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Wie wir heute sterben

Über die Biologie des Todes und wie sich das Ende unseres Lebens verändert hat

AutorHaider Warraich
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783961210985
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Wir alle müssen sterben. Trotzdem ist der Tod eines der größten Tabus unserer Zeit. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist und Kardiologe Dr. Haider Warraich begegnet dem Tod jeden Tag und zeigt, was es unter den Gesichtspunkten der modernen Medizin bedeutet, zu sterben, wie sich unser Sterben verändert hat und wie wir uns den Sterbeprozess vorstellen. Hochspannend führt er anhand berührender Patientengeschichten und persönlicher Erfahrungen an das Thema heran, gewährt tiefe Einblicke in die Biologie des Todes, die Möglichkeiten der Palliativmedizin und beschreibt ungeschönt die gewichtigen Auswirkungen von Politik, Kultur und Glauben auf den Prozess und die Bewältigung des Sterbens. Ein befreiendes und ehrliches Statement über den Tod in der heutigen Zeit, das die Angst vorm Sterben nimmt, Trost spendet und Hoffnung gibt.

Haider Warraich ist Arzt am Duke University Medical Center in North Carolina. Er schreibt regelmäßig Kommentare in der New York Times sowie für den Guardian, das Wall Street Journal und die Los Angeles Times. Auch publiziert er in namhaften medizinischen Fachzeitschriften, darunter das New England Journal of Medicine und das Journal of the American Medical Association. Er war unter anderem auf CNN, Fox, CBS und der BBC World Service zu Gast. Haider Warraich is a fellow in cardiovascular medicine at Duke University Medical Center and the author of the book, Modern Death - How Medicine Changed the End of Life (St Martin's/Macmillan). He is a regular Op Ed contributor for the New York Times, as well as the Atlantic, Guardian, Wall Street Journal and LA Times amongst others. He has also contributed to academic publications including the New England Journal of Medicine, Journal of the American Medical Association, JAMA Cardiology, Lancet and Circulation. He has appeared on CNN, Fox, CBS, PBS, and on NPR shows like Fresh Air with Terry Gross, The Diane Rehm Show, The World, Marketplace and the BBC World Service.

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Leseprobe

Wie das Leben (und der Tod) verlängert wurden


Bevor John Graunt, geboren 1620, als Erster systematisch alles studierte, was die Menschen im London des 17. Jahrhunderts umbrachte, lebte er unter anderem als Herrenausstatter, Soldat und Gemeinderat.1 Das London, in dem er aufwuchs, unterschied sich kaum von der heutigen Stadt: überfüllt, mit Fahrzeugen vollgestopft und von Einwanderern überflutet. Die Wirtschaft brauchte demografische Daten über die Lebenden ebenso wie über die Sterbenden. Als der Herr Moses befahl, die erwachsenen Israeliten zu zählen (4. Buch Mose), ging es darum, Spender für die Bundeslade zu werben, die tragbare Wohnstätte Gottes, welche die Juden während des Exodus mit sich herumtrugen. Zudem sollten die Waffen gezählt werden, die für den Fall eines Krieges verfügbar waren. Auch als Thomas Cromwell, der Generalvikar Heinrichs VIII., Kirchenbücher einführte, wollte er Händler darüber informieren, ob potenzielle Kunden in einem bestimmten Gebiet zahlreicher wurden oder an der Pest starben.

