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MUT, AUTHENTISCH ZU SEIN
Die Angst vor dem Ja
Es war ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag im Sommer 1993, der mein Leben veränderte. Ich saß in meinem Büro im fünften Stock an meinem Schreibtisch und arbeitete an einem PR-Konzept. Mein Blick glitt über die Dächer von Eimsbüttel, in der Ferne die Silhouette der Nikolaikirche in der Hamburger Innenstadt, als das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte. Am anderen Ende der Leitung ein Kollege, der mich wieder zurück in den Beiersdorf-Alltag holte. Er stellte sich kurz vor und fragte: »Vielleicht erinnern Sie sich an mich?«
Ich schwieg.
»Wir haben uns vor zwei Jahren zufällig in der Sportgemeinschaft bei Beiersdorf getroffen. Sie erkundigten sich, ob es eine Tanzsportabteilung gäbe und vielleicht auch gleich einen Tanzpartner dazu. Mir gefiel Ihre direkte Art, diese kurze Begegnung mit Ihnen blieb mir in Erinnerung.« Er hielt inne.
»Das freut mich«, entgegnete ich in der kurzen Pause.
»Darf ich gleich auf den Punkt kommen?«, fragte er und fuhr, ohne meine Antwort abzuwarten, fort: »Wenn ich mit anderen Kollegen über meine anstehende Nachfolge im Aufsichtsrat spreche, fällt immer wieder Ihr Name. Die Kreativität, mit der Sie Projekte für die Mitarbeiter anpacken und umsetzen, wird sehr geschätzt, weil es Ihnen offensichtlich gelingt, diese Ideen dann auch beim Vorstand durchzusetzen. Also, Frau Rousseau«, konkretisierte er schließlich den Grund seines Anrufs, »ich bin Mitglied im Beiersdorf-Aufsichtsrat und würde Sie gern näher kennenlernen. Bei Beiersdorf steht demnächst eine Aufsichtsratswahl an, daher möchte ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, als Arbeitnehmerin zu kandidieren?«
Auch wenn ich mir nichts anmerken ließ, zuckte ich innerlich zusammen. Hatte er mich eben tatsächlich gefragt, ob ich mich für ein Mandat im Beiersdorf-Aufsichtsrat interessiere? Einerseits fühlte ich mich geschmeichelt, dass mich jemand für eine so große Aufgabe in Erwägung zog. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume und meine Hände wurden feucht: Meinte er wirklich mich? Was würden mein Chef, meine Kolleginnen und Kollegen sagen? Wie würde mein Mann darauf reagieren? Woher sollte ich die Zeit für eine zusätzliche Aufgabe nehmen? Kannte er mich und meinen Werdegang überhaupt? Brachte ich die notwendigen Voraussetzungen mit? War ich gut genug? Ich spürte die Last der Unsicherheit, die Angst vor der Verantwortung. Wollte ich wirklich an exponierter Stelle sichtbar werden? Das Risiko eingehen, zu scheitern? War ich bereit für eine solche Aufgabe an der Spitze eines DAX-Konzerns? Hatte ich als Frau in einem von Männern dominierten Feld überhaupt eine Chance? Oder würde ich mich kräftig blamieren? All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung auf eine Antwort wartete. Eigentlich wurde mir gerade eine große Herausforderung angeboten, die meine Karriere fördern konnte und mir Gelegenheit gab, mein Können und Know-how zu zeigen. Woher kam dieses Zögern?
Die eigene Geschichte verstehen
Meine Startbedingungen ins Leben ließen nicht erwarten, dass mir jemals jemand die Frage stellen würde, ob ich mich für die Kandidatur in einen Aufsichtsrat interessieren könnte. Mir rauschte meine eigene Geschichte durch den Kopf. Ich stammte aus einfachen Verhältnissen: Meine Mutter war im Alter von dreizehn Jahren mit ihrer Mutter und Geschwistern 1945 auf Schiffen über die Ostsee von Pommern aus geflohen. Die Familie fand in Schleswig-Holstein ein neues Zuhause. Dort lernte meine Mutter 1952 meinen Vater kennen. Sie arbeitete als gelernte Näherin, er als Lokführer.
An einem kalten Wintertag 1955 wurde ich als erste Tochter in einem Arbeiterviertel in Neumünster geboren. Wenige Wochen nach meiner Geburt nahm meine Mutter ihren Beruf wieder auf, um die Familie finanziell zu unterstützen. Meine ersten vier Lebensjahre verbrachte ich von Montag bis Freitag in der Obhut meiner Großeltern väterlicherseits. Nur die Wochenenden verbrachte ich gemeinsam mit meinen Eltern.
Ich wuchs zwischen zwei Welten auf: Auf der einen Seite war da die Welt der stolzen Großeltern, die ihre erste Enkelin mit Zuneigung überschütteten und verwöhnten. Sie schenkten mir Liebe, zeigten Verständnis für mich. Wir spielten miteinander, lachten und tobten. Ihre Fröhlichkeit und Zärtlichkeit gaben mir ein tiefes Gefühl von Geborgenheit, ein Zuhause. Diese Zeit zählt zu meinen schönsten Erinnerungen an eine fröhliche und unbeschwerte Kindheit. Auf der anderen Seite gab es das Zusammensein mit meiner Mutter und meinem Vater am Wochenende, und das wich so sehr von dem Leben bei meinen Großeltern ab, dass ich mich bei ihnen unwohl fühlte und mich freute, wenn es wieder Montag war.
