprüchlichen Werten auseinandersetzen zu können, eigene Werthaltungen ausbilden, wertorientiert urteilen (Werturteilskompetenz) und handeln sowie konstruktiv mit Wertekonflikten umgehen zu können. Sie setzt ein Bündel von Fähigkeiten voraus, die somit im Rahmen von Wertebildung zu stärken sind, wie Empathie und Mitgefühl, Perspektivübernahme, Reflexions- und Urteilsfähigkeit, Konflikt- und Kooperationsfähigkeit.
Wertebildung in diesem Sinne ist sowohl für die Persönlichkeitsentwicklung als auch für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft essenziell. Es gilt, Wertekompetenz als gleichberechtigt neben kognitiven Kompetenzen anzuerkennen und als weiteres Kernstück des Bildungsauftrags gezielt zu fördern.
Wissenschaft und Praxis in Deutschland haben den Bedarf erkannt und befassen sich seit einiger Zeit wieder zunehmend intensiv mit Werten und Wertebildung. Das vorliegende Handbuch soll einen fundierten Überblick über die vielfältigen Aktivitäten und Debatten geben und so die unterschiedlichen Entwicklungen zusammenfassen und nutzbar machen. Diese Gesamtschau soll Impulse sowohl in die akademische Forschung als auch in die pädagogische Praxis geben und der Auseinandersetzung um Wertebildung weiteren Schwung verleihen. So, hoffen wir, kann durch die Verknüpfung aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und vielversprechenden praktischen Ansätzen eine zeitgemäße und integrierte Gesamtkonzeption von Wertebildung entstehen. Der vorliegende Band liefert erste Anregungen für eine solche Gesamtkonzeption.
Zunächst ist es erforderlich, sich über grundlegende Begriffe und deren Bedeutung zu verständigen. Zudem basiert eine zeitgemäße Wertebildung auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ausgehend von der Klärung der Begriffe »Werte«, »Wertebildung« und »Wertekompetenz« gibt Wilfried Schubarth in Kapitel 1 einen Überblick über einschlägige Theorien und die in der Fachdebatte anerkannten Grundmodelle und pädagogischen Konzepte.
Auf dieser Grundlage wird die gegenwärtige Praxis der Wertebildung in Deutschland genauer untersucht. Als zentrale Sozialisationsinstanzen tragen vor allem Familie, Kita, Schule, Jugendarbeit sowie die Peergroup zur Wertebildung von Kindern und Jugendlichen bei. Fünf Beiträge beleuchten die gegenwärtige Praxis der Wertebildung in diesen Sozialisationsinstanzen. Die Beiträge gehen auf aktuelle Rahmenbedingungen, Konzepte und Methoden ein, zeigen Trends und bestehenden Bedarf auf und geben Hinweise zu guter Praxis. Interviews und ausgewählte Beispiele ergänzen die Ausführungen und geben Einblicke in die gegenwärtige Praxis.
Als primärer Sozialisationsinstanz kommt der Familie für die Wertebildung besondere Bedeutung zu. Im ersten Beitrag (Kapitel 2) widmet sich Margit Stein der Wertebildung in der Familie. Sie geht auf die besonderen Herausforderungen ein, vor denen Familien heute stehen, und stellt aktuelle Ansätze und Methoden zur Wertebildung in der Familienbildung vor.
Die erste pädagogische Instanz im Leben von Kindern ist die Kita. Mit der Wertebildung in der Kita befassen sich Frauke Hildebrandt und Christa Preissing im zweiten Beitrag (Kapitel 3). Sie zeigen die unterschiedlichen Möglichkeiten auf,...