SANDRA LOTZ
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Das Jahr 2017 war für mich das intensivste Jahr meines bisher 37jährigen Lebens. Im Frühjahr wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert. Es folgten mehrere OP’s und viele Monate Therapie. Wenn ich das so normalerweise erzähle, dann erhalte ich oft folgende Reaktion: „Oh, du Arme, wie schrecklich. Aber du siehst gut aus, wirklich.“ Und oft höre ich aus diesen Worten eine gewisse Verwunderung heraus: „Wie kann es dir so gut gehen, wenn du doch so schwer krank warst? “, und vielleicht schwingen auch ein paar Zweifel mit: „Geht es dir wirklich so gut, oder sieht das nur so aus?“. Ich gebe dann gerne meine Standard-Antwort: Selbstverständlich habe ich auch mal schlechte Momente. Aber insgesamt fühle ich mich sehr nah bei mir und bin dankbar für das, was ich lernen durfte. In solchen Gesprächen ernte ich dann mindestens interessierte Blicke. Noch häufiger hingegen spüre ich sogar so etwas wie Neid. Den Krebs, den will keiner. Aber dieses tiefe Gefühl der Zufriedenheit, dieses bei sich sein, innerlich stark und in Balance sein – das will jeder.
Wie ich das hinbekommen habe, ist eine Entwicklung, die schon lange vor der Krebs-Diagnose begann. Um diese Geschichte erzählen zu können, verrate ich dir, dass es früher mal zwei Sandras gab. Obwohl ich psychisch absolut gesund bin, fühlte ich mich ganz lange so, als hätte ich eine gespaltene Persönlichkeit. Wenn ich alleine in meiner Homebase war, mich mit geliebten Dingen umgab oder vertraute Menschen an meiner Seite hatte, fühlte ich mich total wohl. Dann war ich in meinem Element, konnte mich und meine Persönlichkeit voll ausleben. Das war die Sandra, die ganz natürlich Stärke aus sich selbst ziehen konnte. Ganz anders war es jedoch, wenn ich mich draußen in der freien Welt aufhielt. Fremde Menschen, die an mir zogen und etwas von mir wollten. Geräusche und Lärm, die mich stressten. Aufgaben und Inhalte, die ich unnötig fand. Durch mein Leben zog sich viele, viele Jahre lang das Gefühl von „Ich bin irgendwie anders. Ich bin nicht gut, so wie ich bin. Ich muss mehr so sein wie andere. Ich muss funktionieren.“
Ich wurde zu einer absoluten Meisterin darin, mir selbst einzureden, dass ich anders sein müsste. Heute weiß ich, dass es sich dabei um negative Glaubenssätze handelte – eine sehr wirksame Form der Selbstsabotage. Damals war ich jedoch fest davon überzeugt, dass ich wirklich verkehrt war. Im Vergleich mit anderen fühlte ich mich häufig wie ein Alien. Statt langer blonder Haare hatte ich braune, kurze Locken, die grundsätzlich nie so lagen, wie ich das wollte. Meine Nase war schon immer größer als gefühlt alle anderen Nasen auf diesem Planeten. In der Schule rutschte ich ab dem Gymnasium immer weiter ab. Statt für Dinge zu lernen, die mich nicht interessierten, verdiente ich lieber Geld bei der Mathe-Nachhilfe, in der Tanzschule und später dann als Kellnerin. Und dann noch mein Inneres … Bei mir war – egal was – nie so einfach, leicht, easy-peasy, wie ich es bei anderen zu erleben glaubte. Ich empfand vieles als anstrengend und musste mich oft zusammenreißen, um weiterzumachen. Das war die zweite Sandra: Die junge Frau voller Selbstzweifel.
In den Zwanzigern empfand ich mein Leben als inneren Kampf. Nach dem Abitur landete ich in einer Bankausbildung. Ich erwog kurz, Psychologie zu studieren, denn da zog es mich inhaltlich hin. Aber bei meinem Notendurchschnitt? Forget it. Und trauen tat ich mich auch nicht. Und irgendwie gefiel es mir dann auch in der Bank, denn plötzlich war ich wieder in etwas gut. Mit meinem ersten Job im Kundenservice war ich jedoch total unterfordert. Ich wollte mehr wissen, mehr verstehen, interessante und spannende Themen bearbeiten und weiterentwickeln. Also absolvierte ich in meiner Freizeit zwei Studiengänge, bis ich in einer Rekordzeit von fünf Jahren endlich mein Diplom in Betriebswirtschaftslehre in der Tasche hatte. Mir lagen die Inhalte, ich war diszipliniert und mit Motivation dabei. Damals tauchte das erste Mal der Gedanke in meinem Kopf auf, selbst Unternehmerin zu sein. Nur hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, in welchem Bereich. Und so schob ich diese Idee wieder in die hinterste Ecke meines Kopfes, wo sie kein Unheil anrichten konnte.
