Der Anfang der Untersuchung von Michael Endes Unendlicher Geschichte erfolgt anhand des Auszugs einer Traumerzählung in Der Spiegel im Spiegel, welche den Schlüssel zu Michael Endes Kunstverständnis und zu seinen Geschichten liefert. Dieser Auszug beschreibt die Begegnung des Pagads mit einem Kind:
„‚Wer bist du denn?‘ fragt das Kind.
‚Der Pagad‘, antwortet der Mann, setzt sich auf die Rampe und baumelt mit den Beinen.
‚Und was bist du?‘ will das Kind wissen.
‚Ein Magier‘, antwortet der Mann, ‚und ein Gaukler. Beides.‘
‚Und wie heißt du?‘ will das Kind wissen.
‚Ich habe eine Menge Namen‘, antwortet der Pagad, ‚aber am Anfang heiße ich Ende.‘
‚Das ist ein komischer Name‘, meint das Kind und lacht.
‚Ja‘, sagt der Pagad, ‚und wie heißt du?‘
‚Ich heiße bloß Kind‘, sagt das Kind verlegen. (...) ‚Und was machen wir jetzt?‘
‚Jetzt‘, antwortet der Mann auf der Rampe und schlägt die Beine übereinander, ‚jetzt fangen wir etwas an.‘
‚Kann ich bei dir bleiben?‘ fragt das Kind.
‚Man wird nach dir fragen‘, meint der Pagad ernst.
Das Kind schüttelt den Kopf.
‚Wo wohnst du denn?‘ erkundigt sich der Pagad.
‚Man kann nirgends mehr wohnen‘, antwortet das Kind. ‚Ich jedenfalls nicht.‘
‚Dann kann ich es auch nicht‘, meint der Pagad nachdenklich. ‚Was machen wir da?‘
‚Wir können zusammen losgehen‘, schlägt das Kind vor, ‚und eine neue Welt suchen, wo wir beide wohnen können.‘
‚Eine gute Idee!‘ sagt der Pagad und setzt seinen großen, sonderbaren Hut auf. ‚Und wenn wir keine finden, dann zaubern wir uns eine.‘
‚Kannst du das denn?‘ fragt das Kind.
‚Ich hab's noch nicht versucht‘, antwortet der Pagad ‚aber wenn du mir dabei hilfst ... Übrigens finde ich, du solltest doch einen richtigen Namen haben. Ich werde dich Michael nennen.‘
‚Danke‘ sagt das Kind und lächelt (...). Dann verlassen sie die Bude, den Jahrmarkt, die Stadt (...). Sie halten sich gegenseitig an der Hand, und man weiß nicht genau: Wer führt wen?“ [16]
Ein Magier und ein Kind auf der Suche nach einer neuen Welt, in einer Zeit, in der sich ‚das Kind‘ oder ‚das Kindliche‘ nicht heimisch fühlt. Michael Ende verbindet mit dem Kindlichen in uns den Teil, der uns schöpferisch und kreativ macht, den Teil, der nie die Fähigkeit verloren hat zu staunen, zu fragen, sich zu begeistern, und es ist auch der Teil, der Trost verlangt und hofft.[17]
Das Kind ist bereits bei Nietzsche die höchste Stufe der Verwandlungen des Geistes. Nietzsche zufolge steht das Kind für den „Neubeginn“ und für „ein heiliges Ja-sagen (...) zum Spiele des Schaffens“.[18]
Da der Pagad im Tarotkartenspiel eine der Trumpfkarten ist, scheint er bei der Erschaffung neuer Welten der richtige Gefährte zu sein. Das Kartenbild des Magiers zeigt eine „auf dem Berg des Unbewussten“ stehende, jugendliche Gestalt, die mit großer Geschicklichkeit „mit den Werkzeugen der Kommunikation“ jongliert.[19] Der Kopf des Jünglings ist gekrönt „von einem turbanförmigen Gebilde zweier ineinander verschlungener Schlangen“.[20] Infolgedessen repräsentiert der Magier auch im Tarot „den Willen, die Weisheit, das Wort, durch die Welten erschaffen wurden“.[21]
Das Kind ‚Michael‘ und der Pagad namens ‚Ende‘ vermitteln den offensichtlichen Eindruck, es handle sich um eine Selbststilisierung des Autors. Diesen Verdacht bestätigt Michael Ende auch in seinem Brief an den japanischen Übersetzer Shizuya Okazawa am 22. Januar 1985.[22] Der kurze Auszug zeigt ein unkonventionelles und geheimnisvolles Selbstporträt ganz im Sinne des Autors.[23] Mit seinen ‚magischen‘ Fähigkeiten und Werkzeugen (der Sprache) und einer kindlichen Vorstellungskraft treibt Michael Ende ein Spiel auf unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen. Daher antwortet Ende auf die Frage, ob nur eine Wirklichkeit existiert:
„Es gibt nur eine Wirklichkeit, aber sie ist wie ein Haus mit vielen Stockwerken, und je nachdem, in welchem man sich gerade befindet, hat man einen anderen Ausblick auf die Welt. Die Stockwerke, das sind unsere Vorstellungen, Gedanken und Gefühle. Zu anderen Zeiten oder bei anderen Völkern hatte man andere Vorstellungen, und deshalb bedeutete die Wirklichkeit dort etwas anderes. Ich beschreibe die Welt von verschiedenen Stockwerken aus.“ [24] (Herv.: d. V.)
