I. Der gepeinigte Preußenprinz (1859–1888)
Seelenmord an einem Thronerben
Die Hochzeit seiner Eltern in London 1858 galt als Talisman einer engen Beziehung zwischen Großbritannien mit seinem ozeanischen Riesenreich und dem aufstrebenden Königreich Preußen auf dem Kontinent: Die siebzehnjährige Prinzessin Victoria, Vicky genannt, war das älteste Kind Queen Victorias und des Prinzgemahls Albert aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha, der Bräutigam Prinz Friedrich Wilhelm (Fritz) der einzige Sohn des 61jährigen Prinzen Wilhelm von Preußen, der seit kurzem für seinen geisteskranken und kinderlosen Bruder Friedrich Wilhelm IV. die Regentschaft führte. Mit der Geburt eines Sohnes am 27. Januar 1859 schienen die Hohenzollerndynastie und der Friede in Europa auf Jahrzehnte gesichert. Sinnträchtig erhielt der neugeborene Prinz von Preußen die Namen auch seiner englischen Großeltern: Friedrich Wilhelm Viktor Albert.
Die Entbindung fand im obersten Stock des Kronprinzenpalais zu Berlin Unter den Linden statt. Die Umstände bei der Geburt galten lange Zeit als ungeklärt, liegen jetzt aber dank der Dokumente im Familienarchiv offen zutage: Die Wehen der Mutter begannen am Nachmittag des 26. Januar. Der Vater, der während der Niederkunft seiner Frau nicht von ihrer Seite wich, schickte am frühen Abend mit der gewöhnlichen Post (!) einen Brief an den Frauenarzt Professor Dr. Eduard Arnold Martin, ohne ahnen zu können, daß sich das Kind in Steißlage befand – den Kopf nach oben, die Beine und Arme hochgestreckt. Erst als diese Stellung, die Lebensgefahr für Mutter und Kind bedeutete, am folgenden Morgen erkannt wurde, schickte der Prinz einen Boten zu Martin, der den Brief des Vortags noch nicht erhalten hatte. Der Frauenarzt fand also eine Notlage vor, als er in den Kreißsaal eilte. Er ließ die leidende Mutter durch den schottischen Arzt, den Queen Victoria nach Berlin geschickt hatte, mit Chloroform betäuben, ordnete – da die Wehen nicht genügend Stoßkraft besaßen – die Verabreichung von Mutterkorn (eigentlich ein Abtreibungsmittel) an und suchte nun das Kind, das vom Ersticken bedroht war (da es die Nabelschnur mit dem Kopf abdrückte), aus dem Geburtskanal zu lösen. Bei dem Versuch, den über den Kopf emporgestreckten linken Arm des Babys herunterzuziehen und «mittels desselben» dessen Körper zu rotieren, wurde dessen Nervengeflecht am Hals zerrissen: Der künftige König der Militärmonarchie Preußen und nachmaliger Kaiser des mächtigen Deutschen Reiches kam nicht nur «in hohem Grade scheintodt», sondern auch mit einer sogenannten Armplexuslähmung zur Welt.
Die nächsten Tage und Wochen brachten die Gewißheit, daß der kleine Prinz eine schwere Geburtsverletzung erlitten hatte. Zwischen dem linken Oberarm und der Schulterpartie entwickelte sich eine deutliche Falte. Das linke Schultergerüst und der Arm hingen schlaff herunter, das Ellbogengelenk war dagegen steif. Im Vergleich zum rechten Arm war der linke kalt und zu kurz; mit der Zeit wurde der Unterschied sichtlich größer. Auch die linke Hand blieb kleiner als die rechte, ihre auffallend spitzen Finger waren klauenartig eingeschlagen. Die Ursache für die besorgniserregende Mißbildung war jedoch rätselhaft. Man ging von einer Quetschung der Muskeln aus, die mit der Zeit heilen würde, empfahl kalte Waschungen, Einreibungen mit Alkohol, passive Bewegungen des lahmen Gliedes. Allein schon die Anordnung des Leibarztes, den rechten Arm festzubinden, um das Kleinkind zum Gebrauch des linken Armes anzuregen, beweist, wie unvollkommen das Wissen der damaligen Medizin über das Nervensystem war. Erst allmählich setzte sich die Überzeugung durch, daß die Lähmung nicht auf eine Muskelverletzung, sondern auf einen Hirn- oder Nervenschaden zurückzuführen und deshalb unheilbar war.
Aufgrund der falschen Diagnose wurden geradezu groteske therapeutische Maßnahmen ergriffen. Als der Prinz sechs Monate alt war, verordnete Professor Bernhard von Langenbeck von der Charité «animalische Bäder». Zweimal wöchentlich wurde Wilhelms linker Arm eine halbe Stunde lang in den Kadaver eines «frischgeschossenen Hasen» gesteckt in der Erwartung, Wärme und Kraft des wilden Tieres würden sich auf den Arm übertragen. Bereits an dieser Stelle fragt man sich, welche psychischen Folgen diese jahrelang praktizierte blutige Grausamkeit auf den künftigen Monarchen gehabt haben mag; irgendwelchen Nutzen brachte sie jedenfalls nicht. Da er infolge der Lähmung Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu finden, gestalteten sich Wilhelms Gehversuche schmerzhaft, zumal man fortfuhr, seinen rechten Arm festzubinden. Frustration und Wut machten sich bemerkbar. Bald nach dem ersten Geburtstag verschrieb Langenbeck zusätzlich zu den «Thierbädern» Malzbäder und Magnetisierung – die erste Elektromagnetisierung des Armes wurde im April 1860 vorgenommen, doch das Glied blieb kalt, gefühllos und dunkelrot. Später ist für die Elektrotherapie des Halses der konstante galvanische Strom verwendet worden, da Wilhelm an dieser empfindlichen Stelle den magnetischen Wechselstrom nicht ertrug. Für den Arm wurden weiterhin beide Stromarten täglich «auf längere Zeit» und «in bedeutender Stärke» angewendet.
