Falle 1: An die eigene Vernunft appellieren
Der Konflikt zwischen schnellem Genuss und langfristigem Glück ist so alt wie die Menschheit. Deshalb haben findige Köpfe schon seit eh und je nach Techniken gesucht, um den kurzweiligen Verlockungen zu widerstehen. Fraglos eine der ältesten Strategien ist es, an die eigene Vernunft zu appellieren. Diese Strategie beruht auf Appellen an den Einzelnen, was er tun oder lassen soll: „Du sollst …!“ – „Du sollst nicht …!“. Sie findet sich nicht nur in den großen religiösen Moralsystemen – man denke z. B. an die Zehn Gebote der Bibel – sondern wird auch von Erziehungsberechtigten seit Menschengedenken weltweit angewendet. Wir versuchen es selbst immer wieder nach diesem Prinzip. Es klingt dann meist etwas milder. Etwa so: „Du solltest dich eigentlich etwas gesünder ernähren“, oder: „Du solltest dich mal wieder mehr bewegen“, oder: „Du solltest jetzt mit der Vorbereitung für die Präsentation beginnen“.
All dies sind Appelle an die Vernunft. Wir appellieren an andere, sich klug und vernünftig zu verhalten, andere wiederum appellieren an uns, und schließlich appellieren wir auch immer wieder gern an uns selbst, das Richtige zu tun. Immer sind wir dabei beherrscht vom Glauben, die Vernunft werde am Ende siegen bzw. unseren Willen soweit stärken, dass wir uns für das entscheiden, was getan werden muss. Das Problem dabei: Appellieren führt fast nie zum Ziel. Meist essen wir damit nicht gesünder, bewegen uns nicht öfter und lassen die Erstellung der wichtigen Präsentation ein weiteres Mal liegen.
Warum ist das so? Die Antwort lautet: Der Appell geht ins Leere, weil wir ihn schlicht an den falschen Empfänger richten. Die Vernunft trifft nämlich gar keine Entscheidung, sie sammelt nur Informationen und begründet hinterher die getroffenen Entscheidungen.
Die Vernunft entscheidet gar nichts
Die Entscheidung, ob wir so oder auf eine andere Weise handeln, fällt nicht unsere Vernunft, sondern unser Gefühl. Entscheidungen trifft das limbische System des Gehirns. Dieses System entspricht, grob ausgedrückt, unserem emotionalen Gehirn und ist darauf ausgerichtet, unser Handeln so zu steuern, dass wir möglichst viel Lust und möglichst wenig Schmerzen empfinden. Diese beiden grundlegenden Antriebskräfte bringen uns dazu, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen. Die eine Kraft treibt uns an, alles dafür zu tun, um Glück, Zufriedenheit und Lust zu empfinden. Die andere treibt uns an, alles zu vermeiden, was Schmerz, Unglück, Unzufriedenheit verursacht.
Unsere Antreiber: Lustgewinn und Schmerzvermeidung
Am Lustgewinn und der Schmerzvermeidung richten wir unser gesamtes Handeln aus. Daraus ergibt sich auch, wie wir mit Appellen umgehen: Stets wägen wir ab, was unter dem Strich mehr Lustgewinn verspricht und weniger Schmerz verursacht. Nur wenn ein Appell im Augenblick der Entscheidung mehr Wohlbefinden als Unlust verspricht, befolgen wir ihn. Wenn nicht, dann nicht.
Genau deshalb können Sie es sich auch sparen, an die eigene Vernunft zu appellieren. Sie wird Ihnen nicht helfen, ins richtige Handeln zu kommen. Dafür gibt es bessere Techniken. Solche, die ganz bewusst mit den beiden Antriebskräften arbeiten. Im Kern geht es dabei immer um die Antwort auf die Frage: „Welcher Gedanke hilft mir, das, was ich tun sollte, als lustvoll zu empfinden?“ Wie Sie solche Gedanken finden können, beschreiben wir im Kapitel „Willensstark zum Ziel“ genauer. Im Augenblick genügt die Feststellung: An die eigene Vernunft zu appellieren, läuft ins Leere.
Warum erfreut sich das Appellieren trotzdem so großer Beliebtheit? Aus zwei einfachen Gründen:
Wir halten trotz vieler Erfahrungen und wissenschaftlicher Gegenbeweise stur am Glauben fest, als vernunftbegabte Wesen hauptsächlich rational zu entscheiden und zu handeln.
Appellieren fühlt sich einfach gut an. Denn damit signalisiert man sich und anderen: „Es ist alles in Ordnung. Ich weiß ja, was richtig ist. Sobald ich dazu komme, werde ich auch so handeln.“ Das tun wir dann zwar meist nicht, aber es fühlt sich schon ein bisschen so an, als würden wir es tun.
Diese Gründe machen das Appellieren nicht nur zu einem Zeit- und Energiefresser, sondern auch zu einer Falle: Das mit dem Appellieren einhergehende, beruhigende Gefühl verringert den inneren Handlungsdruck. Das ist ein bisschen wie Dampf ablassen. Dann kann alles weiter so vor sich hin köcheln wie bisher.
