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Wie laut soll ich denn noch schreien?

Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch

AutorAndreas Huckele, Jürgen Dehmers
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644013919
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule hat die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten. Dass ausgerechnet in einer pädagogischen Modellschule sexuelle Übergriffe stattgefunden haben, schockierte die Menschen ? und viele wollten die schreckliche Wahrheit zuerst nicht glauben, weil die Ereignisse ihre Vorstellungskraft überstiegen. Dazu sagt Jürgen Dehmers: «Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu!» Mittlerweile ist bekannt, dass über hundert Schüler Opfer des Missbrauchs wurden und mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher zu den Tätern gehören. Mit Jürgen Dehmers berichtet der Initiator der Aufklärung persönlich von den Vorfällen. Dehmers gelang es bereits als jungem Mann, trotz massiver Traumatisierungen und ideologischer Gehirnwäsche ein Leben nach der Odenwaldschule zu finden und Distanz zwischen sich und den schrecklichen Erlebnissen zu schaffen. Das Buch demaskiert die Täter und ihre Helfer, die schutzbefohlenen Kindern unheilbare Verletzungen zugefügt haben. Darüber hinaus gelingt es dem Autor, das «System Odenwaldschule» zu beleuchten und dem Leser die Hintergrundinformationen zu liefern, wie es dazu kommen konnte, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern zum Alltag einer hochgelobten Reformschule gehörte, in der die Schule alles war und das einzelne Kind nichts. Ein Aufklärungskrimi, der spannend bleibt bis zum Schluss, obwohl die Täter ab der ersten Seite bekannt sind.

Jürgen Dehmers ist das Alter Ego eines Autors, der als Schüler in den 80er Jahren die Odenwaldschule besuchte, dort eines der Opfer des Schulleiters Gerold Becker wurde und seit über einem Jahrzehnt Täter, Mitwisser, Schweiger und Vertuscher mit ihren Verbrechen konfrontiert. Jürgen Dehmers nutzt die Medien zur Anklage der Verantwortlichen, da durch das deutsche Rechtssystem wegen unzureichender Verjährungsfristen keine juristische Gerechtigkeit mehr geschaffen werden kann. Im Jahr 2010 gelang ihm die weitreichende Vernetzung der Betroffenen, und er wurde endlich von einer breiten Öffentlichkeit gehört.

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Leseprobe

Prolog


Das Telefon klingelte, ich meldete mich wie gewohnt.

«Jürgen Dehmers.»

Es war relativ spät, normalerweise rief kaum jemand am fortgeschrittenen Abend bei mir an. Ich stand im Wohnzimmer und ging eher reflexartig ans Telefon, als dass ich wirklich mit jemandem hätte reden wollen. Es war der Übergang vom Frühling zum Sommer, die Saison hatte begonnen, und ich war müde vom Training. Das war 1998, ich war zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt.

«Hallo, hier ist Thorsten, Gerold ist wieder an der OSO. Wir müssen was machen.»

Thorsten ist mein Freund, mein Bruder. Wir haben gelacht, gestritten, gefeiert, uns nach der Schulzeit aus den Augen verloren, wiedergefunden, und nun sind aus den zwölfjährigen Jungs, die sich damals, als sie sich das erste Mal im Sommer 1981 an der Odenwaldschule begegneten, gegenseitig für Mädchen hielten, weil sie beide süß waren und lange Haare hatten, Männer geworden. Thorsten war einen Monat jünger als ich, also fast ein Zwillingsbruder. Gerold Becker war von 1972 bis 1985 Schulleiter der Odenwaldschule. Bereits seit 1969 war er dort Lehrer.

Über die sexualisierte Gewalt, die uns von Gerold Ummo Becker angetan wurde, hatten wir nie gesprochen. Es gab keine Andeutungen, keine zotigen Witze, keine Hinweise zwischen uns beiden. Es gab nichts. 16 Jahre lang. Thorsten brauchte keine Erklärungen. Es war alles klar. Glasklar. Wir brauchten nicht viele Worte. Ich erwiderte:

«Ja. Wir müssen was machen. Das ist klar.»

Mein gesamter Körper war in Alarmbereitschaft. Mein Puls schlug höher, ich begann zu schwitzen, Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich hatte sofort wieder ein Gespür für die Gefahr, die von Becker ausging. Ich hatte sofort wieder Bilder in meinem Kopf von meinen Erlebnissen mit ihm. Ich war wach. Hellwach. Doch statt der Starre und der Angst, die ich als Kind empfand, wenn Becker mir zu nahe trat, war ich nun bereit zu handeln, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was diese Entscheidung für Konsequenzen haben würde.