Die Kopfstreckmaschine, Zeichnung von Kronprinzessin Victoria
Als Wilhelm vier Jahre alt war, stellte sich als zusätzliches Krankheitsbild ein Schief- oder Drehhals ein: Die unverletzte rechte Halsmuskulatur zog den Kopf zur rechten Seite herunter und drehte gleichzeitig das Kinn zur paralysierten linken Seite hin. Im April 1863 wurde, wie sein Vater notierte, eine «Maschine für Wilhelm’s Hals probirt». Die «Kopfstreckmaschine», die der Prinz täglich eine Stunde tragen mußte, bestand – so beschreibt es die entsetzte Mutter – «aus einem Gürtel um die Taille, an dem hinten eine Eisenstange festgemacht ist. Diese Stange führt über den Rücken zu einem Ding, das genauso aussieht wie die Zügel bei einem Pferd. Darin wird der Kopf festgemacht und mit einer Schraube […] in die gewünschte Stellung gebracht.» Die Kronprinzessin fertigte eine Zeichnung (siehe oben) von dem Gerät an und jammerte, wie furchtbar es sei, «das eigene Kind als ein mißgebildetes behandelt zu sehen». Auch diese Maßnahme, deren psychische Folgen man erahnen mag, erwies sich als nutzlos; eine Operation wurde erforderlich. Am 23. März 1865 schnitt Langenbeck den sogenannten «Kopfnicker» – die Sehne zwischen dem Halsmuskel und dem Schlüsselbein – durch. Wenige Tage darauf wurde ein zweiter Muskel durchtrennt, der das Kinn zur Seite zog und so das Gesicht entstellte: Das rechte Auge und die rechte Wange waren im Verhältnis zu groß geraten, der Mund schief und das linke Auge halb zugekniffen.
Da Wilhelm den steif nach vorn gebeugten linken Vorderarm überhaupt nicht bewegen konnte, schien 1868 eine Durchtrennung auch der Bizeps-Sehne angebracht, doch schließlich sah man von dieser Operation ab, weil die Versteifung offenbar von einer Knochenmißbildung im Ellbogengelenk herrührte. Statt einer Operation wurde die «Armstreckungsmaschine», die der Prinz seit der frühesten Kindheit ertragen mußte, noch intensiver angelegt, und zwar zweimal täglich, auch während des Unterrichts. Von einer Verwendung der Maschine nachts wurde nur deshalb abgesehen, weil man epileptische Anfälle befürchtete. Unter Anwendung der «Armstreckungsmaschine» und eines «Fixierungsgestells» konnte seit 1866 unter Anleitung des Hauptmanns Gustav von Dresky dreimal täglich Heilgymnastik angewendet werden, die sich für die Entwicklung des gelähmten Arms als nützlich erwies.
Als wäre diese (natürlich gutgemeinte) Peinigung für den zarten Prinzen nicht schon genug, so stellten sich im Lauf der Jahre weitere körperliche Mißlichkeiten heraus, die die Ärzte ebenfalls auf die schwierige Geburt beziehungsweise auf die Behandlung der Geburtsverletzungen zurückführten: Eine Gleichgewichtsstörung zeitigte in den Jugendjahren mehrmals Knieverrenkungen, durch die Wilhelm bisweilen genötigt war, wochenlang das Zimmer zu hüten. Seit dem Herbst 1878 litt er jahrelang an einer lebensgefährlichen Erkrankung des rechten inneren Ohres mit polypösen Wucherungen und übelriechenden Eiterungen. Als die Ohrerkrankung 1886 in alarmierendem Grade mit Schwindel und Innenohrgeräuschen wiederkehrte, verschrieben die Ärzte einen zehnwöchigen Kuraufenthalt in Bad Reichenhall. Im Oktober jenes Jahres entzündete sich auch noch das bisher gesunde linke Ohr – das Trommelfell mußte perforiert werden. Befürchtungen, wonach es sich bei den Wucherungen um Krebs handelte, erwiesen sich zwar als unbegründet, doch in den folgenden Jahren verstummten die Gerüchte nicht, daß das auffallende Verhalten Wilhelms auf sein Ohrenleiden zurückzuführen sei. Im August 1896 wurde eine Radikaloperation zur Entfernung des Trommelfells des rechten Ohres unumgänglich, weil eine Gehirnentzündung zu befürchten war. Doch auch nach der Operation litt der Kaiser zeitlebens an chronischem Mittelohrkatarrh, dem er täglich mittels...