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E-Book

Wie herrlich, Schweizer zu sein

Erfahrungen mit einem schwierigen Land

AutorJean Ziegler
VerlagPenguin Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641218478
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jean Ziegler ist ein Mensch, der sich nicht mit den Dingen abfinden will, die er für falsch erachtet. Ein Unbequemer, der in seinem leidenschaftlichem Engagement für die gerechte Sache nicht davor zurückschreckt, sich einflußreiche Feinde zu machen.

Hier schreibt Jean Ziegler über Jean Ziegler: aus dem Leben eines Aufsässigen, der das gute Leben liebt, die Frauen und nicht zuletzt natürlich seine Heimat, die Schweiz.



Jean Ziegler lehrte Soziologie in Genf und an der Sorbonne, war bis 1999 Abgeordneter im Eidgenössischen Parlament und von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident im Beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrats. Zieglers Bücher wie Die Schweiz wäscht weißer haben erbitterte Kontroversen ausgelöst. Zuletzt erschienen die Bestseller Ändere die Welt! (2015) und Der schmale Grat der Hoffnung (2017).

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Leseprobe

Ein Sommertag 1992 im Verhandlungssaal der Strafkammer des Cour de Justice im zweiten Stock des Genfer Justizpalasts: Durch die hohen Fenster der Westfassade ergießt sich ein milchiges Licht auf den Fußboden.

Es ist heiß an diesem Nachmittag. Windstill. Der Saal ist klein und schmucklos. Die Seitenwände sind mit hellem Eichenholz getäfelt. Die calvinistische Republik verabscheut Ornamente. Einzige Ausnahme: Ein aus dunklem Holz geschnitztes Genfer Wappen prangt über dem kahlen Haupt des Vorsitzenden. Das Wappen besteht aus einem gespaltenen Schild: links, auf rotem Grund, ein halber schwarzer Adler, Symbol des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation; rechts, auf goldenem Grund, der Schlüssel Petri, Emblem episkopaler Gewalt. Und über dem Schild, in schwarzen Buchstaben, das Motto der calvinistischen Revolution: Post Tenebras Lux.

Man beschuldigt mich, einen der angesehensten Bürger der Republik – einen internationalen Finanzier –, der Geschäftsbeziehungen zum zaïrischen Diktator Mobutu unterhält, verleumdet und beleidigt zu haben. Er verlangt meine strafrechtliche Verurteilung und Schadensersatz von mehr als 500000 FF.

Links auf dem Podium, hinter einer schmiedeeisernen Schranke, die ihn von den Anwälten, Zeugen, Journalisten und dem Publikum trennt, erhebt sich Staatsanwalt Laurent Kasper-Ansermet, ein eleganter, gewiefter Herr in den besten Jahren. Mit klangvoll-feierlicher Stimme prangert er meine unheilvolle Rolle in der Schweiz und in Europa an, geißelt den ungeheuren Schaden, den ich, seiner Meinung nach, der Schweizer Volkswirtschaft zufüge und fordert meine exemplarische Bestrafung.

Dann stellt er einen weiteren, für Prozesse dieser Art sehr ungewöhnlichen Antrag: Er verlangt, mich vom »Beweisantritt auszuschließen«. Der vorgeschobene Grund: Meine Angriffe gegen den Finanzier seien »allgemein und undifferenziert«. Wird diesem Antrag stattgegeben, könnte ich die in meinem Besitz befindlichen beweiskräftigen Dokumente, auf die sich die Analysen in meinem Buch stützen, dem Gericht nicht vorlegen. Auf diese Weise würde verhindert, daß die Strategien zur Ausbeutung der Völker der Dritten Welt, die so manche Schweizer Banken schon seit Generationen so meisterlich beherrschen, öffentlich diskutiert werden.

Nessim Gaons Anwalt ergreift das Wort; nach ihm mein Verteidiger David Lachat. Hinter den hohen Fensterscheiben des Gerichtssaals färbt sich die Sonne golden, dann rot, schließlich versinkt sie am Horizont.

Das Urteil wird gesprochen. Das Gericht gibt allen Anträgen des Staatsanwalts statt.