 

Was wir damals nicht wussten, was Becker nicht wusste, was niemand wusste: An diesem Abend haben wir damit begonnen, die Geschichte der Odenwaldschule neu zu schreiben. Unsere Geschichte mit der Odenwaldschule neu zu schreiben. Unsere Lebensgeschichte neu zu schreiben. Inzwischen haben unzählige Menschen ihre Biographien neu schreiben müssen.

Becker, der pädokriminelle Schulleiter, der über fast zwei Jahrzehnte lang Schüler der Odenwaldschule systematisch und in inflationärem Ausmaß sexuell misshandelt hatte und der nach seinem Abschied aus der Odenwaldschule seine Karriere als einer der bedeutendsten Pädagogen der Bundesrepublik fortsetzte, hatte nicht mit uns gerechnet. Man sieht sich immer zweimal. Aber Becker war kein einsam handelnder Pädokrimineller. Und wir nicht die «beiden bedauerlichen Einzelfälle», zu denen uns die Verantwortlichen der Schule immer machen wollten.

Im Abspann von Christoph Röhls Film «Und wir sind nicht die Einzigen», der im Frühjahr 2011 fertiggestellt wurde, ist über die Odenwaldschule zu lesen:

«Zwischen Mitte der 60er Jahre und Ende der 90er Jahre gab es dort 18 Täter. Bis zum Januar 2011 haben 132 Schüler der Odenwaldschule gemeldet, dass sie sexuell missbraucht wurden.»

Das hätte damals unsere Vorstellungskraft überstiegen. Rechne ich diese Zahlen heute hoch – die Dunkelziffer ist bei sexuellem Missbrauch enorm  –, komme ich auf eine vierstellige Anzahl schwer beschädigter Biographien. «Der Dehmers spinnt», höre ich die Unkenrufe. So wie seit zig Jahren immer wieder. Wie gern würde ich einmal danebenliegen.

 

Zum Zeitpunkt von Thorstens Anruf hatten wir mit dem Puzzle «Odenwaldschule und sexueller Missbrauch» erst begonnen. Von manchen wurden bis dahin die Puzzleteilchen nicht als solche erkannt, weil sie die Erlebnisse verdrängt hatten oder nicht zuordnen konnten. Von denen, die sie erkannten, versteckten sie viele, weil sie sich schämten oder die Erinnerung so schmerzhaft war oder sie nicht wussten, wohin damit. Einige erkannten sie und wussten auch, wohin damit. Die wurden vom Schulgelände gejagt oder in Gesprächen von den Verantwortlichen belogen, beschwichtigt und bedroht. Rechtsanwälte rieten ihnen ab, die Täter anzuzeigen, Therapeuten wiesen auf die Risiken der Retraumatisierung hin, die gerichtliche Auseinandersetzungen zwangsläufig mit sich bringen würden. Und so schlummerten die Puzzleteilchen verstreut in den Erinnerungen der einzelnen Beteiligten vor sich hin und stifteten im schlimmsten Falle als eingekapselte Traumata ihr Unheil. Ich bin weit davon entfernt, alle Puzzleteilchen zu sehen, aber das Bild ist klar erkennbar. Das Bild des Horrors. Schaue ich genau hin, höre ich Kinderstimmen schreien und tote Seelen wandeln, die keine Ruhe finden können.

 

Drei Jahre zuvor, im Sommer 1995, war ich bei einem Ironman-Triathlon über die Distanzen 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen am Start. Es wurde einer der schwierigsten Wettkämpfe für mich. Beim abschließenden Marathon bekam ich einen Krampf im Oberschenkel. Durch einen Ernährungsfehler hatte ich sehr viel Flüssigkeit verloren und war bei 32 Grad im Schatten ziemlich dehydriert. Ich wusste, dass sich ein Krampf irgendwann auch wieder auflöst. Ich wusste nur nicht, wann. Ich war entschieden, dieses Rennen zu finishen, und hoffte, dass der Krampf und damit die höllischen Schmerzen im Bein endlich verschwinden würden und ich ohne Gehumpel den Marathon fortsetzen könnte. Ich spürte jeden Schritt. Ich zählte jeden Kilometer. Nach 22 langen Kilometern war es so weit, mein Bein entspannte sich – und ich lief die letzten Schritte mit einem entspannten Gesicht ins Ziel.

