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E-Book

WIR

Die Zivilgesellschaft von morgen. Mit einem Vorwort von Udo Di Fabio

AutorWolfgang Picken
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641234409
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
»Mit zunehmender Geschwindigkeit läuft es auf den Kollaps der Gesellschaft zu.« (Wolfgang Picken)
»Es stimmt etwas nicht« - das Gefühl teilen viele. Aus der Nähe betrachtet zeigt sich: Nicht und nicht genügend wahrgenommene Problemfelder bergen für die freie Gesellschaft immer schwerer zu löschende Brandherde und eine Kollapsneigung der Systeme. Paare und Familien, Kinder und Alte, Flüchtlinge und Eliten stehen im Fokus dieses Debattenbuches: WIR. Die Krisensymptome werden klar benannt, die Tabus, die im »Weiter so« verharren lassen, gebrochen. Gegen die Resignation atmet jedes Kapitel die Energie und die kreative Dynamik eines neuen Miteinanders. Vor Ort beweist sich: Die Zivilgesellschaft kann lokal und übergreifend ihre Probleme lösen. Wenn WIR wollen, zusammenfinden und handeln.
  • Der Einzelne ist machtlos, dem WIR gelingt die Zukunft schon heute
  • Klartext zum Zustand der Gesellschaft
  • Plädoyer für eine neue Zivilgesellschaft
  • Handeln ist möglich: miteinander. Damit Menschen mit Würde leben


Dr. Wolfgang Picken, 1967-2024, Dr. phil., Studium der Katholischen Theologie, Politik-, Sozialwissenschaften und Philosophie, Promotion in Politischen Wissenschaften. Zusatzausbildung in Sterbe- und Trauerbegleitung. Er war seit 1993 Priester seit und seit 2013 leitender Pfarrer im Seelsorgebereich Bad Godesberg.

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Leseprobe

DIE ZIVILGESELLSCHAFT VON MORGEN!

Stimmt etwas nicht?

»Es stimmt etwas nicht.«

So empfinden viele. Sicher: Wir leben seit 70 Jahren in Frieden und Freiheit. Keine Generation vor uns hat das so erlebt. Durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung wird der Wohlstand vieler gemehrt. Die Sozialsysteme fangen weitgehend Risiken und Benachteiligungen auf. Aber: Es verbreitet sich auch verstärkt der Eindruck, dass in dieser Gesellschaft etwas gründlich schiefläuft. Nicht wenige befürchten einen nahenden Kollaps der Systeme, gar eine Gefährdung unserer politischen und sozialen Ordnung. Indizien dafür sind schnell bei der Hand: Die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Die demografische Entwicklung beunruhigt und ist kaum mehr umkehrbar. Die solidarischen Sicherungssysteme für Krankheit und Alter versagen zusehends. Ähnliches kündigt sich im Bereich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen an. Überall alarmierende Anzeichen einer Überforderung und keine Lösungen. Diese Indizien für eine Krise der modernen Gesellschaft sind den meisten nicht unbekannt. Aber vieles bleibt im Ungefähren. So gedeihen Unsicherheit und Zukunftsängste. Der Einzelne sieht sich selbstverständlich nicht in der Lage, an der Fülle und Schwere solcher Symptome, gar an ihren Ursachen etwas zu verändern. Auch die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, selbst die Eliten in der Gesellschaft, die meisten jedenfalls, weichen zurück. Man kennt keine Antworten auf die Kollaps-Symptome, weder in der Kranken- und Altenversorgung, noch auf die demografische Zuspitzung. Also redet man lieber nicht darüber. Man verharrt im vermeintlich Bewährten und betont in Wahlkämpfen beinahe trivial den Einsatz »Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben«. Es stimmt etwas nicht.

