Wilhelm von Humboldt heute
Immer wieder unerwartet geschieht es, dass aus den Lagerhallen der Geschichte geistiger Sprengstoff zutage gefördert wird, der, lange fast vergessen, nun plötzlich allgemeines Aufsehen erregt und aktuelle Bedeutung findet. Eine bleiche, vornehme Denkmalsfigur nimmt wieder Fleisch und Blut an, steigt von ihrem Sockel, tritt unter uns, erhitzt die Gemüter und entflammt die Meinungen gegeneinander. So ist es mit Wilhelm von Humboldt und seinem Werk – genauer: seiner Hinterlassenschaft. Der Kampf um die Hochschulreform, der sich schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg andeutete, aber im Für und Wider der Kommissionen, Ausschüsse, Pläne und unter dem Gewicht scheinbar dringenderer Sorgen zunächst versackte, ist seit knapp vier Jahren in voller Schärfe entbrannt. Er beginnt mehr und mehr sich von seinem ursprünglichen Gegenstände abzulösen; es geht nicht allein um die Neuordnung der deutschen Hochschule, es geht um Bildungsbegriff und Bildungssystem, um Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis, und es geht damit um Lebensgefühl und Lebenshaltung einer neuen Generation, einer neuen Epoche.
Mitten im Kampffeld ragt die Gestalt Wilhelm von Humboldts auf: Sein Werk ist in Frage gestellt, seine Auffassung von Bildung, von Wissenschaft, von Schule und Universität in ernste Zweifel gezogen, seine humanistische Weitsicht als überholte Illusion verdächtigt. Grund genug, uns mit ihm zu beschäftigen. Immerhin besuchen noch Millionen Kinder und junger Leute die höheren Schulen und Universitäten, die er, wenn man einmal so sagen darf, «erfunden» hat und die seitdem, seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten also, im Prinzip, ihren von Humboldt gelegten Fundamenten nach, erhalten geblieben sind.
Es soll in dieser Monographie nichts «bewiesen» werden – weder dass Humboldt ein idealisches Leitbild abgebe, noch auch das Gegenteil, dass seine Idealität, wie Nietzsche meinte, nur falsch, affektiert, unecht sei[1]; weder dass seine reformerischen Leistungen zeitlose Gültigkeit zu beanspruchen hätten, noch dass sie von Anfang an verfehlt gewesen und heute völlig absurd seien. Eine Persönlichkeit von seinen Ausmaßen kann überhaupt nicht nach ihrer «Nützlichkeit» und «Brauchbarkeit» beurteilt werden. Wenn man sich Rechenschaft darüber zu geben sucht, ob und wie zwischen ihm und seiner Zeit und uns und unserer Zeit lebendige Verbindung bestehe, muss man sich vor Augen halten, dass dabei nicht platte Kausalität gemeint sein kann, sondern nur eine Begegnung, deren Wirkung ganz unbestimmt ist; sie trägt ihren Wert in sich, weil der, dem unser Fragen gilt und dem wir näherzutreten wünschen, ebenso wie seine Epoche ihren Wert, ihr Gewicht, ihre Bedeutung in sich tragen – selbst dann, wenn sich gar keine konkreten Bezüge zu uns mehr fänden. Historisch fragen, heißt nicht voraussetzungslos, aber es heißt selbstlos fragen. Und «selbstlos» meint: um höchstmögliche Gerechtigkeit, Objektgerechtigkeit, bemüht, nicht um die «Abstützung» vorgefasster Thesen durch manipulierte Vergangenheitsmaterialien.
Im Jahre 1967 brachte die Bundesbank ein Fünf-Mark-Stück mit dem Doppelbildnis der Brüder Humboldt heraus: Alexander, der jüngere, ist en face, Wilhelm im Profil dargestellt. Dies mag, unbewusst, ein Symbol sein: Alexander, der große Entdeckungsreisende, der Wissenschaftsheros Südamerikas, der bahnbrechende Geograph und Naturforscher, scheint unserer Zeit näherzustehen[2], scheint unkomplizierter, überschaubarer und «aktueller», während der Bruder, der «Minister des Geistes», der Diplomat, Sprachforscher und deutsche Klassiker «Numero drei» nach Goethe und Schiller, dahinter zurücktritt ins Grau einer kaum noch interessierenden geistigen Existenz, tatsächlich – wenn überhaupt – nur noch im Profil, nur noch halb sichtbar. Wie aber steht es wirklich damit?
Abgesehen davon, dass auch Alexander von Humboldt im Bewusstsein der Deutschen von heute nur einen sehr bescheidenen Platz einnimmt – es gibt keine und gab nie eine deutschsprachige Gesamtausgabe seines Riesenwerkes[3] –, so ist der Name Wilhelms tatsächlich zu nicht viel mehr als einem Gebildetenschlagwort abgesunken, zitiert, wo über humanistische Gymnasien, den Wert des Griechischen und das Selbstverständnis der Universität gestritten wird. Insofern ist er tatsächlich nichts weiter als ein schemenhaft verschwimmendes Profil, und es erscheint an der Zeit, ihn wieder einmal in die volle Ansicht zu rücken und von allen Seiten zu betrachten. Denn es fällt auf, wie sehr Wilhelm von Humboldt, der einen Bildungsbegriff prägte, selber zum bloßen Bildungsbegriff geworden ist, und wie sehr diesem alle Anschauung, Wärme, Lebendigkeit mangeln. Es fällt noch einiges andere auf: Humboldt, der Mann der Missverhältnisse im geistigen Haushalt der Nation, in dem er einen teils zu exponierten, teils zu geringen Platz einnimmt; der Mann der Diskrepanz zwischen Leistungen und Wirkungen, die einander nicht nur nicht entsprechen, sondern sogar verzerren, weil manche seiner aus einer bestimmten geschichtlichen Stunde geborenen Handlungen sich zu Dauerformen verfestigten und, umgekehrt, einige seiner guten, zeitlosen Hervorbringungen vergessen wurden; schließlich Humboldt, der Mann der vielfältigen Anlagen, die dauernd zur Verzettelung zu führen drohten, der universalen Ideen, die keinen rechten Ort innerhalb der engen preußisch-deutschen Realität seiner Tage fanden; der Mann, alles in allem, der Ansätze ohne Vollendung.