Erst 1661, mehr als 120 Jahre nach der Einführung der Kirchenbücher, untersuchte John Graunt sie systematisch und veröffentlichte seine Befunde.2 In seinen Beobachtungen zur Statistik der Todesursachen sammelte er Daten aus Kirchenbüchern, die mehrere Jahrzehnte erfassten. Graunt war bestenfalls ein »praktischer Intuitionist« mit fehlenden oder geringen mathematischen Kenntnissen; dennoch stellte er die ersten modernen Querschnittsdaten über den Tod zusammen. Als erster und einziger »zufälliger« Statistiker wurde er in die Royal Society aufgenommen und gilt heute als Vater und Kolumbus der Statistik.3 Graunts Beschreibung des Todes im London des 17. Jahrhunderts ist sowohl lebhaft als auch rätselhaft, verfasst in einer Zeit, als die wissenschaftliche Methode eben volljährig wurde. Die Ursachen des Todes, über die Cromwell berichtet, sind teils erschreckend und makaber, teils geheimnisvoll amüsant. Menschen wurden von Wölfen und Würmern gefressen und von Furcht und Kummer verzehrt. Manche fand man »tot auf den Straßen«, andere starben durch »Verhungern«, »Schusswunden« oder »Ohnmacht im Bad«. Viele im Bericht erwähnten Krankheiten sind heute nur noch eine historische Kuriosität. »Königsleiden« war der bevorzugte Name für die Tuberkulose der Lymphknoten im Hals, deren Symptom oft ein käsiges Sekret aus dem Hals war. Angeblich konnte der englische König diese Krankheit heilen. Man erzählte, Heinrich VIII. berühre jedes Jahr bis zu 4000 Menschen mit Tuberkulose. Zum Headmouldshot kam es, wenn die Schädelknochen sich bei Kleinkindern übereinanderschoben; häufige Folgen waren Krämpfe und Tod. Vieles, was als Todesursache aufgezählt wurde, zum Beispiel impostume (Abszess), livergrown (vergrößerte Leber), dropsy (Wassersucht) und thrush (Soor) waren lediglich Symptome einer möglicherweise nicht diagnostizierten anderen Krankheit.

Manche Krankheiten hatten andere Namen als heute. Tuberkulose hieß Auszehrung, Epilepsie war Fallsucht, Geschlechtskrankheiten nannte man Franzosenkrankheit, Psychosen hießen Mondsucht, ein Schlaganfall mit Lähmung war ein Gehirnschlag und Keuchhusten hieß raising of the lights (Aufgehen der Lichter).4 Und einige Haupttodesursachen, etwa »Zahnen« oder »Magenanhalten« ... nun, wer weiß, woran diese armen Menschen litten. Zum Glück sind viele Krankheiten, zum Beispiel Windpocken und die Pest, inzwischen ausgerottet und andere, etwa Skorbut, Rachitis und Marasmus, hat die bessere Ernährung in den Industrieländern beseitigt.

Graunt wies nach, dass Frauen länger lebten als Männer und dass das Sterberisiko während der Kindheit am höchsten war. Interessant war seine Beobachtung, dass die Sterbewahrscheinlichkeit sich bei Erwachsenen abflachte und das Sterberisiko eines Zwanzigjährigen gleich hoch war wie das eines Fünfzigjährigen. Das Sterberisiko stieg also bei Erwachsenen mit zunehmendem Alter nicht weiter, was darauf schließen lässt, dass die Menschen nicht an Alterskrankheiten starben.

Zur selben Zeit ging es den europäischen Einwanderern in Nordamerika nicht besser.5 Die Neuankömmlinge starben wie die Fliegen an einer Krankheit namens seasoning. Bis zu ein Drittel der Immigranten wurde in der Neuen Welt früh krank, während sie sich an die neue Umwelt anpassten. Die Krankheit dauerte bis zu einem Jahr und viele Einwanderer spürten ihre Nachwirkungen noch lange. Heute nimmt man an, dass es sich um Malaria handelte, die viele Symptome haben kann. Außerdem litten die Europäer an zahlreichen anderen Krankheiten, beispielsweise an blutigem Durchfall, dessen Ursache wahrscheinlich Typhus war, hervorgerufen von Salmonellen. Diese Europäer des 17. Jahrhunderts hatten in Nordamerika eine viel geringere Lebenserwartung als ihre Landsleute in der alten Heimat, und den afrikanischen Sklaven, die sie mitbrachten, erging es nicht besser. Das war der schreckliche Preis für die Freiheit.

Obwohl das 18. Jahrhundert eine Ära des Aufruhrs war, vor allem in Nordamerika, schienen die Medizin und das Wissen über den Tod zum Stillstand zu kommen. Im Jahr 1812, in dem das New England Journal of Medicine (damals hieß es noch New England Journal of Medicine and Surgery) zum ersten Mal erschien, wurde die jährliche Sterblichkeitsstatistik für Boston veröffentlicht.6 Damals entwickelte sich Boston nach einer Phase der Stagnation zum Zentrum der Wissenschaft und des Intellekts. Ralph Waldo Emerson schrieb: »Von 1790 bis 1820 gab es im Staat Massachusetts kein Buch, keine Rede, kein Gespräch, keinen Gedanken.«7 Mit nur etwa 33 250 Einwohnern war Boston damals eine recht kleine Stadt, der bessere Zeiten bevorstanden.

