Einführung
Wir leben in kleinen Welten. Die meisten Filme fangen damit an, dass sie uns einen Normalzustand zeigen, genauer gesagt einen status quo ante bellum – die Lage der Dinge vor einem Krieg. Wir sehen ein von Routine und Beschaulichkeit geprägtes Leben, eine kleine Welt, um die es jedoch bald geschehen ist. Im Jargon der Drehbuchautoren heißt diese normale, dem baldigen Untergang geweihte Welt »Erster Akt«. Irgendein Ereignis, das »auslösende Moment«, wird die Handlung beschleunigen und in den »Zweiten Akt« überleiten – in den Krieg um Veränderung und Neuanpassung. Wir ziehen es gewöhnlich vor, im Status quo, in der vorhersehbaren Beschaulichkeit, zu verharren. Ohne triftigen Grund und zwingende Notwendigkeit bewegen wir uns nicht vom Fleck. Wir brauchen einen Anstoß. So etwas kommt vor. Die Dinge ändern sich. Die Filmemacher beenden den ersten Akt gern ziemlich schnell und konzentrieren sich auf das Spektakel der Veränderung und Neuanpassung. Genau darin liegt das Drama, und eben dafür zahlen wir das Geld an der Kinokasse.
Aber im Leben wie in diesem Buch ist die Gewichtung anders. Unser erster Akt, unser normales Leben, dauert in der Regel länger, und das gefällt uns auch so. Als Gewohnheitsmenschen leben wir in Welten, die für uns so überschaubar und vertraut genug sind, um immer wieder auf dieselbe Weise zu agieren und zu reagieren. Solange uns nicht unbehaglich zumute ist und uns inner- oder außerhalb dieser Welt nichts stört, belassen wir alles am liebsten so, wie es ist. Mit diesem Phänomen beschäftigt sich der erste Akt dieses Buchs – Verharren: Wie wir Gewohnheitsmenschen uns bemühen, unsere Lebensweise zu entwickeln und an ihr festzuhalten.
Unsere Lebensweise und unsere Routinehandlungen beruhen zum guten Teil auf Denkmustern und immer gleichen Handhabungen. Unsere Gewohnheiten sind jedoch nicht nur innerlich, in Muskeln und Nerven, festgeschrieben. So wie Vögel ihre Nester auspolstern, betten wir unsere Lebensweise in die Orte ein, an denen unser Leben stattfindet. Wir schlagen Pfade durch unsere Umwelt und umgeben uns mit Menschen, die uns wie in einem Spiegel gewahr werden lassen, wer wir sind und was wir tun. Somit besteht unsere kleine Welt aus Gewohnheiten, Routinen, Menschen, Orten und Dingen, die uns vertraut und angenehm sind. Das ist das Themenfeld des ersten Teils dieses Buchs, der Ausgangspunkt unserer Reise. Um einen wissenschaftlichen Begriff zu verwenden – keine Angst, ich werde es damit nicht übertreiben –, könnte man das als homöostasis, als Selbstregulation, bezeichnen. Aber kehren wir zum Kino zurück. Wie in einem Spielfilm zeigt uns der erste Akt dieses Buchs die Beschaffenheit der Welt, bevor eine Störung oder Unruhe uns zwingt, die schwierige Aufgabe des Überlegens und der Neuanpassung anzupacken.
Unweigerlich werden irgendwelche »Nachrichten aus aller Welt« unser Routineleben durchkreuzen. Und schon beginnt der Krieg. Für das Ende unserer kleinen Welt kann es vielerlei Ursachen geben. Es muss nicht gleich der Weltuntergang sein wie in so vielen Filmen. Wahrscheinlicher ist, dass unsere alte Welt endet, weil wir einen neuen Job ergreifen oder unseren bisherigen verlieren, eine neue Beziehung eingehen oder die alte beenden. Aber zu Ende gehen wird sie. Und so werden wir mit einer tiefverwurzelten physiologischen Schwerfälligkeit und widerwillig den mühsamen Prozess des Wandels anpacken – den zweiten Akt, mit dem sich die zweite Hälfte dieses Buchs beschäftigt.
Der zweite Akt – Veränderung – beginnt immer mit den schwierigen ersten Schritten der Neuanpassung, durch die man sich allmählich an eine neue Seinsform gewöhnt. Weil das zunächst wirklich hart ist, wehren wir uns dagegen. Jedem Anfang wohnt ein Schrecknis inne, nicht weniger als jedem Ende. Jetzt befinden wir uns im Prozess der allostasis, dem Versuch, angesichts der Veränderung wieder Stabilität zu gewinnen und einen neuen Normalzustand der Behaglichkeit und Vertrautheit zu finden. Erhöhte Erregung und Konzentration kennzeichnen diese Zeit des Übergangs. Sie sind stets präsent, wenn wir versuchen, uns an den Rhythmus des Neuen anzupassen, und setzen uns innerlich konstant unter Druck, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren, zu einer neuen Normalität. In derart schwierigen Zeiten ist es oft einfacher, in alten Gewohnheiten Trost zu suchen, auch wenn sie nichts zur Veränderung beitragen. Aber genau das verschafft uns einen kurzen Blick auf die Ursachen vieler unserer Leiden: Manchmal bemühen wir uns zu sehr, das Ende des Veränderungsprozesses zu erreichen, ihn erst gar nicht anzupacken oder ihn überhaupt zu vermeiden, während wir schon mitten in ihm stecken. Wir begnügen uns mit unseren alten Antworten, obwohl neue erforderlich wären; wir verharren, obwohl wir uns verändern sollten.