1790 trat der Dreiundzwanzigjährige nach Abschluss seiner Rechts- und klassischen Philologiestudien als Referendar in den preußischen Staatsdienst, aber ein Jahr später schon schied er wieder aus, um in aristokratischer Zurückgezogenheit mit seiner Frau Caroline nur der eigenen Bildung und «Glückseligkeit» zu leben. 1792 vollendete er die Schrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. 1793 schrieb er die humanistisch-bildungsphilosophische Abhandlung Über das Studium des Altertums und des Griechischen insbesondre; ein paar Freunde bekamen das zu lesen, die Veröffentlichung aber erfolgte erst viele Jahre nach seinem Tode. Das gilt auch für die ebenfalls 1793 entstandene Schrift Theorie der Bildung des Menschen, ein Fragment, dem der bedeutende Erschließer Humboldts, Albert Leitzmann[4], zu Titel und später Publikation verhalf. Der aus dem freundschaftlichen Umgang mit Schiller und Goethe geborene Plan einer vergleichenden Anthropologie blieb – Plan. Dem ersten veröffentlichten selbständigen Werk des Zweiunddreißigjährigen: Ästhetische Versuche. Erster Teil. Über Goethes Hermann und Dorothea, wurde wenig Beachtung geschenkt und folgte nie ein zweiter Teil. Das große Vorhaben, die antike Kultur- und Staatenwelt umfassend darzustellen, erschöpfte sich in zwei schmalen Fragmenten Latium und Hellas (1806) und Geschichte des Verfalls und Unterganges der Griechischen Freistaaten (1807/08), und die Idee, das ganze 18. Jahrhundert im Zusammenhang vorzuführen, musste nach einer sehr extensiv geratenen Einleitung als unrealisierbar aufgegeben werden.
Der preußische Ministerresident beim Päpstlichen Stuhl, Wilhelm von Humboldt, machte in diesen Jahren 1802 bis 1808 zwar die entscheidende innere Entwicklung zu jener markanten und ingeniösen Persönlichkeit durch, als die er dann 1809, für alle Welt eigentlich unerwartet, die politische Bühne betrat, aber nüchtern betrachtet, im Sinne von Beruf und Laufbahn, stellte Rom nur eine drittklassige Mission dar. Dies Schicksal, als Staatsmann nicht in die vorderste Reihe zu gelangen, nie in die «erste Garnitur» aufzusteigen, hat Humboldt bis zum Schluss, bis zum Ausscheiden aus dem Staatsdienst, nicht wenden können. Der Versuch dazu brachte ihn 1819 endgültig zu Fall. Auch als «Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion des Kultus und öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern», als der er das große preußische Schul- und Universitätsreformwerk einleitete, blieb er dem Minister unterstellt. Da ihm das menschlich und sachlich untragbar erschien, nahm er den Gesandtenposten in Wien an, 1810 bis 1814, wechselte damit aber nur den Vorgesetzten, der nun der Staatskanzler von Hardenberg war; ehrenvoll, wichtig und erfolgreich war seine diplomatische Mitwirkung bei den Verhandlungen zu Prag und Châtillon mit dem wankenden napoleonischen Regime, auf dem Wiener Kongress 1814/15, am Zweiten Pariser Frieden 1815, aber immer stand er im zweiten Glied, im Schatten Hardenbergs, der sich seiner als eines nützlichen Gehilfen bediente. Regierungsverantwortung blieb ihm versagt, mit seinen Verfassungsentwürfen und Verwaltungsreformplänen drang er nicht durch, politische Macht wurde ihm nie zuteil, nicht einmal ein wirklich eigenständiges Ministerium; als er es gegen Hardenberg erzwingen wollte, entließ ihn der König.
Humboldt heute – was ist geblieben, was lebt und wirkt noch? Für den Staatsmann Humboldt ist das schnell beantwortet: Von den rund achtzehn Jahren seiner amtlichen Tätigkeit sind es die sechzehn Monate als Sektionschef des preußischen Unterrichtswesens, die eine dauernde Prägung der deutschen Entwicklung hinterlassen haben und deshalb heute unser erneutes kritisches Interesse finden müssen. Viel schwerer fällt die Antwort für den Denker, Forscher und Schriftsteller Wilhelm von Humboldt. Hier muss der Begriff des «Lebendigen», «Wirkenden» selbst unter die Lupe genommen werden. Natürlich sind ein Gottsched, ein Bürger, ein Zacharias Werner heute nicht mehr «lebendig» in dem Sinne, dass man ihre Werke liest oder auch nur einen bewussten Zugang zu ihnen...