Michael Endes ganzes Dasein bestätigt die Suche nach anderen, intensiveren Wirklichkeitsbetrachtungen. Die phantastische, über der ‚normalen‘ Realität stehende Welt war nicht nur ein Thema in seinen Werken, sondern seine Heimat. Auch privat lebte der Autor mit seiner Frau Ingeborg Hoffmann zurückgezogen im italienischen Genzamo di Roma in seiner Villa namens Casa Liocorno (Haus Einhorn).
Michael Ende akzeptierte und anerkannte die verschiedenen Wirklichkeitsbetrachtungen als gleichwertig und ließ „sich von der einen für die andere befruchten“:
„Er (Michael Ende, d. V.) wußte (...): Phantásien ist kein Fantasy-Land, nicht Phantasterei, nicht Weltflucht, sondern eine andere Form der Wirklichkeit.“ [25]
Mit Hilfe seiner ausdrucksvollen literarischen Bilder versucht Michael Ende, seine Leser/innen auf sinnliche Weise diese Wirklichkeiten erleben zu lassen und sie infolgedessen „sehend (zu) machen (...) für das Wesentliche, das hinter den Dingen liegt“.[26] Thomas Kraft beschreibt dieses literarische Erlebnis als
„eine Reise ohne festes Ziel, eine Aventiure nach mittelalterlichem Vorbild, mit der Blauen Blume im Knopfloch“. [27]
Mit dem Geschick eines Gauklers und einer Anlehnung an literarische Vorbilder präsentiert Michael Ende seinem Publikum mit der Unendlichen Geschichte die Reise in eine andere Wirklichkeit.
Bei seiner Beschäftigung mit dem Begriff ‚Wirklichkeit‘ resümiert der Autor:
„Zweifellos (gibt es, d. V.) sehr viele Dinge, die man nicht sehen oder anfassen kann und die dennoch Wirklichkeit sind, zum Beispiel Gefühle, Wünsche, Gedanken.“ [28]
Solche inneren Wirklichkeiten müssten, Ende zufolge, durch andere Bilder „als die der äußeren Welt“ beschrieben werden.[29] Seine literarische Welt vermittelt den Eindruck einer Traumlandschaft, welchen Ende durch seine bildhafte Sprache und seine sonderbaren Gestalten erzielt. Demzufolge erklärt der Autor:
„Mit einem Wort, ich versuche so zu schreiben, wie unsere Träume sind.“ [30]
In einem Interview verkündet Michael Ende, sein Schreiben ähnele der Arbeitsweise eines Malers:
„Ich arbeite eigentlich eher wie ein Maler. Maler gehen oft so vor, dass sie erst einmal mit irgendeiner Ecke des Bildes anfangen, wo dann etwas entsteht, sei es eine besondere Farbigkeit, oder sei es irgend etwas, das danach verlangt weitergeführt zu werden ... So malt man dann langsam das ganze Bild. Man hat zwar am Anfang ein bestimmtes Konzept, aber das Konzept ändert sich unterwegs, die Zielrichtung ändert sich dann auch." [31]
Michael Ende schreibt ohne einen konkreten Plan, der Ausgang der Geschichte steht am Anfang noch nicht fest, das Abenteuer entwickelt sich erst beim Schreiben.[32]
Die Nähe des Autors zu den Techniken der Malkunst ererbte Michael Ende von seinem Vater Edgar Ende. Doch auch auf Michael Endes Kunstverständnis hat der Vater einen prägenden und wichtigen Einfluss gehabt.
Die surrealistischen Bilder Edgar Endes weisen auf einen eigenen Stil hin, er strebte, wie Michael Ende betont, „nach einer gewissen Klassizität, ja Naivität“.[33] Seine visionäre Malerei war in ihrer Gestaltung...