Sehr viele in unserer Gesellschaft haben das intuitiv verstanden. Nicht wenige vermuten, dass uns eine Korrektur nicht mehr rechtzeitig gelingen wird. Gestützt wird dieser Eindruck von scharfen, durchaus nachvollziehbaren und fundierten Analysen. Dass sich »das Gesellschaftssystem neu erfinden muss«, hat der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo Di Fabio, in seinem Buch »Schwankender Westen« (Beck, 2015) angemahnt. Mit einem ähnlichen Titel, »Zerbricht der Westen?« (Beck, 2017), kommt der Historiker Heinrich August Winkler zu dem Ergebnis, dass die »gegenwärtige Krise in Europa und Amerika« von grundsätzlicher Natur ist. Der Club of Rome und sein deutscher Ko-Präsident Ernst Ulrich von Weizsäcker haben mit dem neuen Bericht »Wir sind dran« (Gütersloher Verlagshaus, 2017) detailliert nachgewiesen, dass die Lebensart der westlichen Gesellschaften nicht nachhaltig ist. Er führt eindringlich aus, »was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen«. Legt man diese Analysen und Bewertungen zugrunde, kommt man zu dem Schluss, dass »das System«, das uns und befreundeten Völkern Freiheit und Wohlstand gebracht hat, insgesamt ernsthaft in Frage steht. Es ist nicht mehr an einigen abgenutzten Betriebselementen zu reparieren oder partiell zu reformieren. Die Grundlagen unserer demokratischen und sozialen Ordnung westlicher Prägung schwinden. Es geht um die Substanz! Es stimmt vieles nicht.

Das ist auch mein sicherer Eindruck. Er ergibt sich aus langen Beobachtungen und intensiven Erfahrungen. Es ist nicht allein das Resultat eines politikwissenschaftlichen Blicks auf die Situation. Es ist die fortwährende Berührung mit der Lebenssituation von Menschen in allen möglichen Altersphasen und Problemlagen, die für mich unübersehbar macht: Es gibt große Risse im Fundament unserer Gesellschaft. Diese betreffen den privaten Bereich wie Ehen und Familien. Sie betreffen aber genauso die öffentlichen Systeme Erziehung, Bildung, Integration von Migranten, Gesundheitswesen und Altenpflege. Überall erlebt man ein erschreckendes Maß an Überforderung, sodass die Funktionalität vieler gesellschaftlicher Abläufe ernsthaft in Frage gestellt ist. Nicht selten ist sie jetzt schon nicht mehr gegeben. Das ist mehr als ein Hinweis auf einen technischen Fehler im System. Das bedeutet eine zunehmende Entwürdigung von Menschen, wenn sie auf soziale Hilfestellungen angewiesen sind, die nicht mehr oder nur noch mangelhaft funktionieren. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« – dieser Kern des europäischen Menschenbildes und absoluter Maßstab unserer demokratischen Ordnung – ist faktisch längst angegriffen. Ich teile daher die Einschätzung, dass wir uns mit zunehmender Geschwindigkeit auf einen Kollaps der Systeme und auf einen Zusammenbruch der Gesellschaft hinbewegen.

Was der Intuition und Befürchtung der einen und der Erkenntnis, Systemanalyse und Warnung der anderen dringend folgen müsste, wäre eine breite und tiefgehende gesellschaftliche Debatte. Es geht schließlich um den Fortbestand unserer Gesellschaft. Da wirkt es geradezu symptomatisch, dass eine solche Debatte nur gelegentlich in den Feuilletons einzelner Zeitungen stattfindet. Folgenlos, selbstverständlich. Die Intensität dieser Realitätsverweigerung schockiert. Sie hat Gründe. Erstens ist es kaum möglich, den Analysen ebenso fundierte Lösungsvorschläge folgen zu lassen. Es gibt nicht die eine Idee, die geeignet wäre, die grundlegenden Probleme abzustellen. Zweitens ist nicht klar, ob es überhaupt noch eine Lösung gibt, die einen Kollaps verhindern könnte. Und drittens stellt niemand gerne ein System als Ganzes, komplett und radikal, in Frage.

Unbequeme Fragen in noch bequemer Lage

Wenn die Feststellung nicht trügt, dass etwas mit unserer Art zu leben nicht stimmt, bleibt uns eine kritische Selbstbefragung und Suche nach Reaktionen nicht erspart! Es braucht zuerst eine Selbstvergewisserung darüber, was die Grundlagen und Fundamente unserer Gesellschaft sind. Wir dürfen kaum mehr von einem gleichen Wissensstand ausgehen! Dann wird zu fragen sein, in welchem Zustand sich diese Fundamente befinden. Wo zeigen sie Risse? Wo versagen die Solidarsysteme und warum? Welche Folgen hat das für den Einzelnen und die Gesellschaft? Welche Veränderungen sind anzustreben, wie sind sie umzusetzen und mit wem?