Unsere Empfehlung: Sparen Sie sich Appelle an die innere Vernunft und genießen Sie es lieber ganz bewusst, einmal Ungesundes zu essen und faul auf dem Sofa herumzuliegen. Oder Sie packen Ihr Ziel richtig an und finden in sich Gründe, die sie emotional zum Handeln bewegen.
Beispiel:
Beginnen Sie die Präsentation tatsächlich jetzt, weil Sie sich hinterher merklich erleichtert fühlen. Essen Sie gesunde Lebensmittel, die Ihnen schmecken. Finden Sie eine Sportart oder Bewegungsabläufe, die Ihnen wirklich Spaß machen.
Falle 2: Moralisch denken und Opfer bringen
Wie? Moralisch zu denken und zu handeln soll eine Falle, ein Fehler sein? Ja, leider! Allerdings nicht grundsätzlich, sondern im Zusammenhang mit Willenskraft-Entscheidungen. Um dies zu verstehen, gilt es sich bewusst zu machen, was moralisches Denken und Handeln im Kern bedeuten: nämlich die Welt in Gut und Böse zu scheiden. Dazu gehören dann „gute“ Verhaltensweisen und „böse“ Verhaltensweisen bzw. erlaubtes Verhalten und verbotenes Verhalten. Diese Unterscheidung ist allen Moralsystemen eigen. Diese weichen lediglich in der Definition, was Gut und Böse genau sind, voneinander ab.
Was aber hat dies mit Willenskraft-Entscheidungen zu tun? Sehr viel! All das spielt eine Rolle, wenn es um die moralische Bewertung des Jetzt-oder-später-Genuss-Dilemmas geht. Beispielsweise, indem man all die angenehmen Ablenkungen als moralisch minderwertig betrachtet und all die disziplinierten, erst langfristig sinnvollen Tätigkeiten als moralisch höherwertig einstuft. Wie ist das bei Ihnen? Spüren auch Sie diese Tendenz in sich? Wenn ja, ist das erst einmal nicht schlimm – aber es könnte gefährlich werden! Und zwar genau dann, wenn Sie für sich spüren, dass Sie die „bösen“ kurzfristigen Befriedigungen als besser und attraktiver empfinden als die „guten“, vernünftigen Verhaltensweisen.
Identifizieren Sie sich also vielleicht mehr mit Ihren Impulsen und weniger mit Ihren langfristigen Interessen? Und haben Sie vielleicht das Gefühl, Sie würden lieber Ihren Impulsen folgen und tun das nur deswegen nicht, weil diese – moralisch betrachtet – „böse“ sind? Ein solches moralisches Denken ist deshalb gefährlich, weil es unterschwellig das Gefühl befördert, Willenskraft-Herausforderungen würden immer das bedrohen, was Sie am meisten wollen. Das geht dann leicht einher mit dem Gefühl, der Moral jedes Mal ein Opfer bringen zu müssen, wenn Sie sich gegen die „bösen“ Verführungen und für die unangenehmen „guten“ Verhaltensweisen entscheiden.
Moralisch motivierte Opfer schwächen Ihre Willenskraft
Wer bringt schon gern sein Leben lang Opfer? Wie lange lässt sich so etwas durchhalten? Was bewirkt es, wenn Raucher jede einzelne, nicht gerauchte Zigarette als Opfer empfinden? Oder wenn sich jedes „Nicht-im-Internet-Surfen“ ebenso als ein Opfer anfühlt wie der Verzicht auf die Currywurst, das Büroschwätzchen, die Feierabend-Couch, auf den Fernsehabend und so weiter? Denke und empfinde ich so, bedeutet jeder kleine Verzicht eine große Anstrengung für meinen Willen.
Willenskraft ist begrenzt. Sie schwindet durch Gebrauch. Und sie wird umso schneller aufgebraucht, je mehr sie dafür herhalten muss, schmerzhafte Opfer zu erbringen.
Wichtig
Einer der Hauptgründe für das Scheitern beim Versuch, ungesunde Angewohnheiten durch gesunde zu ersetzen, ist das Gefühl, man bringe jedes Mal ein Opfer, wenn man die „guten“ Dinge tut. Das überfordert die Willensstärke auf Dauer.
Willenskraft-Entscheidungen aus Gründen der Moral zu treffen, führt leicht in eine weitere Falle, nämlich: „gute“ gegen „schlechte“ Handlungen aufzurechnen.
Die Moralische Lizenz zum Sündigen
Vielleicht kommen Ihnen folgende Denk- und Verhaltensmuster bekannt vor:
„Ich bin jetzt eine Woche lang immer früh aufgestanden. Es ist daher völlig in Ordnung, wenn ich nächste Woche ein-, zweimal länger schlafe.“
„Ich habe gerade so hart trainiert, dass ich mir heute Abend statt eines Riegels Schokolade die halbe Tafel gönnen kann.“
„Ich habe im Supermarkt heute Morgen so viel gespart, dass ich mir im Internet das teure Designer-Hemd bestellen...