Das ganze Jahr über ist es in der kargen Landschaft der Schwäbischen Alb etwas kälter als unten im Donautal, als entlang des Neckars oder gar drüben im Breisgau. Dass es in Deutschland Regionen geben soll, in denen Weintrauben wachsen, wo sogar Aprikosen geerntet werden, das erschien mir als Kind praktisch unvorstellbar. Bei uns auf der Rauhen Alb gab es Skilifte, minus zwanzig Grad im Januar und geerntet wurden Kartoffeln und Karotten. Aber wie ich es liebte!
Wenn zu Beginn der kalten Jahreszeit die ersten Schneeflocken vom Himmel tanzten, vielleicht liegen blieben, wenn sich Pfützen überzogen mit dieser so speziellen, feinen Schicht, wie ich sie später bei Crème brûlée wiederfand. Dieses Knacken, wenn man mit dem Absatz des Schuhs auf die Eisschicht kickt, so hell und fein und klirrend wie das Geräusch des Löffelchens auf der Kruste der Süßspeise.
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Schnee und Eis: Was ist das, wo gibt’s das heute noch? Darum soll es hier gehen. Crystal Myths. Der Stoff, der Winterfreunde high macht. Wie jeder weiß: Grönländer kennen über hundert Wörter für Schnee. Aber wie das so ist mit den Dingen, die jeder weiß: Oft stimmen sie nicht. Der Irrtum liegt darin, dass Eskimosprachen – tatsächlich gibt es verschiedene rund um den Nordpol – polysynthetisch sind, das bedeutet, dass sie viele Details in einem Wort enthalten, die etwa im Deutschen in längeren Phrasen erklärt werden müssen.
Ich habe vor einigen Jahren einen halben Winter in Ostgrönland verbracht. Ein paar Schneewörter habe ich mir gemerkt: „qiqumaaq“ – Schnee, dessen Oberfläche gefroren ist, „katakatanaq“ – harte Kruste von Schnee, die unter Fußstapfen nachgibt, „maujaq“ – weicher Schnee auf dem Boden. Die deutschen Übersetzungen sind umständlich, ja, aber man kann auch hierzulande einfach sagen: Harsch, Bruchharsch, Matsch.
Denn tatsächlich kennt auch das Deutsche jede Menge Wörter für Schnee: Locker-, Neu- und Pappschnee. Reif, Harsch, Firn, Sulz. Pulverschnee, Schwimmschnee, Schneebretter. Wechten, Altschnee, Bruchharsch. Büßerschnee, Faulschnee. Es gibt sogar ein Wort für den schneelosen Zustand: aper. Und weiter: Graupel, Griesel, Hagel. Gut, Hagel zählt nicht. Aber warum eigentlich nicht? Und dann wäre da noch das Eis. Glatteis, Blitzeis, gefrorene Wasserfälle, Packeis, Inlandeis, Gletschereis, Eisberge, Schwarzeis, Speiseeis.
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Was genau ist Schnee? Wie sehen Schneekristalle aus? Auf jeden Fall wunderschön. Auf dunklen Winterjacken lassen sich die Sternchen bewundern. Eine kleine Exkursion zur Kristallbildung: Ist es in den Wolken kälter als minus 12 Grad, gefrieren Tröpfchen an festen Teilchen, das können Blütenstaub-Partikel sein, Schmutzteilchen oder Vulkanasche. Schneeflocken sind also keine gefrorenen Regentropfen, sondern Eiskristalle.
Das Eis beginnt zu fallen. Lawinenähnlich sammelt der winzige Eiskristall bei seinem Weg durch die Wolken weiteres Material, verbrüdert sich mit Gleichgesinnten, mehrere Kristalle verhaken sich, werden schließlich zur Schneeflocke.
Frische Schneeflocken sind immer – immer – sechseckig. Das hat mit Chemie und der Struktur von Wassermolekülen zu tun. Was also so poetisch-leicht zur Erde schwebt, wird durch knallharte Naturgesetze gebildet: Aufgrund der Struktur der Wassermoleküle sind im Schneekristall nur Winkel von exakt 60° beziehungsweise 120° möglich. Zumindest in der Entstehungsphase.
Denn erstaunlicherweise heizen wachsende Schneekristalle: Sie geben beim Gefrieren Wärme ab. Wenn sie dann wieder schmelzen, zum Beispiel in wärmeren Luftschichten, können beim Herumwirbeln Zacken aus dem Sechseck brechen. Ihre Formenvielfalt übertrifft die weltweite Anzahl an Schneewörtern um ein Vielfaches.
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Als einer der ersten beschäftigte sich Johannes Kepler wissenschaftlich mit dem Phänomen Schneeflocken. Kepler war Mathematiker, Naturphilosoph, Theologe – ein Universalgenie. Bis heute kennt man ihn als Astronomen, der die Planetenbahnen um die Sonne beobachtete und neu berechnete. Doch er blickte nicht nur ins Universum, sondern auch durchs Mikroskop aufs gemeinhin Unsichtbare. 1611 veröffentlichte er ein Büchlein über die Entstehung der Schneeflocke, er vermutete richtig, dass deren Gestalt mit der Kälte zu tun habe, konnte dies aber noch nicht hinreichend begründen.
Weitere Fragen tauchten auf, als sich die Kryologie, die Wissenschaft von Schnee und Eis, allmählich zu formen begann und erforschte, warum etwa ein Schneeball zusammenpappt. Als Kontrahenten zweier verschiedener Meinungen traten in der Schneeballschlacht an: Michael Faraday, der sich mit elektrischer Spannung auskannte (der Faradaysche Käfig ist nach ihm benannt), sowie William Thomson, der spätere 1. Baron Kelvin, nach ihm heißt das Kelvin der thermodynamischen Temperaturskala.
