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Wie geht's dir, Deutschland?

Was aus dem Land geworden ist, in dem ich aufgewachsen bin

AutorChristoph Amend
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644005068
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Mit denen spielst du aber nicht», sagte ihr Vater u?ber die italienischen Jungs, die plötzlich in der Straße auftauchten. Meine Mutter aber fand es aufregend: « Da gab es einen Enzo, der sprach eine andere Sprache, das war doch spannend. Wir waren stolz, dass die plötzlich da waren, in unserer kleinen Welt!» Ihre Eltern hatten schon wieder vergessen, dass sie sich doch die genau gleichen Spru?che hatten anhören mu?ssen, keine zehn Jahre zuvor. Ich erzähle meiner Mutter, dass Herbert Grönemeyer das Gleiche im Ruhrgebiet erlebt hat, die beiden sind ja gerade mal drei Jahre auseinander. «Tu?rken, Italiener, Griechen, in meiner Jugend waren wir darauf stolz», hat er mir erzählt. «Guck mal, haben wir gedacht. Wer alles zu uns in den Ruhrpott kommt!»

Christoph Amend, 1974 in Gießen geboren, ist Chefredakteur des ZEITmagazins und Herausgeber der Weltkunst, dem Kunstmagazin der ZEIT. Bevor er zur ZEIT wechselte, war er verantwortlich für die Sonntagsbeilage des Berliner Tagesspiegel und stellvertretender Redaktionsleiter des Jetzt-Magazins der Süddeutschen Zeitung. Mit Iris Berben veröffentlichte er 2012 das Buch 'Ein Jahr, ein Leben', 2011 gab er den Band 'Die Grünen - das Buch' mit heraus. Für sein Buch 'Morgen tanzt die ganze Welt - die Jungen, die Alten, der Krieg' wurde er 2004 mit Hermann-Hesse-Nachwuchspreis ausgezeichnet.

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Leseprobe

Kapitel 1 Mein Vater


«Wir können über alles reden, nur nicht über Politik und Krankheiten», sagt mein Vater, kaum habe ich mein Elternhaus betreten. Ich muss lachen, mein Vater und ich unterhalten uns, seitdem ich denken kann, über Politik, wobei unterhalten für die meisten der Gespräche nicht das richtige Wort ist.

Wir haben uns ziemlich oft gestritten. Mein Vater hat in seinem Leben CDU, FDP und SPD gewählt, sagt er, die drei Parteien der alten Bundesrepublik, die drei Parteien, mit denen er aufgewachsen ist. Er ist Jahrgang 1943, geboren am Ende des Zweiten Weltkrieges, da war der längst für Deutschland verloren.

«Wir können über alles reden, nur nicht über Politik und Krankheiten.» Und dann tun wir zwei Tage lang nichts anderes. Wir belassen es allerdings bei den Krankheiten seiner Freunde, seine eigenen Zipperlein sparen wir uns.

Egal, wo wir sind, mein Vater, seine zweite Frau Maria und ich, ob am Küchentisch, im Wohnzimmer vor dem Kamin, im Auto, beim Spazierengehen, immer wieder kommen die beiden auf das zu sprechen, was ihnen Sorgen macht: was alles schiefläuft in Deutschland. Als wir abends in das italienische Lieblingsrestaurant der beiden fahren, versucht es mein Vater noch einmal mit seiner Selbstbeschwörung. «Wenn wir jetzt gleich das Restaurant betreten», sagt er, «wenn wir über die Schwelle treten, dann werden wir zwei Stunden lang eine Politikpause machen.»

Kaum haben wir uns gesetzt, geht es weiter.

«Du weißt ja: Früher habe ich die Angela Merkel gemocht, wegen ihrer Art, die hat nie so eine Show gemacht wie der Schröder», sagt mein Vater, «aber seit den Flüchtlingen ist das vorbei. Das ist doch naiv, die Politiker in Berlin wollen die Probleme nicht sehen, die es überall gibt.» Seine Frau Maria fügt hinzu: «Du weißt ja, dass ich eigentlich immer links gewählt habe, aber ich verstehe das auch nicht mehr.» Ihre gestapelten Ausgaben der Frankfurter Rundschau habe ich sofort vor Augen.