Der Rechtsstreit, den ich im Juni 1992 verloren habe, ist der letzte in einer langen Serie. Seit dem Erscheinen meines Buches Die Schweiz wäscht weißer im Februar 1990 haben mich nicht weniger als sieben Bankiers, Finanziers, Spekulanten und Wirtschaftsanwälte in fünf Ländern auf Schadensersatz – Gesamtsumme über 24 Millionen FF – verklagt. Während ich diese Zeilen niederschreibe, sind einige dieser Prozesse im Gange. Andere habe ich bereits verloren. Im Juni 1991 wurde meine parlamentarische Immunität aufgehoben.

Estoy parado (ich bin gefangen), sagt – schicksalsergeben – der garimpeiro, der Goldsucher und Kautschuksammler, an den Ufern des Rio Madre de Dios im bolivianischen Tiefland, wenn der Wasserspiegel des schlammigen Flusses in den ersten Tagen der Regenzeit plötzlich um über zwanzig Meter ansteigt.

Im Zentralgebiet der Anden dauern die sintflutartigen Regenfälle von Dezember bis März. Viele hundert Kilometer weiter östlich, im bolivianischen (brasilianischen, peruanischen, kolumbianischen, ecuadorianischen) Amazonasgebiet, flüchten sich die Garimpeiros jetzt mit ihren Frauen, ihren Kindern, ihren Ziegen und Schweinen auf die wenigen Hügel, die von den Fluten umschlossen werden.

Die Wasserfluten stürzen über zehn Meter hohe Palmen um, legen die Wurzeln hundertjähriger Mammutbäume frei, verwüsten Plantagen und reißen von den Ufern Millionen Kubikmeter brauner Erde mit sich.

Die Männer binden die Tiere an den Stämmen der mächtig-sten Bäume fest. In der Nähe ihrer Hütte vergraben sie ihre Vorräte: gebündelte Maiskolben und Yamswurzeln, Fässer mit getrocknetem Fleisch und gepökeltem Fleisch, Bohnen und Maniok. Dann löschen sie sorgfältig das Herdfeuer in ihrer Küche.

Der Himmel ist schwarz – in der Nacht wie am Tage. Manchmal züngelt ein Blitz aus den Wolken und entzündet das aus Schilfrohr und verdorrten Blättern gefertigte Dach einer Hütte.

An manchen Morgen rüttelt ein heftiger, orkanartiger Sturm am Zentralmast der nach Indianerart erbauten Hütten, wo sich die Familien zusammendrängen.

Bei jedem Abflauen des Sturmes gehen die Männer zum Ufer hinunter, um abzuschätzen, wie weit das Wasser gestiegen ist, und mit den Augen suchen sie den Himmel und die reißenden Fluten ab, die, gleich einem tobenden Meer, nunmehr Zehntausende Quadratkilometer des umliegenden Landes unter sich begraben haben.

Dauert das Hochwasser mehrere Wochen, werden mitunter ganze Hügel fortgerissen – und mit ihnen die darauf lebenden Garimpeiros, ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Hütten und ihre Tiere.

Als Schriftsteller, Abgeordneter und Professor bemühe ich mich seit Jahrzehnten, die Methoden der Mächtigen dieser Welt zur Ausbeutung der Ressourcen und der Arbeit der ärmsten Menschen dieser Erde anzuprangern und sie, wenn möglich, außer Kraft zu setzen.

Heute bin ich in gewisser Weise genauso »gefangen« – wie der obenerwähnte Garimpeiro. Die Mächtigen meines Landes haben beschlossen, mich zum Schweigen zu bringen – endgültig.

Wird mein angenehmes Dasein als biederer Schweizer Bürger und Hochschullehrer in der schwarzen Flut der Prozesse versinken? Ich weiß es nicht.

