Einführung
Erstaunlich, wie drastisch sich Gesellschaft und Wirtschaft in nur 20 oder 30 Jahren verändern und wie wenig wir davon in der Schweiz, in Europa und in der Welt bemerken. Gewohnte Denkfiguren und alte Kämpfe stecken noch in den Köpfen, in den Debatten.
Mein Elternhaus mit Gewerbebetrieb, meine Tätigkeiten als Journalist, als Volkswirtschafter im Sekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), wieder als Journalist, als ausserordentlicher Professor in Lausanne und als Mitglied der Kommunikationskommission liessen mich seit 1950 in viele Mechaniken des gesellschaftlichen Lebens blicken, in die Motive der Menschen und in das, was dann schliesslich dabei herauskam. Und das ist oft ganz anders, als viele meinen. Wir stecken eben viel zu stark selbst drin.
Ich gehöre zur Babyboomergeneration. Sie hat gewonnen, dank ihren seit dem Aufruhr 1968 erprobten Gesellschaftstechniken, sie hat das Land, die Institutionen, die Köpfe nach ihrer Façon ausgerichtet. Aber manche nun Altgewordene kämpfen diese Kämpfe immer noch, bis zu den Entschuldigungsritualen wegen Zweitem Weltkrieg, Kolonialismus, Ausländerintegration, fehlgeleiteter Sexualität und anderen Schrecken.
Das Neue ist anders, als wir denken!
Das Neue kann auch diese Generation in ihren errungenen Ämtern wiederum, wie ihre Väter der 1950er-Jahre, kaum erkennen, nämlich:
– eine leidenschaftslose Globalisierung durch das neue, utilitaristische Asien, seinen Aufstieg nicht durch Entwicklungshilfe alten Stils mit Geld, sondern mit Bildung, Weltmarktorientierung und freiem Berufszutritt – im Gegensatz zu Teilen Afrikas und Lateinamerikas;
– den erreichten «keynesian endpoint» in den alten Industriestaaten, das Ende also des dauernden Ankurbelns von Nachfrage, der Umverteilung, nach welcher heute die Hälfte der Haushalte Geld vom Staat bekommt, was aber die Anbieter von Arbeitsplätzen und Produkten entmündigte, die Staaten Westeuropas ruinierte und nun für Hunderte von Millionen Menschen soziale Unsicherheit schafft, weil Arbeit wie Kapital fehlen und die Versprechen zurückgenommen werden müssen;
– die Verreglementierung der Lebensgestaltung Einzelner zugunsten von Gruppenrechten der Konsumenten, Mieter, Arbeitnehmer, Umwelt- und Sozialbewegten, Einspruchsberechtigten, Datengeschützten, Verkehrsteilnehmer, Aussenseiter, Agrarbranchen, elektronischen Medien, Tiere, wonach bald «was nicht schon verboten ist, befohlen ist»;
– das Erfolgsmodell des freien Arbeitsmarktes der Schweiz oder Dänemarks, der die Vollbeschäftigung bewahrte, und wo nicht mehr industrielle Massenausbeutung herrscht, sondern motivierte, qualifizierte Arbeit in Partnerschaften, Teams und Projekten erfolgt;
– einen offenen Weltmarkt, und damit Weltarbeitsmarkt, der nicht von Superstaaten wie den USA oder der EU beschickt wird, sondern den einzelne Firmen und ihre Belegschaften in den Wertschöpfungsketten bestreiten – wenn die Staaten sie dies mit günstigen Produkt- und Arbeitsmarktregeln tun lassen;
– eine EU, die vom nützlichen Binnenmarktprojekt der 1950er-Jahre zur Harmonisierungswalze und zum Transferstaat wegen der Fessel des Euro wurde, und etwas völlig anderes als noch die EWG oder EG ist, für die man sich begeistern konnte;
– eine Schweiz mit gesellschaftlichen Spielregeln, die im Gegensatz zum übrigen Europa «bottom-up» anstatt von politischen Visionen «top-down» bewegt wird und deshalb dynamisch blieb;
– das dadurch bewirkte Aufrücken der Schweiz zu einem «Weltstaat» mit Weltgang, nicht im Alleingang, zu einer Metropolitanregion wie Südengland, Kalifornien, Australien, Vancouver, Singapur, Shanghai, mit hoch qualifizierten Zuzügern, und als Kopf weltweiter Netze;
– die Schweiz als erfolgreichen «melting pot», aber nicht mehr von unqualifizierten Zuzügern der 1950er- und 1990er-Jahre, die übrigens in den Arbeitsmarkt gleich gut integriert sind wie Schweizer, sondern heute mit zuwandernden Kadern, die man nicht im alten Stil integrieren muss, die aber Wettbewerb und Wohlstand schaffen;
– die intellektuelle Dynamik aus den angelsächsischen Ländern, entgegen dem in alten Mentalitäten verharrenden Frankreich, dem früheren Orientierungspunkt vieler Intellektueller, und entgegen Deutschlands Glitterati, die nur in den Kategorien gleich/ungleich, Täter/Opfer, Problem/Staat denken und immer noch historische Schuld wälzen;
– das Leben mit unausweichlicher Differenz statt Gleichheit in offenen, Welthandel treibenden Ländern und in Einwanderergesellschaften für Kaderleute und Vermögliche.
Ich protokolliere hier, wie dies alles kam, wie es heute läuft und wie die nächste Zukunft laufen kann und soll. Wie die Schweiz tickte, tickt und ticken wird.