Meine Mutter stammte aus einer armen, kinderreichen Familie, Zucht und Ordnung bestimmten ihre Erziehung. In ihrer Kindheit ging es streng und hart zu, nach dem Motto: »Du machst, was ich dir sage.« 1959, mit der Geburt meines Bruders, hörte meine Mutter auf zu arbeiten, blieb zu Hause und kümmerte sich um uns Kinder. Die vielleicht glücklichste Zeit meiner Kindheit bei meinen Großeltern ging damit zu Ende. Für mich fühlte es sich nach einer Trennung an, so, als ob ich meine eigentlichen Eltern aufgeben musste und neue bekommen hätte. Von da ab besuchte ich die Großeltern so oft es möglich war; später verbrachte ich immer meine Ferien bei ihnen.
Ich erinnere mich an einen Tag im Mai 1959. Mein kleiner Bruder Kai-Uwe war drei Monate alt, schlief in seiner Wiege. Meine Mutter hatte Besuch von einer Freundin. Die beiden jungen Frauen saßen an unserem Wohnzimmertisch, Kaffeeduft erfüllte den Raum. Ich hockte auf dem Fußboden hinter dem schweren Ohrensessel, meinem Lieblingsort. Der dunkelbraune Sessel gab mir die Möglichkeit, unbeobachtet zu spielen; ich empfand dort Geborgenheit, Intimität. Stundenlang konnte ich hinter dem Sessel versteckt zubringen, meist saß ich still mit meiner Puppe Klara im Arm und kuschelte mit ihr.
An diesem Tag zog ich Klara gerade ein neues Kleid an, als ich meine Mutter sagen hörte: »Also, Kai-Uwe war bei seiner Geburt mit seinen roten Haaren, den Sommersprossen und seinem runden Gesicht eher ein hässliches Kind. Ganz im Gegensatz zu Manuela, sie war ein wunderhübsches Mädchen.« Es folgte eine Pause, dann sprach meine Mutter weiter: »Die Geburt von Manuela war für mich eine herbe Enttäuschung. Ich hatte mir so sehr einen Jungen gewünscht.«
»Du hast doch jetzt beides, einen Sohn und eine Tochter«, entgegnete die Freundin.
»Ja sicher, aber Jungs haben es besser. Ich habe meine Brüder immer darum beneidet, dass sie in unserer Familie mehr durften als wir Mädchen. Die Jungs hatten mehr Rechte und Freiheiten als meine Schwestern und ich. Wir Mädchen mussten schon sehr früh Aufgaben übernehmen, mussten bei der Wäsche helfen, putzen, einkaufen, kochen oder auf die jüngeren Geschwister aufpassen. Die Jungs hatten viel weniger Pflichten, auch durften sie uns Schwestern sagen, was wir zu tun oder zu lassen hatten. Ich wollte kein Mädchen sein.«
Die Worte meiner Mutter, die ich hinter meinem Sessel lauschend aufschnappte, sollten mich mein Leben lang begleiten. Ihre persönlichen Erfahrungen waren für sie unverrückbare Tatsachen. Und das gab sie an mich weiter. Sie erzog mich so, wie sie es in ihrer Familie erlebt hatte, ohne jede Motivation und Vorstellung, dies jemals infrage zu stellen.
Meine Mutter vermittelte mir, dass das Leben kein Spaß ist, sondern ein hartes Brot, das aus Disziplin, Fleiß, Genügsamkeit und Gehorsam gebacken wird. Freude und Sorglosigkeit zählten nicht zu ihren wesentlichen Merkmalen. Sie war sehr streng und ungeduldig. Als kleines Mädchen fühlte ich mich oft dumm, machte scheinbar alles verkehrt. Egal, wie sehr ich mich bemühte, die Dinge gewissenhaft zu erledigen, ich konnte es ihr nie recht machen. Das erdrückte mich, und mein Körper signalisierte mir ganz deutlich: Das will ich nicht, das mag ich nicht, das gefällt mir nicht. Bei Oma und Opa ist es doch ganz anders. Meine Mutter ließ keinen Platz für andere Ansichten, häufig hatte ich das Gefühl, dass meine Meinung nichts zählte. Was war falsch? Was war richtig?
Als kleines Mädchen quälte mich nachts ein immer wiederkehrender Albtraum. Das gemeinsame Kinderzimmer mit meinem Bruder verwandelte sich in eine Flammenhölle. Die Feuerwehr kam durchs Fenster. Einer der Feuerwehrmänner rief: »Hier liegt ein Kind im Bett, ein Junge.« Er packte meinen Bruder und trug ihn hinaus. Ich schlief in meinem Klappbett. In meinem Traum hatte sich das Bett durch die Hitze des Feuers nach oben geklappt, so wurde ich einfach übersehen. Schweißgebadet und voller Panik wachte ich auf, weinte und schlich ins Schlafzimmer meiner Eltern. Ich wollte zu meiner Mutter ins Bett. Sie wies mich jedoch ab und schickte mich zurück. Angsterfüllt kletterte ich in das Bett meines Bruders, in der Gewissheit, ihn würden sie retten, dort würde die Feuerwehr auch mich nicht übersehen können.
Heute weiß ich, dass meine Mutter auf ihre Art genauso hilflos war wie ich. Sie setzte aus ihrer Sicht nur die Vorstellung um, die ihr von ihrer Mutter, durch ihre Erziehung mit auf den Weg gegeben wurde. Mädchen sollten fügsam, brav, demütig, hilfsbereit und dabei noch anmutig und hübsch sein. Ob sie die Absicht hegte, meinen Willen zu brechen, um über mich bestimmen zu können, bezweifle ich. Sie wollte nur alles richtig machen. Sie erzog...