 

Seit diesem Wettkampf hatten meine mentale Klarheit und meine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und aufrechtzuerhalten, zugenommen. Ich war entschieden, meine Wahrheit über mein Leben auf der Odenwaldschule laut und unmissverständlich zu sagen.

Ich erinnerte mich an meinen Zieleinlauf bei diesem Wettkampf und das Gefühl der Stärke, das sich im Anschluss an dieses Rennen in mir ausbreitete. Ich hatte die Gewissheit, dass ich wusste, was ich tat – und dass ich es tun würde.

Heute wissen alle: An der Odenwaldschule gab es viel mehr Täter, es gab viel mehr Opfer, es gab ein System von Menschen, die diesen ganzen Wahnsinn erst möglich gemacht haben. Die beste Schule Deutschlands war eine Hölle für Kinder, dazu verkommen, um die perversen Bedürfnisse von Erwachsenen zu befriedigen. Ideologisch. Sexuell. Gehirnwäsche plus Folter. Two in one. Vom Bundespräsidenten Johannes Rau im Jahr 2005 als «Besonderer Ort» gewürdigt. Die Urkunde hing im Jahr 2010 noch groß im Bürohaus der Schule.

 

Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich in meinem Zimmer überall auf dem Boden Zeitungsausschnitte aus den letzten Wochen und Monaten liegen. Ich kann nicht mehr alles lesen, was geschrieben wird. Die Menge ist zu groß. Nach dem öffentlichen Hearing im Juli 2010 an der Odenwaldschule, der «Wahrheitskommission» nach dem Vorbild der Veranstaltungen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, bei denen Opfer und Täter das Wort erheben konnten, gab ich am nächsten Tag «Odenwaldschule» und «News» in eine Internet-Suchmaschine ein und erhielt 330 Zeitungsartikel allein zu dieser Veranstaltung. Weitere folgten in den kommenden Tagen. Vieles finde ich gut und denke an die Worte von Thorsten im Januar 2010: «Wir kriegen die Wichser!»

Ich lache. Das ist nicht neu. Ich lebe gern, ich lache öfter. Ich lache bei dem Thema Odenwaldschule. Das ist neu. Ohne meinen Humor und meine Lebensfreude wäre ich tot. So viel ist sicher.

Hunderte Male sah ich meine Worte dieses Abends zitiert. «Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu», habe ich noch meine eigene Stimme im Ohr. «Wie laut hätten wir denn noch schreien sollen?», platzte es an diesem Abend aus mir heraus und übertönte den Redner mit dem Mikrofon in der Hand, der in aller Seelenruhe über die Chronologie von 1999 sprach. Viele der über zweihundert Zuhörer zuckten zusammen, als meine zornigen Worte ihre Ohren erreichten, wie ich später von ihnen hörte. Einer meiner Freunde sagte mir Tage danach, dass er die Halle verlassen musste, als er mich schreien hörte. Er hatte es nicht ausgehalten. Diese Geschichte ist auch nicht zum Aushalten.

 

Manchmal fällt mir etwas auf, meistens dann, wenn ich leicht gelangweilt irgendeiner Alltagsbeschäftigung nachgehe, so wie in dem Moment, in dem ich die Entscheidung traf, diesen Text zu schreiben. Ich saß im Garten und versuchte, meine Kaffeetasse so auf dem Campingtisch abzustellen, dass der Kaffee nicht überschwappte. Ich hatte die Tasse viel zu voll gemacht, so wie immer, es war fast zehn Uhr, die Sonne würde gleich über das Dach klettern, so wie an jedem Sommertag.

Wozu noch ein Buch über die Odenwaldschule? Es haben alle berichtet. Alle? Alle! Ich denke an die Frage Cäsars an seinen Gesandten nach der Besetzung ganz Galliens, wie in Asterix eindeutig belegt. Ja. Alle. Focus, Stern, Frankfurter Rundschau, taz, Spiegel, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche, überall war die skandalöse und für viele Menschen immer noch unvorstellbare Geschichte der Odenwaldschule auf den Titelblättern. Tagesschau, Tagesthemen und Heute Journal brachten die Neuigkeiten aus Ober-Hambach als Topmeldungen. Spiegel-TV und Mona Lisa...

Blick ins Buch

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