Zuerst blicken wir mit ein paar gerafften Zahlen kurz auf das galoppierende Wachstum und den Neuerungsschub seit dem Zweiten Weltkrieg.
Der Ursprung der Wohlstandsgesellschaft nach 1945
Von aussen profitierte die Schweizer Wirtschaft nach dem Krieg durch allgemeine technische Fortschritte, die sie innehatte oder sofort übernahm. Es war nicht nur der intakte Produktionsapparat, der ein ausgehungertes und ausgebombtes Europa beliefern konnte. Die damaligen Techniken der mittleren und grossen Schweizer Firmen zählten zur Hochtechnologie, wie man heute sagen würde. Dazu gehörten: Turbinen, Generatoren, Stromübertragung, Pharmazie, Nahrungsmittel, Bankwesen, Versicherungen, Rückversicherungen, Tourismus.
Das günstige Öl und die einheimische Wasserkraft sicherten die Antriebe und Kalorien des Landes. Der tiefe Frankenkurs und die günstigen Zinsen unterstützten die Exportwelle. Die Handelsdiplomatie brachte dank Europäischer Freihandelsassoziation (EFTA), Allgemeinem Zoll- und Handelsabkommen (GATT)/Word Trade Organisation (WTO) und 1972 mit der Europäischen Union (EU) multilaterale Marktöffnungen zuwege. Hans Schaffner, der Chef der Handelsabteilung, nachmaliger Bundesrat, schuf fast im Alleingang die EFTA als komplementären europäischen Binnenmarkt gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).
Die Volkswirtschaft nahm damals Sätze, die sich wie die heutigen chinesischen Wachstumsraten ausnehmen – plus 7,3 Prozent für 1950, plus 6,5 Prozent in den Jahren 1955 und 1956, sodann plus 7 Prozent für 1960, plus 8 Prozent für 1961, und noch 1970 plus 6,7 Prozent. Auch wenn man die Einwanderung der Italiener, nachher der Spanier und Türken einbezieht, nahm der Wohlstand pro Kopf fast gleich viel zu. Die Reallöhne stiegen nicht so schnell, sodass den Firmen viel Kapital für neue Investitionen und eine schnelle Ausbreitung über den ganzen Erdball verblieb. Wenn heute etwa 1,8 Millionen Arbeitende in Schweizer Firmen weltweit beschäftigt sind, stützt dies auch die Arbeitsplätze im metropolitanen Zentrum Schweiz. Diese nahmen zwischen 1950 und 1970 um die enorme Zahl von 770000 Personen zu. Vor der Ölkrise, nämlich 1970, gab es in der Schweiz genau 104 Arbeitslose.
Schon mehrmals rissen sich die Schweizer Wirtschaftsführer mit kühnen Adaptationen zur Weltwirtschaft hoch. 1876 kam eine ihrer Delegationen geschockt von der Weltausstellung in Philadelphia zurück: Die amerikanische Industrie produzierte nicht mehr Einzelstücke mit aneinandergereihten Facharbeitern, sondern mit Maschinen und in Serie. Innerhalb weniger Jahre stellte sich die Schweizer Wirtschaft darauf um. 1919 schifften sich 200 Industrielle nach den USA ein, um Henry Fords Fliessbänder zu studieren, unter ihnen Oscar Bally, Walter Boveri, Carl Sulzer, Jacob Schmidheiny, Karl H. Gyr und Louis Raichle. Solche technischen Quantensprünge stehen auch heute an. Die Schweiz könnte ohne ihr heutiges Moratorium das rückständige Europa in der Gentechnik überflügeln. Man muss Geschäftsmodelle des Internets wie das iPhone und das iPad von Apple sowie deren Applikationen und das Elektronikbuch Kindle von Amazon entwickeln. Die Schweizer Erfolge mit Doodle oder Tilllate zeigen, dass es geht. Dazu braucht es endlich eine stärkere Softwareindustrie, die heute importabhängig ist; es braucht den Mut zu Gratisdiensten im Netz, die auf Werbeeinnahmen basieren, oder Systeme des Micropayments für Medien und Dienste. Die Verlage müssen ihre Bücher elektronisch verkaufen, wie alle in den USA es schon tun. Alle Einwohner müssen fliessend Englisch können und mit amerikanischen, asiatischen Usanzen vertraut sein.
Diese neuen Techniken warten v. a. auf das, was Schweizer seit je am besten konnten, nämlich diese anzuwenden und mit bestehenden Geschäftsmodellen zu verbinden. Die neuen Techniken erlauben Gründern und neuen Selbstständigen wie vor 50 Jahren, selbst einzusteigen; es braucht nicht mehr die Giganten der Stahlwerke oder Autofabriken; es muss nicht alles hier erfunden werden.
Der Wohlstand kommt nicht von ungefähr
Weitere Wachstumstreiber der 1950er- und 1960er-Jahre bestehen noch immer. Dazu zählt die konsequente Ausrichtung der Handelsdiplomatie auf den Weltmarkt und einen offenen Europamarkt – dort aber nicht auf mehr. Die Übernahme der vielen Einschnürungen im Arbeitsmarkt, Geschäftsleben und Steuerwesen sowie der Einheitswährung Euro würde die Schweiz vom «Weltgang» abhalten, mit dem sie den Wettbewerb mit den Asiaten und den USA heute bestens bestreitet. Der Franken kann von der Schweiz bestimmt werden, damit auch das Zinsniveau, der Aussenkurs und die Konjunkturimpulse.
Der freie Arbeitsmarkt war nach 1945 – und ist es...