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Wir in Europa

Kollektive Identität und Demokratie in der Europäischen Union

AutorViktoria Kaina
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl268 Seiten
ISBN9783531916378
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis40,00 EUR
Die Europäische Union sieht stürmischen Zeiten entgegen. Diese Prognose stützt sich auf eine widersprüchliche Beobachtung: Den meisten Bürgerinnen und Bürgern ist Europa gleichgültig, gleichzeitig macht es ihnen aber immer mehr aus, was europäisch entschieden und auf nationalstaatlicher Ebene umgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund befasst sich das Buch mit den Chancen und Schwierigkeiten bei der Herausbildung eines Gemeinschaftsbewusstseins der Europäer unter den Bedingungen eines erodierenden 'permissive consensus' in der EU-Bevölkerung. Neben empirischen Befunden auf Basis des Eurobarometers bietet die Studie unter anderem eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Begriff der kollektiven Identität sowie eine Verknüpfung neo-institutionalistischer Erkenntnisinteressen mit den Forschungsperspektiven der analytischen Vertrauensforschung.

Dr. Viktoria Kaina ist Privatdozentin für Politikwissenschaft an der Universität Potsdam.

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Leseprobe
6 Gegen die Zeit – Die EU vor einer bewegten Zukunft (S. 209-210)

Wenn ich abschließend die zentralen Ergebnisse meiner theoretischen Überlegungen und empirischen Analysen rekapituliere, drängt sich eine unbequeme Schlussfolgerung auf: Die Europäische Union sieht sich offenbar mit einem zeitlichen Problem konfrontiert, und dies in zweifacher Hinsicht. Den einen Aspekt will ich Dilemma der gegensätzlichen Geschwindigkeiten nennen. Die zweite Problemdimension bezeichne ich als Dilemma der Gleichzeitigkeit. Das Dilemma der gegensätzlichen Geschwindigkeiten sehe ich durch inkonsistente Zeitfaktoren im europäischen Integrationsprozess verursacht.

Demnach ist die Entwicklung der Europäischen Union den Voraussetzungen ihres künftigen Erfolges und den Bedingungen ihrer Bestandssicherheit teilweise vorausgeeilt. Das Tempo in der Gestaltung der elementaren Rahmenbedingungen des vorangetriebenen europäischen Integrationsprozesses konnte nicht Schritt halten mit der Geschwindigkeit geschaffener Tatsachen. Aus diesem Grund werden die Ergebnisse europapolitischen Entscheidungshandelns in der Gegenwart mit wachsenden Risiken in der Zukunft belastet. Das betrifft zum einen die Ausdehnung der Europäischen Union auf nunmehr 27 Mitgliedstaaten mit einer Erweiterungsperspektive auf mehr als 30 EU-Mitglieder.

Ob die Europäische Union die institutionellen, materiellen und kulturellen Voraussetzungen dafür besitzt, die sichtbaren und noch zu erwartenden Konflikte in einer größer und heterogener gewordenen Union weiterhin effektiv zu lösen und zu verarbeiten, ist zweifelhaft, zumindest umstritten. Zum anderen sehe ich aber auch die Vertiefung der EU im Dilemma der gegensätzlichen Geschwindigkeiten gefangen. Die Voraussetzungen, die nötig sind, um den erreichten Grad an Integration auf Dauer zu stellen und die EU vor Desintegrationstendenzen zu schützen, müssen sich zu einem Teil erst noch in langfristigen und unkalkulierbaren Prozessen supranationaler kollektiver Identitätsbildungsprozesse entwickeln, zu einem anderen Teil müssen sich diese Voraussetzungen in einem für die Bevölkerungsakzeptanz und die Problemlösungsfähigkeit der EU ebenso schwierigen wie unsicheren Umfeld bewähren.

Wenn sich diese These in weiterer Forschung untermauern lässt, wenn es also richtig sein sollte, dass die europäische Integration schneller vorangetrieben wurde als die Bedingungen der künftigen Funktionstüchtigkeit und Erfolgsfähigkeit der EU geschaffen werden konnten, dann haben wir in der kommenden Zeit harte und vermutlich zunehmende Auseinandersetzungen innerhalb der EU und zwischen ihren Mitgliedern zu erwarten. Das andere Zeitproblem der Europäischen Union, das Dilemma der Gleichzeitigkeit, steht mit der Beziehung zwischen einer supranationalen kollektiven Identitätsbildung und der Demokratisierung der Europäischen Union im Zusammenhang (vgl. Kap. 4 und 5).

Einerseits entzaubern die bisherigen empirischen Befunde über Substanz und Ausmaß einer gemeinsamen supranationalen kollektiven Identität unter den Europäern all zu optimistische Einschätzungen entstehender kollektiver Identifikationsbezüge auf supranationaler Ebene wie sie überzogene Erwartungen an ein europäisches Gemeinschaftsbewusstsein relativieren (vgl. Kap. 3.2 und 3.3). Die Empirie zeichnet demnach das ungeschönte Bild fehlender oder nur spärlicher Fortschritte, die bei der Herausbildung eines europäischen Gemeinsamkeitsglaubens in den Bevölkerungen der EU-Staaten bis jetzt erreicht werden konnten.

Dies gilt jedenfalls in dem Maße, in dem sich nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung kaum zuverlässige und valide Belege für eine partiell vorhandene oder im Entstehen begriffene Wir-Identität der europäischen Bürgerinnen und Bürger nachweisen lassen. Der Mangel an einem supranationalen, europäischen Gemeinschaftsbewusstsein in den Bevölkerungen der EU-Mitgliedstaaten, wie er vorerst konstatiert werden muss, erschwert jedoch eine Demokratisierung der EU, weil die „Zumutungen" und „Bürden" der Demokratie ohne einen robusten Gemeinsamkeitsglauben der Bürgerinnen und Bürger nicht so ohne Weiteres verarbeitet werden können. Andererseits hat die europäische Integration ein Ausmaß erreicht, das die Zustimmung der Bevölkerung immer dringlicher erscheinen lässt und Legitimationsprobleme ins Zentrum der Debatte um die Zukunft des europäischen Einigungsprojektes stellt.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt5
Vorwort7
1 Einleitung9
2 Was ist das Problem?14
3 Kollektive Identität und europäisches Einigungswerk – Konzepte und empirische Befunde38
4 Kollektive Identität und europäisches Demokratiedefizit148
5 Vertrauen, demokratische Institutionen und europäisches Gemeinschaftsbewusstsein174
6 Gegen die Zeit – Die EU vor einer bewegten Zukunft207
Literaturverzeichnis210
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen236
Anhang241

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