Wenn ich als Schriftsteller nicht mehr das schreiben kann, was ich für die Wahrheit halte, wenn ich nicht mehr das Recht habe, vor dem Parlament das Unrecht, von dem ich Kenntnis habe, anzuprangern, wenn ich als Professor meinen Studenten nicht mehr meine eigenen Überzeugungen, die Quintessenz meiner Erkenntnisse, Erfahrungen und Analysen, vortragen kann, welchen Zweck hat dann mein Kampf noch? Oder genauer gesagt: Unter welchen Umständen und auf welche Weise kann ich ihn fortführen?

Die persönliche Niederlage, die ich heute erlebe, trifft mit einer kollektiven Niederlage zusammen, die viel weiter reichende und schwerer wiegende Folgen hat.

Eine Weltordnung, die den rasch wachsenden Reichtum einiger weniger und die fortwährende Verelendung der großen Mehrheit als natürlich, universell und notwendig darstellt, in der die Gewährleistung der Grundrechte mit der Ausbeutung der europäischen Arbeiter und dem Blut der gesichtslosen Masse der Bewohner Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bezahlt wird, ist eine inakzeptable Ordnung.

Mit meiner Arbeit als Soziologe wollte ich, wie viele meiner Kollegen, in den westlichen Staaten ein Bewußtsein des Widerstands erzeugen und den Völkern der Dritten Welt Analysen und Begriffe bereitstellen, die ihnen in ihrem Kampf von Nutzen sein könnten.

Mit welchem Erfolg? Keinem oder doch so gut wie keinem.

Heute leben auf unserem Planeten 5,3 Milliarden Menschen; davon 3,8 Milliarden in einem der 122 Länder der sogenannten Dritten Welt. Die Mehrheit von ihnen fristet ein menschenunwürdiges Dasein. In Somalia, in Mosambik, im Tschad, im Hochland der Anden, in den Elendsvierteln asiatischer Städte sterben täglich Zehntausende von Kindern – unter den abgestumpften, gleichgültigen Blicken ihrer Mitmenschen. Chronische Krankheiten, Arbeitslosigkeit und Verzweiflung zerstören die Familien.

Auf der Erde werden jede Minute 153 Menschen geboren – davon 117 in einem Land der Dritten Welt. Die meisten der letzteren sind von Geburt an Gekreuzigte.

Von Vietnam bis Angola, von den Philippinen bis Nicaragua und Kambodscha sind die bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen, die einst Hoffnung und Gerechtigkeit verkörperten, im Blut ertränkt worden oder zu erbärmlichen Repressionsmaschinerien verkümmert.

Viele postkoloniale Staaten (Zaïre, Sudan, Liberia, Malawi, Sierra Leone usw.) wiederum implodieren und verwandeln sich unter unseren Augen in Schlachtfelder, auf denen sich Stämme und Clans bekämpfen.

Die wirtschaftliche, technologische, wissenschaftliche und politische Weltgeschichte ereignet sich künftig fast ausschließlich innerhalb eines Dreiecks, dessen Eckpfeiler Stockholm, New York und Tokio bilden. Die Dritte Welt mit ihren Milliarden Menschen gleicht einem riesigen Floß voller Schiffbrüchiger, die ihrem Schicksal überlassen werden.

Von Jugend auf, von dem Tag an, da ich versuchte, meinen Standort in der Welt zu bestimmen, bin ich für Werte eingetreten, die meiner Ansicht nach keiner weiteren Begründung bedurften: soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung des einzelnen und der Völker, Schutz der Natur und des Lebens, freie Entfaltung der Persönlichkeit und Glück für alle.

Schon sehr bald bemühte ich mich, meinen Protest in den Dienst einer umfassenderen Bewegung zu stellen. Ich habe nie geglaubt, daß der bolschewistische Totalitarismus, wie er in den Staaten des Ostblocks und von einigen kommunistischen Parteien im Westen praktiziert wurde, die Werte verwirklichen könnte, von denen ich träumte. Nie habe ich mir Illusionen gemacht über die furchtbare Verirrung, die Phraseologie und die Verlogenheit dieses »Kasernenkommunismus«. Daher hat mich auch sein Zusammenbruch als solcher nicht überrascht.

Ich glaubte an die gemeinsame Aktion freiwillig zusammengeschlossener Frauen und Männer und an ihre Fähigkeit – im Kampf der Meinungen,...

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