Ich blieb einfach in der Bank und stieg mit den Jahren immer schneller ins Hamsterrad. Es gibt ja diesen Spruch, dass ein Hamsterrad sich von innen anfühlt wie eine Karriereleiter. Mit etwas Abstand kann ich heute sagen, dass es bei mir so war. Doch damals habe ich das nicht erkannt. Meine Umwelt sah in mir eine Frau, die Karriere in einem Umfeld voller Männer machte. Heute kann ich nachvollziehen, dass das so gewirkt hat. Tatsächlich war das aber nie mein Antritt. Mein einziger Wunsch war immer nur, mein Können wirklich einzusetzen – und damit die Welt ein kleines bisschen zu verändern. Ich war zutiefst intrinsisch motiviert. Denn ich war immer fest davon überzeugt, dass ich etwas kann. Auch wenn man oft versucht hat, mich klein zu halten, und neben mir viel schlechter ausgebildete (männliche) Kollegen befördert wurden. Dass – trotz der Schwierigkeiten - mit den Jahren Verantwortung, Status und Gehalt immer mehr zunahmen, war ein netter Nebeneffekt, der mein Ego zusätzlich anstachelte. Da ich also irgendwie in ein Leben reingeschlittert war, in dem ich – als erfolgreiche Business-Frau – die meiste Zeit draußen und fremden Einflüssen ausgesetzt war, hatte ich viele, viele Jahre mit meiner unsicheren Sandra zu kämpfen. Ich schreibe bewusst Kampf, denn ich habe es als einen inneren Kampf erlebt. Ich kämpfte gegen mich selbst. Ich kämpfte gegen das, was ich wirklich bin, und was in mir steckte. Ich hörte mehr auf andere als auf mich selbst. Ich wollte immer schnell alles erledigen. Ich wollte immer funktionieren. Ich wollte alles richtig machen. Ich wollte keine bis wenig Fehler machen. Ich wollte weiterkommen. Mit der Zeit gewöhnte ich mich aber an diese Sandra und dachte, sie sei echt und gehöre zu mir. Ich lebte, arbeitete und liebte mit ihr. Und ich arbeitete mich an ihr ab. Immer und immer weiter. Mein Fokus lag darauf, erfolgreich im Job zu sein und einen Partner für die Familienplanung zu finden. Einfach, aber wahr.
Hätte man mich damals gefragt, was mein größter Wunsch ist – ich hätte geantwortet „Ein bisschen mehr wie der Durchschnitt zu sein“. Ich war einfach null bei mir und komplett in der äußeren Welt verankert. Innerlich fühlte ich mich weit von mir selbst entfernt. Versteh mich nicht falsch: Hätte ich damals das gespürt, was ich heute wahrnehmen kann, dann hätte ich längst eingegriffen. Ich bin eine Macherin und übernehme Verantwortung. Doch tatsächlich habe ich in dieser Zeit meines Lebens nicht besonders viel gespürt. Ich habe emotionale Instabilitäten, Weinkrämpfe, häufige Erkältungen und den allgemeinen Weltfrust als „Fehler“ abgetan. Ich dachte, wenn ich nur besser funktioniere, dann würde ich auch mehr Erfolg haben. Egal, ob im Job oder privat. Wie ich heute weiß, waren dies alles Anzeichen meiner Seele. Sie signalisierte mir damit, dass ich mein Leben ändern möge. Sie wies mich darauf hin, dass eine andere Art von Leben für mich vorgesehen ist. Sie wollte mich dazu bewegen, hinzusehen und zu erkennen. Als ich nicht auf sie hörte, schickte sie mir Krankheiten: Rückenschmerzen und ständige Magenkrämpfe. Die Medizin verwendet hierfür den schönen Begriff Psychosomatik. Viel treffender ist mit meinem Wissen von heute, diese als körperlichen Ausdruck des seelischen Schmerzes einzuordnen. Ich versuchte es mit mir bekannten Mitteln zu lösen. Ich redete mir gut zu. Ich fing an, Bücher zu lesen, die sich damit beschäftigten, wie man sich als Frau im Job durchsetzt. Ich wurde hart im Nehmen und hielt deutlich mehr aus als gut für mich war. Ich bewarb mich mehrmals bei anderen Unternehmen, aber es sollte nicht sein. Ich konzentrierte mich auf mein Studium als Eintrittskarte für eine bessere Art von Job.
Ich hätte einfach gehen können.
Ich hätte mir Hilfe und Unterstützung suchen können.
Ich hätte mehr auf mich hören sollen.
Ich hätte weniger auf andere hören sollen.
Ich hätte mir selbst mehr wert sein können.
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Das alles habe ich nicht oder nicht genug getan. Denn das war noch die Sandra, die wenig darüber wusste, wie sie selbst, die Menschen und die Welt allgemein tickt.
Die erste Krise kam mit Ende 20. Und es kam, wie es kommen musste: Kurz vor meinem 30. Geburtstag zog mir der Haufen meiner angesammelten Probleme den Boden unter den Füßen weg. Stellenweise fühlte ich mich in dieser Zeit wie unter einer Glasglocke. Tief in mir ahnte ich, dass ich echt Probleme hatte. Dennoch teilte ich das nur mit wenigen Menschen. Nach außen hin, vor allem im Job, versuchte ich vorzuspielen, dass alles nicht so schlimm sei. Natürlich würde ich es schaffen. Ich schaffe immer alles, oder? In der Rückschau weiß ich, welche drei Phasen ich durchlaufen habe, damit es mir wieder gut ging.
Stabilisierung
Sport & Bewegung:...