Einmal halte ich dagegen, sage, dass Angela Merkel in jener Freitagnacht im September 2015, als Tausende von Ungarn über Österreich auf die deutsche Grenze zuliefen, doch völlig richtig gehandelt habe. Was hätte sie in dieser Nacht denn anders machen sollen? Kurzes Nicken bei beiden. Dann sagt mein Vater: «Aber danach! Alles ist aus dem Ruder gelaufen, und überall wird nur beschwichtigt. Aber ihr wollt das nicht wahrhaben.»

Ihr?

«Ja, ihr in Berlin, die Politik, die Medien, ihr lebt doch längst in eurer eigenen Welt.» Er winkt ab.

Das hat er noch nie gemacht. Wir haben uns in all den Jahren immer wieder gestritten, über die Grünen, über Gerhard Schröder, über Helmut Kohl, wir haben uns unterbrochen, uns gegenseitig vorgeworfen, uns nicht ausreden zu lassen, aber dieses resignierte Abwinken ist neu.

Abends, im Bett meines Elternhauses, liege ich noch eine Weile wach. Das «ihr» geht mir nicht aus dem Kopf.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, mache ich mein Handy an, lese ein paar Nachrichten, Twitter, Instagram, auf einer Nachrichtenseite finde ich einen Beitrag über den britischen Wissenschaftler David Goodhart, der sagt, dass die alten politischen Muster, links und rechts, Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht, oft nicht mehr helfen würden, wenn man verstehen will, was in der Gesellschaft los ist. Er sagt, dass westliche Demokratien in den vergangenen Jahren an Stabilität verloren hätten, weil es eine «wachsende Wertekluft» zwischen den «Anywheres» und den «Somewheres» gebe. Die «Anywheres», schreibt Goodhart, «sind normalerweise gut ausgebildet und mobil. Sie legen Wert auf Autonomie, Offenheit und Fluidität. Sie haben eine ‹erarbeitete Identität›, die auf Bildungs- und Berufserfolgen basiert und dazu führt, dass sie sich überall selbstsicher und wohl fühlen.» Wie kann ich mich dabei nicht gemeint fühlen? Die «Somewheres» hingegen sind laut Goodhart «stärker verwurzelt». Ihnen seien «Gruppenzugehörigkeiten, Vertrautheit und Sicherheit» wichtig. Ihre Identität basiere auf einer Orts- und Gruppenzugehörigkeit, «was dazu führt, dass Veränderungen ihnen eher Unbehagen bereiten».

Wenn man so will, sind die «Anywheres» die Gewinner dieser Entwicklung. Sie laufen sich in den Großstädten über den Weg und klagen darüber, wie klein die Welt geworden sei, wie austauschbar. Die Verlierer hingegen erleben morgens auf dem Marktplatz ihrer Kleinstadt, was es bedeutet, dass die Welt jetzt zu ihnen gekommen ist. Mir fällt sofort ein, wie Maria mir erzählt hat, dass sie sich manchmal unsicher fühlt, wenn sie an der Bushaltestelle neben einer Gruppe junger Männer steht, Geflüchtete, die Sprüche machen, Bierflaschen in der Hand haben.

Ich fühle mich ertappt bei der Beschreibung der sogenannten Gewinner.

Beim Frühstück spreche ich die Szenen an der Bushaltestelle am Marktplatz noch einmal an. Und frage mich, wie ich selbst reagieren würde, wenn ich im Alter meines Vaters und in dem seiner Frau wäre.

Mein Vater war Gymnasiallehrer, er hat Englisch, Französisch und Italienisch unterrichtet, und als er pensioniert wurde, hat er als Erstes Spanisch gelernt, ist kreuz und quer durch Südamerika gereist. Danach kam Portugiesisch, und es folgten viele Reisen nach Lissabon. Fremde Kulturen hat er immer schon geliebt, das komplette Eintauchen hat er geradezu zelebriert. Nie wollte er bei seinen Aufenthalten in teuren Hotels wohnen, bevorzugte ein einfaches Zimmer bei einer Gastfamilie, «nur so lernst du das Land wirklich kennen». Ständig haben wir früher Freunde aus Frankreich oder England zu Besuch gehabt oder sind zu ihnen gefahren.

Mein Vater war der Erste in seiner Familie, der studieren konnte. Sein Vater, gelernter Buchbinder, später Beamter bei der Bahn, sagte zu ihm: «Du kannst aufs Gymnasium gehen, aber für Nachhilfe haben wir kein Geld.» Mein Vater machte sein Abitur, ging auf die Universität, absolvierte Auslandssemester – und wurde Lehrer.

