1. Der umstrittene Wagner
Wagner polarisiert, wie eh und je. War das früher vornehmlich die Folge seiner ästhetischen Position und seines Machtanspruchs, so ist es heute nahezu ausschließlich die Konsequenz seines Antisemitismus. An die Stelle der Ästhetik ist die Moral getreten.
Wagner war Antisemit, daran ist kein Zweifel. Dies zu verharmlosen oder als bloße Marotte abzutun, wäre angesichts dessen, was im 20. Jahrhundert geschehen ist, verantwortungslos, ja sträflich. Über die moralische Verwerflichkeit von Wagners Antisemitismus kann gar kein Zweifel bestehen, er ist durch nichts zu rechtfertigen.
Wenn jedoch, wie es immer wieder geschieht, der Holocaust zu Wagners Vermächtnis erklärt und ihm damit die Schuld an Auschwitz gegeben wird, so ist das Geschichtsklitterung. In dieser Sicht verstellt die Moral den Blick auf die historischen Tatsachen, die gerade im Hinblick auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und auf deren Ursachen einer unverstellten Analyse und differenzierten Darstellung bedürfen. Einer der Gründe für die bedenklich verkürzte Perspektive auf Wagner liegt in einem Mangel an genauer Kenntnis. Offensichtlich herrschen weithin falsche, nämlich simplifizierende und klischeehafte Ansichten sowohl über den Antisemitismus Wagners als auch über dessen Rolle im Dritten Reich. Die Antwort darauf kann nur in Aufklärung und Aufarbeitung bestehen. Zu versuchen, Wagners Antisemitismus zu verstehen, heißt weder, ihn zu rechtfertigen, noch, ihn zu entschuldigen.
Wagners Antisemitismus hat seine Wurzeln allgemein in den traditionellen Vorurteilen gegen Juden, wie sie in Deutschland im 19. Jahrhundert verbreitet waren, nicht zuletzt unter Kleinbürgern, zu denen Wagner seiner Herkunft nach zu zählen ist. Davon hat er sich offen kundig nie zu lösen vermocht. Im besonderen aber liegen Anlaß und Grund für seinen Antisemitismus in den Konstellationen, auf die er als Komponist traf. Seine größten Konkurrenten, die berühmtesten und erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit, waren Juden: Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer. Beide kamen aus reichem Hause, und Wagner, der aus kleinen, eher armen Verhältnissen stammte, war aufgrund seiner Vorurteile der Ansicht, sie hätten sich ihre Karrieren mit ihrem Geld erkauft. Damit aber nicht genug: Hinter dem Erfolg und dem unbestreitbaren Einfluß Mendelssohns wie vor allem Meyerbeers wähnte Wagner ungeheure Machtkonstellationen. Mit ihrem Geld – so seine Meinung – beherrschten sie die Kunstszene und ließen andere nicht zum Zuge kommen. Wagner fühlte sich benachteiligt. In seinem Sendungsbewußtsein war er überzeugt davon, einzig und allein er selbst sei auf dem richtigen Wege. Daß dennoch nicht alle bereit waren, ihm zu folgen, schob er – unter anderem – auf eine gegen ihn gerichtete Verschwörung der Juden. Der Antisemitismus war seine Reaktion darauf.
Wagners Antisemitismus hätte vermutlich sehr viel weniger Aufsehen in der Nachwelt erregt, hätte er ihn nicht in schriftlicher Form festgehalten. Der Aufsatz Das Judentum in der Musik von 1850 war allerdings, so allgemein und grundsätzlich sein Titel klingt, zunächst vornehmlich ein Angriff auf den mächtigsten Konkurrenten von Wagners Opernkunst, die französische Große Oper. Deren andere ästhetische Position war – so Wagners perfide Argumentation – vor allem deshalb falsch, weil ihr repräsentativster Vertreter, Giacomo Meyerbeer, Jude war. Juden aber waren nach den Behauptungen in Das Judentum in der Musik der europäisch-abendländischen Kultur fremd und ganz allgemein, ihrer Natur entsprechend, unschöpferisch. Zur wahren Kunst unfähig, konnten sie nur auf den äußerlichen Effekt aus sein und auf das damit zu verdienende Geld. Dieses von Vorurteilen geprägte Klischee stellte Wagner so dar, als beruhe es auf rationaler Einsicht in das Wesen des ‹Judentums›. Es bildete fortan die theoretische Grundlage seines Verhältnisses zu den Juden.