Dieses Problem, den Spannungsbogen im Drama der Veränderung, werden wir im zweiten Akt erörtern, bevor wir den dritten Akt betrachten, die Herstellung einer neuen Normalität, einer neuen kleinen Welt.
Keine kleine Aufgabe: Ein ganzes Buch liegt vor mir – vor uns. Für meine Reise habe ich wie ein Kletterer, der einen Berg erklimmen will, oder wie ein General vor der Schlacht einen detaillierten Plan ausgearbeitet. Schon früh war mir klar, dass ich den Akt der Hingabe hervorheben will, der nötig ist, wenn man etwas so grundsätzlich Unwahrscheinliches beginnen und durchhalten will, wie es das Bücherschreiben ist. Erst kürzlich kam mir dazu ein Bild in den Sinn: gegen den Strom schwimmen, gegen die Flut des Zerfalls und Untergangs, gegen die langsame, schleichende Zerrüttung der Ordnung ankämpfen. Sich dagegenstemmen, dass wir, Sie und ich, uns jeden Tag und in jeder Hinsicht verschlechtern, unser Gedächtnis, die Zähne und den Kampf darum verlieren, einfach so zu bleiben, wie wir sind, geschweige denn uns zu verbessern. Dabei dreht sich doch alles darum, sich zu verbessern. Ich könnte mein Buch sogar mit »Besser werden« betiteln, das wäre treffend. Denn Menschen und Verhältnisse werden tatsächlich besser. Das klingt unwahrscheinlich und widerspricht dem zweiten Gesetz der Thermodynamik – der zwangsläufig zunehmenden Unordnung –, aber gelegentlich bessern sich die Verhältnisse. Ich jedenfalls glaube daran.
Als Therapeut habe ich Menschen begleitet, die gegen den Strom schwammen und sich mühsam hochkämpften. Diese Metaphern treffen genau ins Schwarze. Um gegen die vorherrschenden Kräfte der Gewohnheit, der Trägheit und des allmählichen Verfalls anzuarbeiten, ist tatsächlich eine gewisse Anstrengung erforderlich. Sie aufzubringen ist nicht einfach – zumindest nicht von Beginn an. Die ersten Schritte sind nichts als Anstrengung, ohne Belohnung. Durchhalten erfordert eine hartnäckige Mischung aus Glauben an den Prozess, Hoffnung auf Veränderung und das Engagement für ein Ziel, das nicht von den vorherrschenden Bedingungen bestimmt ist. Mit einem Wort: Hingabe. Das ist anfangs in der Tat schwierig.[1]
Also warum sich plagen? Was bringt uns dazu, uns zu ändern? Nun, manchmal müssen wir es, und manchmal sehen wir einfach, dass Dinge besser sein könnten, als sie sind. Wir erfassen mit einem kurzen Blick die Zukunft; wir haben eine Vision, die nicht bloß eine Weiterführung der Gegenwart ist. Und wenn diese Vision verlockend ist, kommt Begehren ins Spiel – die Sehnsucht nach anderen Verhältnissen als den jetzigen. Mit der Vision und dem Begehren haben wir eine gute Ausgangssituation. In ihrem Gefolge ergibt sich eine Beschleunigung der Energie, der Beginn einer Dringlichkeit, der Impuls zur Veränderung. Vision, Begehren und Dringlichkeit – das ist bereits ein Motivationstrio. Aber selbst dann noch könnte man einen Rückzieher machen und den Impuls verhallen, das Begehren verebben und die Vision verblassen lassen. Wenn man es lange genug ignoriert, hört das Trio irgendwann auf, einen zu quälen. Auf die Frage, ob wir dabei eine Wahl haben, werden wir später noch kommen; vorläufig wollen wir festhalten, dass es anscheinend kleine Momente gibt, in denen alles vorhanden ist und wir nichts anderes tun müssten als handeln. Mach was draus. »Also, wenn du dich so fühlst, warum änderst du dann nichts?« Jeder kennt solche Momente aus eigener Erfahrung oder aus dem Fernsehen. Den Moment der Entscheidung. »Na schön, ich mach’s.« Und dann tut man es, weil man will. Wenn man seinen Willen durch Handeln bekundet, tritt eine Veränderung ein. Anfangs vielleicht nicht so sehr, letzten Endes aber doch. Dann ist aus etwas Möglichem etwas Wirkliches geworden; man hat etwas Neues begonnen und in die Welt gebracht. Ein magischer Moment – ein seltener Moment. Jeder Anfang ist schrecklich, jedes Ende ebenfalls.
Der Streckenverlauf auf meinem Schlachtplan ist so aufregend wie herausfordernd. Allein in diesem Buch sind zehn Kapitel zu durchqueren und danach, in weiter Ferne, warten zwei weitere Bücher auf mich.[2] Hoffentlich gerate ich nicht ins Straucheln. Ich widme mich diesem Projekt über die Veränderung in der Hoffnung, dass es Veränderung bewirkt. Ich widme mich der Vorstellung, dass – so unwahrscheinlich und naturwidrig es scheinen mag – Menschen besser werden, besser, was ihre Lebenseinstellung angeht, besser in dem, wer sie sind, und besser darin, das Leben mit Anstand, Humor und Mut zu meistern. Manche Leute meistern ihr Leben auf bewundernswerte Art, anderen hingegen gelingt es ganz und gar nicht. Manche verharren in schlimmen, belastenden Verhältnissen und Haltungen und verkümmern immer mehr. Das ist kein Zufall – Menschen stecken fest oder...