Wenn ich die Todesursachen in Boston im Jahr 1812 studiere, stelle ich fest, dass die meisten meiner Favoriten aus dem frühen 17. Jahrhundert zurückgekehrt sind. Vage Störungen wie Verfall, Schwäche, Zügellosigkeit und Krämpfe töteten eine Menge Menschen. Insgesamt starben 942 Menschen, davon 221 an Schwindsucht und 57 an Ruhr. 49 wurden tot geboren. Andere starben durch Blitzschlag, im »Kindbett«, am Trinken von kaltem Wasser, an Irrsinn, Würmern, Kränkung und der rätselhaften weißen Schwellung. Weniger als drei Prozent starben am »Alter« und nur etwa ein halbes Prozent an Krebs, vermutlich deshalb, weil die meisten nie alt genug wurden, um an Krebs zu erkranken. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Neugeborenen betrug nur 28 Jahre für Jungen und 25 Jahre für Mädchen und selbst diejenigen, die älter als fünf Jahre wurden, hatten nur eine Lebenserwartung von 42 Jahren, die bei über Zwanzigjährigen minimal auf 45 Jahre stieg. Der Tod kam immer noch plötzlich und war vom Aberglauben umrankt.

Wenn wir weitere 100 Jahre in die Zukunft blicken, schien die Aufklärung endlich auch die Medizin zu erfassen, wenn auch langsam. Die vagen Syndrome und Symptome der früheren Berichte waren verschwunden. In der Januar-Ausgabe des New England Journal of Medicine (das nun Boston Medical and Surgical Journal hieß) war 1912 zu lesen, dass die Sterblichkeit in den USA sich in den vergangenen hundert Jahren fast halbiert habe, auf etwa 14 von 1000 Einwohnern.8 Nunmehr starben die Menschen an Krankheiten, nicht an Symptomen, zum Beispiel an Lungenentzündung (nicht an Husten), an Typhus (nicht an blutigem Ausfluss) und an Tuberkulose (nicht an Schwindsucht). Auch moderne Haupttodesursachen wie Krebs und »organische Herzerkrankungen« tauchten allmählich auf der Liste auf, wenn auch in viel geringerer Zahl. In einem Artikel mit der Überschrift »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« wurden die früheren Berichte über Ausschweifung und Zahnen belächelt und der Autor merkte an, die Medizin habe noch vor drei Generationen »in den Kinderschuhen gesteckt«. Dem folgte allerdings eine kühne und verstörende Ankündigung: »Im Jahr 1993, wenn alle vermeidbaren Krankheit ausgelöscht sein werden, wenn die Ursache und die Heilung des Krebses entdeckt sein werden und wenn die Eugenik die Evolution ersetzt und die Lebensuntüchtigen beseitigt haben wird, werden unsere Nachkommen vielleicht mit einem noch stärkeren Gefühl der Überlegenheit auf diese Seiten zurückblicken.«

Wenn ich Berichte darüber lese, wie Menschen im 17. und 18. Jahrhundert starben, empfinde ich eher Demut als Hochmut. Es ist immer leicht, zurückzublicken und die Menschen der Vergangenheit zu kritisieren. Unsere Fähigkeit, die Zukunft und unser heutiges Fehlverhalten einzuschätzen, ist hingegen viel geringer. Der Tod war Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso obskur wie Tausende von Jahren zuvor. Doch das alles änderte sich um diese Zeit mit der Keimtheorie der Krankheiten, der besseren Hygiene und der Entwicklung der Anästhesie und der Impfstoffe. Auch die Lebensverhältnisse und die Ernährung änderten sich drastisch und die Medizin wurde endlich zu einer Wissenschaft, die dabei ist, die menschliche Erfahrung grundlegend zu verändern, und offenbar nicht mehr zurückblickt.

Während Infektionskrankheiten Anfang des 20. Jahrhunderts die schärfste Sichel schwangen, stumpfte ihre Klinge mit den Fortschritten in der Therapie und der Entwicklung von Antibiotika und Impfstoffen ab. Auch größeres Wissen über den Zusammenhang zwischen Hygiene, sanitären Einrichtungen und Krankheitserregern trug dazu bei. Von besseren Therapien bei Infektionskrankheiten profitierten vor allem Kinder, deren Sterblichkeit erheblich zurückging. Diese Fortschritte sind der Hauptgrund dafür, dass die Lebenserwartung im vergangenen Jahrhundert stieg.

Tuberkulose, Durchfall, Masern und...

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