Faraday vertrat die Ansicht, auf jedem Schneekristall liege ein dünner Film ungefrorener Materie, der zusammenfriere und den Schneeball auf diese Weise zusammenhalte, anders als bei einem Klumpen nassen Sandes. Thomson/Kelvin führte das Zusammenpappen hingegen auf sogenannte Druckaufschmelzung zurück: Unter Druck – dem Zusammenpressen des Schneeballs – schmelze der Schnee ein kleines bisschen, lasse der Druck nach, friere die Masse wieder ganz zusammen. Die These des Barons erwies sich als richtig. Lange meinte man, dass auch Schlittschuhlaufen auf diese Weise funktioniere: Durch den Druck der Kufen schmelze das Eis, wodurch ein Wassergleitfilm entstehe. Das allerdings ist nicht richtig, tatsächlich bringt die Reibungswärme der Kufen das Eis minimal zum Schmelzen.
Was den Schneeball betrifft, hätten sich die streitenden Physiker auch von den Linguisten inspirieren lassen können. Denn alle uns vertrauten Wörter für Schnee – vom althochdeutschen sneo übers altnordische snœr übers russische sneg – haben eine gemeinsame Wurzel: das indoeuropäische Wort sneigh*, und das bedeutet: sich zusammenballen, zusammenkleben.
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Der Forscher Johann Heinrich Flögel (1834-1918) war wohl einer der ersten, die Schneeflocken fotografierten. In einem Haus in Ahrensburg bei Hamburg fand man in den 1970er-Jahren historische Aufnahmen, bei denen sich erst 2010 herausstellte, dass sie unter dem Mikroskop fotografierte Schneekristalle (sowie aufgeschnittene Insektenhirne) zeigten. Auf einer der Aufnahmen hatte Flöge vermerkt, dass die fotografierte Flocke am 1. Februar 1879 gefallen sei und er, Flögel, die Aufnahme mit 46-facher Vergrößerung gemacht habe.
Um 1885 fotografiert Wilson Bentley 5000 Schneekristalle. Gibt es zwei Sandkörner, die identisch sind? Gibt es zwei Schneekristalle, die identisch sind? Eine kaum zu beantwortende, ins Philosophische ragende Frage.
Ich habe mir den Bildband des Schneeforschers Bentley besorgt, ich könnte stundenlang darin blättern, er hat etwas geradezu Meditatives, das ist Stoff für Süchtige wie mich: 226 Seiten mit Porträtaufnahmen nur von Schneekristallen und Eisblumen. Das Fotoalbum beginnt mit eher einfachen Sechsecken, geht über zu strukturierteren Formen und fein ziselierten, filigranen Kristallen und endet auf den letzten Seiten mit Eisblumen, wahren Winterschönheiten.
Das Erblühen dieser vergänglichen Kunstwerke erklärt W.J. Humphreys, der Herausgeber der Bentley-Fotos, ganz nüchtern wie folgt: Beim Fensterputzen entstehen feinste Kratzer, entlang derer die Frostblumen wachsen. Wissenschaft und Feldforschung zeigen sich am Winterfenster als Poesie.
Auf der ersten Seite des Buches ist der Fotograf selbst zu sehen, W.A. Bentley aus Jericho, Vermont. Er steht im Freien, vor einem weißen Holzhaus, vor sich aufgebaut eine Plattenkamera, die mit einem gestreiften Wolltuch abgedeckt ist. Er trägt einen hellen Hut und einen dunklen Wintermantel, auf dem sich einige Schneeflocken niedergelassen haben. Unverkennbar: sein buschiger Schnauzbart. Unter ihm lächelt Bentley still in sich hinein. Bestimmt hat er gerade wieder ein besonders hübsches Schneekristall vor die Linse bekommen.
Das wäre ein schöner Märchenstoff: Die böse Königstochter, die jeden köpfen lässt, der sie heiraten will, aber nicht in der Lage ist, ihr zwei identische Schneeflocken ins Schloss zu bringen. Ich hätte aber gerne ein Happy-End, eines, das in Gelächter und einer Schneeballschlacht des ganzen Hofstaats endet.
Aber Schnee sieht nicht nur verschieden aus, er fühlt sich auch immer wieder anders an. Der fluffige Pulverschnee in großer Kälte, der sich nicht komprimieren lässt, aus dem man keine Schneebälle formen kann, der sich mit dem Handschuh vom Autodach wischen lässt. Und am anderen Ende der Skala nasser Pappschnee, der das Schneeschippen zur Plackerei werden lässt, sich schwer auf Bäume legt, Hecken in die Knie zwingt. Sich aber fantastisch zum Schneemannbauen eignet.
Was ist der Unterschied zwischen Schnee und Eis? Das ist keine Scherzfrage, sondern ein Versuch, diese Materie des Winters zu ergründen. Dafür bin ich in die Schweiz gefahren, nach Interlaken. Die Stadt ist umgeben von Schnee und Eis; rund ums Jungfraujoch habe ich mich mit Menschen unterhalten, die eine besondere Nähe zum Eis in ihrem Leben haben.
Die Reise beginnt mit der spektakulären Fahrt der Jungfraujochbahn, 1912 eröffnet, eine touristische Attraktion. Auf der auf gut 2000 Meter gelegenen Kleinen Scheidegg gibt es eine Pause zum Umsteigen, umgeben von eisiger Kälte, eingeschüchtert durch den Blick auf die Eiger-Nordwand, ein schwarzes Monstrum, das sich hier in den Himmel streckt.
Die Bahn fährt wahrhaftig durch den Eiger hindurch, aufs 3454 Meter hohe Jungfraujoch. Ich hatte Glück, weil ich noch mit dem alten Zug fahren konnte; seit 2016 hält...