2 Aufmerksamkeit
Um lernen zu können, ist es notwendig, dass Kinder Aufmerksamkeit aufbringen und sich konzentrieren können. So sollten sie in der Lage sein, die jeweils relevante Information zu beachten und sich möglichst wenig von irrelevanten Informationen ablenken zu lassen. Im Rahmen der anfangs vorgestellten Auffassung von Lernen als Informationsverarbeitungsprozess kommt der Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle bei der Informationsaufnahme zu ( Kap. 1). So wird davon ausgegangen, dass ein Lernprozess erst dann beginnt, wenn wir eintreffenden Informationen unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Aber was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Aufmerksamkeit? Im Folgenden werden wir verschiedene Komponenten der Aufmerksamkeit besprechen, beginnend mit der Unterscheidung zwischen Aufmerksamkeit und Konzentration.
2.1 Aufmerksamkeit vs. Konzentration
Die Begriffe Aufmerksamkeit und Konzentration werden umgangssprachlich häufig für die Beschreibung ähnlicher Fähigkeiten verwendet. In englischsprachigen Forschungsarbeiten werden beide Fähigkeiten meist einheitlich als »attention« bezeichnet. Schmidt-Atzert, Büttner und Bühner (2004) haben die Unterschiede zwischen Aufmerksamkeit und Konzentration herausgearbeitet. Sie definieren Aufmerksamkeit als »das selektive Beachten relevanter Reize oder Informationen« und somit als wahrnehmungsnahes Phänomen (Schmidt-Atzert et al., 2004, S. 5). Der Aspekt des selektiven Beachtens wurde bereits von Donald Broadbent (1958) in seiner Filtertheorie der Aufmerksamkeit hervorgehoben. Der Aufmerksamkeit bzw. Aufmerksamkeitszuwendung wird dabei die Funktion eines Filters zugeschrieben. Sie wirkt wie ein früh im Prozess der Informationsverarbeitung angesiedelter Engpass oder Flaschenhals, der dafür verantwortlich ist, dass wir nur einige wenige Informationen aufnehmen und weiterverarbeiten. Vergleichbar mit dem Lichtkegel einer Taschenlampe, können wir unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte für uns relevante Reize richten. Die Relevanz der Reize wird nach der Zwei-Prozess-Theorie der selektiven Aufmerksamkeit von Neisser (1967) zunächst in einem (1) sog. Diskriminationsprozess beurteilt und daraufhin wird (2) die vorhandene (und begrenzte) Aufmerksamkeitskapazität durch einen Zuweisungsprozess auf die als relevant erachteten Informationsmerkmale ausgerichtet (Fokussierung).
Unter Konzentration versteht man hingegen die »Fähigkeit, unter Bedingungen schnell und genau zu arbeiten, die das Erbringen einer kognitiven Leistung normalerweise erschweren« (Schmidt-Atzert et al., 2004, S. 9). Hier wird der Aspekt der Abschirmung konkurrierender, nicht als relevant erachteter Reize hervorgehoben. Wenn wir uns konzentrieren, versuchen wir also, irrelevante Reize (alles, was nicht im Lichtkegel unserer Taschenlampe erscheint) unbeachtet zu lassen. Sowohl die Selektion relevanter Informationen als auch die Abschirmung irrelevanter Informationen sind schon bei einfachen Lernanforderungen entscheidend für unsere Leistung (siehe Fokus: Das Cocktailparty-Phänomen).
Fokus: Das Cocktailparty-Phänomen
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Party. Es ist relativ laut, und im Raum haben sich mehrere kleine Grüppchen gebildet, die sich lautstark unterhalten. Auch Sie sind in ein solches Gespräch vertieft. Plötzlich hören Sie, dass in einer der anderen Gesprächsgruppen Ihr Name fällt, und schon wandert Ihre Aufmerksamkeit zu dem Gespräch der anderen Gruppe, das sie vorher gar nicht wahrgenommen haben. Diese Veränderung in der Ausrichtung bzw. der Fokussierung der Aufmerksamkeit ist als Cocktailparty-Phänomen bekannt geworden (Cherry, 1953). Wood und Cowan (1995) haben es in einem Experiment etwas genauer untersucht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekamen einen Kopfhörer aufgesetzt, der das sog. dichotische Hören ermöglicht: Sie hörten auf jedem Ohr eine andere Stimme. Beide Stimmen lasen einsilbige Wörter vor. Die Aufgabe der Versuchsteilnehmer/innen bestand nun darin, nur auf das rechte Ohr zu achten und so genau wie möglich die über das rechte Ohr gehörten Wörter nachzusprechen (man nennt das »beschatten«). Irgendwann nannte die Stimme auf dem eigentlich nicht zu beachtenden linken Ohr den Namen des Versuchsteilnehmers. Etwa ein Drittel der Teilnehmer hörte dies – andere Namen als der eigene wurden hingegen nicht wahrgenommen. Die Leistung in der Beschattungsaufgabe war währenddessen kurzeitig beeinträchtigt.