Als ich ihm sage, dass er eines jener Kinder der Bundesrepublik sei, für die das Versprechen gegolten habe, Aufstieg durch Bildung, sieht er mich verblüfft an. So hat er sich selbst noch nie betrachtet, aber seine Frau stupst ihn an. «Das stimmt schon, wir haben davon profitiert!» Maria hat auch als Erste in ihrer Familie studiert, sie wurde auch Lehrerin, hat auf einer Sonderschule unterrichtet. Seit kurzem ist sie auch pensioniert.

Beide haben ein sicheres, schönes Leben, ihren Kindern geht es gut, ums Geld müssen sie sich keine großen Gedanken machen, die drehen sich eher um die nächsten Reisepläne, im kommenden Jahr wollen sie noch einmal nach Chile und Argentinien. Das Land, in dem sie ihr Leben verbracht haben, hat ihnen so vieles möglich gemacht. Und doch sind sie heute auf dieses Land nicht gut zu sprechen.

Mein Elternhaus steht in einem Neubaugebiet in Langgöns, einer Gemeinde in Mittelhessen, das ja selbst mitten in Deutschland liegt. Die nächste Großstadt ist Frankfurt im Süden, das Dorf hat einen Nahverkehrsanschluss ans Rhein-Main-Gebiet, viele pendeln morgens nach Frankfurt und abends wieder zurück. Knapp 15000 Einwohner leben heute in der Großgemeinde. Die große deutsche Geschichte spielte sich in Langgöns eher in kleinen Anekdoten ab. Im Gasthaus «Zur Post» hat Fürst Bismarck einmal übernachtet und war von den Gesprächen mit der Wirtin so beeindruckt, dass er gesagt haben soll: «Da habe ich aber meinen Meister gefunden.» Ein knappes Jahrhundert später brach die RAF ins Langgönser Gemeindebüro ein und klaute Blankoformulare für Stempel, Pässe und Siegel, die bei späteren Verhaftungen von Terroristen gefunden wurden. Und in den achtziger Jahren fand im Gemeindezentrum eine wichtige Landesversammlung der Grünen statt.

Der berühmteste Sohn der heutigen Gemeinde ist Friedrich Ludwig Weidig, ein Wegbegleiter Georg Büchners und Vordenker der Revolution von 1848, der die meiste Zeit in Butzbach gelebt hat, einer Kleinstadt, die keine zehn Kilometer entfernt liegt. Auf der Weidig-Schule in Butzbach habe ich mein Abitur gemacht. Eva Briegel, die später mit ihrer Band Juli einmal einen Hit hatte, den das halbe Land mitsang, «Perfekte Welle», ist ein paar Straßen entfernt von mir aufgewachsen, der Schauspieler und Moderator Jochen Schropp ging mit meinem vier Jahre jüngeren Bruder Lars zur Schule, mit dem späteren Dreisprungweltmeister Charles Friedek habe ich Fußball gespielt.

In den Jahren meiner Kindheit konnten wir vom Garten meines Elternhauses auf eine riesige, viele Kilometer entfernte Kaserne der US Army schauen, und die Erwachsenen machten manchmal den Scherz: «Wenn die Russen angreifen, kommen sie zuerst hierher.» Das klang mitten in der grünen Idylle so unwirklich, dass es uns schon als Kinder keine Angst bereitete. Zumal wir beim Spielen im Wald immer wieder auf freundliche US-Soldaten bei ihren Übungen trafen, die uns Schokoriegel und Kaugummi schenkten, als lebten wir in den fünfziger Jahren und nicht in den Achtzigern.

Ich habe damals vor allem Fußball gespielt, ich wollte wie so viele Jungs Profi werden. Ich war gar nicht schlecht, wurde in Auswahlmannschaften berufen, immer ging es eine Ebene höher, bis ich mich mit 15 so schwer am Bein verletzte, dass ich mit dem Leistungssport aufhören musste. Meine Eltern ließen sich hinter meinem Rücken etwas einfallen. «Wolltest du nicht schon immer in England zur Schule gehen?», fragte mein Vaters eines Tages. Keine Sekunde hatte ich darüber nachgedacht, aber schon ein paar Wochen später war ich auf dem Weg nach Plymouth, dort sollte ich von Januar 1990 an die High...

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