Bei der Diskussion dieser Fragen helfen nur nüchterne und ehrliche Analysen und Zustandsberichte. Beschönigungen, die den Ernst der Lage verschleiern und den Bürger in Sicherheit wiegen wollen, schaden jeder konstruktiven und lösungsorientierten Debatte. Sie blockieren die Bereitschaft des Bürgers, sich an Veränderungen zu beteiligen.

Mit der Krise des »Klimawandels« gewinnen wir einen Eindruck davon, wie schwer eine solche Debatte so zu führen ist, dass sie zu einer merkbaren Veränderung im Verhalten führt. Das gilt für die Einzelnen wie für die Gesellschaft. Obwohl das Phänomen seit den 1960er Jahren bekannt ist und seit den 1990er Jahren als wissenschaftlich belegt gilt, ist es noch nicht wirklich gelungen, international, national und lokal zu ausreichend wirksamen Übereinkünften zu kommen und sie umzusetzen – wider die eigene Einsicht. Erreicht wurde allerdings, dass die allermeisten dies Problem als ernsthaft und dringend einschätzen.

Über die fatalen Zustände in den gesellschaftstragenden Systemen wissen wir sehr viel weniger und sprechen wir seltener als über den Klimawandel. Entsprechend sind angemessene Überlegungen und Reformprozesse nicht festzustellen. Dabei betreffen diese Krisen die Menschen in ihrer unmittelbaren Lebenssituation und Nähe. Fast wirkt es so, als wollten wir nicht hinschauen, weil wir nur sehr schwer die Feststellung zulassen könnten, dass unser moderner Lebensentwurf Fehler hat, und zwar erhebliche. Wie auch immer: Wegsehen und Verharren sind zutiefst menschliche Verhaltensmuster. Sie machen das Leben heute erträglicher. Und was morgen kommt – darauf reagieren wir dann.

Mit realistischem Pessimismus und begründetem Optimismus

Wegsehen und Verharren sind keine Optionen, wenn es um schwerwiegende Probleme und möglicherweise folgenschwere Prozesse geht. Eigentlich stehen sie dem aufgeklärten Menschen grundsätzlich nicht gut zu Gesicht. Der Blick auf die Realität ist die entscheidende Voraussetzung dafür, Alternativen und Lösungen zu entwickeln. Wenn die gegenwärtige Lage bereits manche in ihrer Würde berührt und unser System perspektivisch als Ganzes in Bedrängnis bringen kann, ist die Lage ernst genug. Dann muss es zu einer ehrlichen Auseinandersetzung kommen.

Es wird also im Folgenden ein Blick auf die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft geworfen, die auf den Kollaps zusteuern. Dabei lege ich die Zustände in den gesellschaftlichen Subsystemen und in den entsprechenden Einrichtungen vor Ort zugrunde. Ich sehe auf Regeln und Gewohnheiten in meinem näheren Umfeld. Die Beobachtungen sind nicht speziell, sondern stellvertretend und typisch. Die Diagnosen sind folglich übertragbar.

Der realistische Blick auf die Lage der Gesellschaft stimmt zunächst pessimistisch. Die Diagnosen sind verheerend. Aber sie sind nicht vollkommen aussichtslos. Auch das ist eine Erfahrung im nahen Umfeld aus Initiativen und Experimenten. Wenn Menschen ein neues Verständnis von Zivilgesellschaft entwickeln und sich als WIR formieren – hier und anderswo –, sind Veränderungen möglich. Es gibt Anlass auch zu vorsichtigem Optimismus. Das Hinsehen und Sichbewegen lohnen sich.

Kollabierende Systeme und das neue WIR

Untersuchungen an der Statik der Gesellschaft müssen an den Fundamenten beginnen und dort ansetzen, wo Menschen naturgemäß auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Sanierungen ebenso. Ein Kurzbefund vorab:

  • Ehe, Familie,...
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