Die Befunde zum Cocktailparty-Phänomen zeigen, dass sich Personen darin unterscheiden, ob und wie leicht sie sich von aufgabenirrelevanten Informationen ablenken lassen. So ließ sich etwa ein Drittel der von Wood und Cowan (1995) untersuchten Personen durch das Hören des eigenen Namens von der durchzuführenden Aufgabe ablenken. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass individuelle Differenzen bei der Selektion relevanter Informationen und/oder der Abschirmung irrelevanter Informationen dafür verantwortlich sind, die möglicherweise auch beim gezielten Lernen eine entscheidende Rolle spielen.
Neben der Unterscheidung von Aufmerksamkeit und Konzentration wurden weitere Unterteilungen der Aufmerksamkeit vorgeschlagen. Beispielsweise wird zwischen einer willentlichen und einer unwillentlichen Beachtung von Reizen oder Informationen unterschieden (vgl. Pashler, Johnston & Ruthruff, 2001 für einen Überblick). Laute Geräusche oder starke Schmerzen beachten wir z. B. unwillentlich und unter Umständen sogar, während wir schlafen. Andere Reize lernen wir als relevant zu betrachten und willentlich zu beachten, z. B. Hinweisreize wie Schilder, die Gefahr signalisieren. Einerseits können wir also manche Reize gar nicht abschirmen, andererseits unterscheiden wir uns aufgrund unserer Lernerfahrung darin, welche Reize wir als relevant betrachten und welche nicht.
2.2 Aktivierung, Orientierung und exekutive Kontrolle der Aufmerksamkeit
Eine weitere einflussreiche Unterteilung der Aufmerksamkeit, die auf neurowissenschaftlichen Befunden beruht, wurde von Michael Posner und Steven Peterson vorgeschlagen (Posner & Petersen, 1990; Petersen & Posner, 2012). Die Unterteilung sieht sog. Aufmerksamkeitsnetzwerke für die Aktivierung, die Orientierung und die exekutive Kontrolle der Aufmerksamkeit vor. Um diese Aufmerksamkeitsnetzwerke bei Kindern erfassen zu können, haben Posner und Kollegen ein computerisiertes Testverfahren entwickelt (Attention Network Test, siehe Rueda et al., 2004). Es lohnt, sich dieses Testverfahren ein wenig genauer anzuschauen, da es gut zur Illustration der typischen Vorgehensweise experimenteller pädagogisch-psychologischer Forschung geeignet ist. Aufgrund der Komplexität des Verfahrens ist für das verstehende Lesen der nächsten Seite dabei vor allem eins erforderlich – Ihre Aufmerksamkeit.
Zur Erfassung des Aufmerksamkeitsnetzwerkes wird eine sog. Flanker-Aufgabe verwendet, in der einem Kind am Computerbildschirm beispielsweise eine Reihe aus fünf Fischen gezeigt wird. Es soll entschieden werden, ob der mittlere Fisch (sog. Zielreiz) nach links oder rechts schwimmt. Die den zu beachtenden Fisch umgebenden Fische (sog. Flankerreize) können entweder die identische (sog. kongruente Durchgänge) oder die entgegen gesetzte Schwimmrichtung haben (sog. inkongruente Durchgänge; Abb. 2.1).
Um der Aufgabe einen spielerischen Charakter zu verleihen, wird das Kind gebeten, den mittleren Fisch zu füttern, indem es die Taste drückt, die mit der Schwimmrichtung übereinstimmt (linke Taste für Fische, die nach links schauen und umgekehrt). Jeder Durchgang (insgesamt je nach Alter zwischen 100 und 300 Durchgänge) beginnt mit einem sog. Fixationskreuz, das in der Mitte des Computerbildschirms erscheint. In drei Vierteln aller Durchgänge wird dann ein Hinweisreiz eingeblendet, in den restlichen Durchgängen erscheint kein Hinweisreiz. Diese Hinweisreize informieren entweder darüber, dass in Kürze die Fische gezeigt werden und ob die Fische ober- oder unterhalb des Fixationskreuzes erscheinen werden (räumlicher Hinweisreiz) oder nur darüber, dass in Kürze die Fische gezeigt werden (zentraler oder doppelter Hinweisreiz; Abb. 2.1). Daraufhin erscheinen die Fische auf dem Bildschirm entweder ober- oder unterhalb des Fixationskreuzes
Abb. 2.1: Schematische Darstellung des Attention Network Tests nach Rueda und Kollegen (2004)
und die Kinder sollen so schnell und korrekt wie möglich per Tastendruck antworten. Um die Motivation des Kindes hoch zu halten, sprudeln nach einer korrekten Antwort für kurze Zeit Luftbläschen aus dem Mund des mittleren Fisches und eine Kinderstimme sagt »Hurra«. Im Falle einer falschen Antwort folgt ein kurzer Ton, und der Fisch wird nicht animiert. Basierend auf den Reaktionszeiten (Zeit von der...