In der Praxis verhielt sich Wagner jedoch anders, jedenfalls nicht konsequent. Das zeigt sich sehr deutlich an seiner Einschätzung Felix Mendelssohn Bartholdys. In Das Judentum in der Musik ist von dem «tragischen Zug in Mendelssohns Erscheinung» die Rede, was wie ein Widerspruch im System anmutet; denn angesichts der radikalen Abqualifizierung alles Jüdischen in Das Judentum in der Musik sollte man annehmen, daß den angeblich so oberflächlich-geschäftstüchtigen Juden die Kategorie des Tragischen prinzipiell verschlossen sei. An dieser Charakterisierung Mendelssohns hielt Wagner jedoch auch später fest; und auch die Annahme, er habe sich, nachdem er die postulierte Minderwertigkeit alles Jüdischen einmal ‹erkannt› hatte, konsequenterweise nie mehr mit der Musik Mendelssohns beschäftigt, trifft nicht zu. Im Gegenteil: Die Musik Mendelssohns spielte im musikalischen Leben im Hause Wagner stets eine Rolle, wie die Tagebücher Cosima Wagners belegen. Man hatte zwar meist etwas daran auszusetzen – und das begründete man fast immer damit, daß Mendelssohn Jude sei –, aber man kam auch nicht davon los. Am 22. September 1878 notierte Cosima Richards Mitteilung, «er sänge sich oft Themen von Mendelssohn vor», und – vielleicht dies zum Anlaß nehmend – schenkte sie ihm zu Weihnachten 1878 Mendelssohns Ouvertüren in einer Notenausgabe. Am 27. Dezember heißt es in Cosimas Tagebuch dazu: «R. sagt mir, er habe die Mendelssohn’schen Ouvertüren angesehen, die ich ihm auf seinen Weihnachtstisch gelegt, die ‹Meeresstille› [Meeresstille und glückliche Fahrt] hat ihm gefallen, es war ein feiner Musiker.» Dieser privaten Äußerung folgte die öffentliche. In dem Aufsatz Über das Dichten und Komponieren, publiziert 1879 in den Bayreuther Blättern, fügte Wagner der Erwähnung von Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre hinzu: «welche ich für eines der schönsten Musikwerke halte, die wir besitzen». Mendelssohns Musik diente sogar als positives Gegenbeispiel zur Musik von Schumann und Brahms, die im Hause Wagner gänzlich verworfen wurde, und 1881 vermerkte Cosima in ihrem Tagebuch Wagners «Vorliebe für den einen Chor im ‹Paulus› nach der Steinigung vom h. Stephan» (‹Dir, Herr, dir will ich mich ergeben›). Im konkreten Fall verblaßte also die Theorie vom ‹künstlerischen Unvermögen der Juden› vor der Unmittelbarkeit des Musikerlebnisses und der Wahrnehmung der Qualität der Musik.
Auch, was das eigene Komponieren betraf, bezog sich Wagner auf Mendelssohn. Als er im Juni 1871 über der Komposition der Götterdämmerung saß und offenkundig mit Problemen kämpfte, wie die imaginierte Musik aufzuschreiben sei, äußerte er laut Cosimas Tagebuch: «Mendelssohn würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er mich komponieren sähe.» Dahinter verbirgt sich – unübersehbar – Respekt vor der Könnerschaft Mendelssohns. Und noch ein weiteres Faktum deutet darauf hin, daß Wagner in Mendelssohn eine Autorität sah. Wagner verwendet im Parsifal das sogenannte ‹Dresdener Amen›, das ihm offensichtlich sehr wichtig war, weil er es auch schon im Liebesverbot und im Tannhäuser eingesetzt hatte. Eigenartig ist nun, daß er es im Parsifal nicht in der gleichen Gestalt wie in den beiden älteren Werken präsentiert, sondern genau in derjenigen, die Mendelssohn ihm in seiner Reformations-Symphonie gegeben hatte. Diese Symphonie hörte Wagner 1876 in Bayreuth in einem Konzert. Vermutlich nahm er an, Mendelssohns Version sei die authentische, und so kommt es, daß Wagner in seinem Gralsthema, das zu den zentralen Leitmotiven des Parsifal gehört, ausgerechnet den Juden Mendelssohn zitiert, gegen ‹dessen Rasse› nach der Ansicht einiger Interpreten Wagners Werk gerichtet ist.
Mendelssohn ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie widersprüchlich sich Wagner verhielt. Was etwa bewog ihn dazu, den Auftrag zur Herstellung des offiziellen Klavierauszugs zu den Meistersingern von Nürnberg dem Juden Karl Tausig zu erteilen? Wie konnte Wagner gerade dieses nach seiner eigenen Einschätzung so spezifisch deutsche Werk ausgerechnet einem Juden anvertrauen? Hätte er das, was er in Das Judentum in der Musik geschrieben hatte, wirklich ernstgenommen und streng befolgt, dann wäre Tausig nie und nimmer dafür in Frage gekommen. Wagner jedoch schrieb ihm 1868: «Dein Klavierauszug ist famos und wird von Allen bewundert!» Als Tausig 1871, knapp dreißgjährig, starb, verfaßte Wagner die folgenden Verse:
Grabschrift für Karl Tausig
Reif sein zum Sterben,
des Lebens zögernd sprießende Frucht,
früh reif sie erwerben
in Lenzes jäh erblühender Flucht,
war es Dein Loos, war es Dein Wagen, –
wir müssen Dein Loos wie Dein Wagen beklagen. –
Diese Verhaltensweisen stehen unabweisbar quer zu dem, was Wagner in Das Judentum in der Musik geäußert hat, und sie stimmen schon gar nicht mit der immer wieder...