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»Wir haben zwar Geduld, aber keine Zeit«

Eine Ethnografie subjektivierter Arbeitsstile in der ökonomisierten Altenpflege

AutorPetra Schweiger
VerlagHerbert Utz Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl122 Seiten
ISBN9783831640317
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Ein ursprünglich familiär geführtes Münchner Altenpflegeheim wird von einem großen kirchlichen Pflegeheimbetreiber übernommen und zu einem modernen Dienstleistungsbetrieb umstrukturiert. Das bedeutet sowohl für die Pflegebedürftigen, deren Angehörige sowie das Personal einen Einschnitt: Vor allem die Pflegekräfte werden mit einer Vielzahl struktureller Änderungen in ihrem Arbeitsalltag konfrontiert. So beinhaltet dieser Strukturwandel die Rationierung der personalen und materiellen Ausstattung sowie eine stärkere Konzentration auf die Planung und Kontrolle der Pflegearbeit. Doch nicht nur innerhalb der im Heim angewandten Pflegepraktiken vollzieht sich ein Wandel. Auch auf diskursiver Ebene stehen plötzlich selbstverständliche Pflegeleitbilder zur Disposition und müssen neu verhandelt werden.
Wie gestaltet sich in diesem Kontext die Arbeit in einem Altenpflegeheim aus Sicht des Personals? Wie verbinden die dort Tätigen ihre Vorstellungen von einer »guten Pflege« mit den ökonomisierten Arbeitsbedingungen? Worauf gründen ihre Pflegeparadigmen? Wie wandelt sich die Arbeit im Altenpflegeheim unter den Bedingungen spätmoderner Ökonomisierungszwänge, die sich für die Pflegenden vor allem als Arbeitsverdichtung bemerkbar machen? Und welche Strategien entwickeln diese, um mit den Konflikten, die in einer solchen Gemengelage entstehen, umzugehen?
Diesen Fragen wird in einer ethnografischen Untersuchung des Arbeitsalltags im Altenpflegeheim nachgegangen. Aktuelle Ansätze der kulturwissenschaftlichen Arbeitsforschung kommen dabei zur Anwendung in Verbindung mit Konzepten der subjektorientierten Arbeits- und Industriesoziologie.

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Leseprobe
6. Konflikte in der pflegerischen Praxis (S. 86-87)

In diesem Kapitel sollen Situationen und Aussagen der Pflegenden aus dem Arbeitsalltag, in denen Pflegevorstellungen und Ökonomie aufeinander treffen, für sich selbst sprechen. Den Äußerungen von verschiedenen Pflegekräften zur Zeitknappheit und zum Entscheidungskonflikt zwischen Pflegevorstellungen und Arbeitsbewältigung möchte ich einen Ausschnitt aus einer teilnehmenden Beobachtung im Spätdienst der Pflegeschülerin Lena voranstellen.

6.1 Lenas Spätdienst


Ich begleite Lena im Spätdienst auf Station eins. Während sie am späten Nachmittag im Stationszimmer Insulin-Injektionen vorbereitet, fällt mein Blick auf die Kommode, auf der das Pflegekonzept des Heims aufgeschlagen liegt. Auf der Seite ist zu lesen: „Unsere Bewohner individuell zu pflegen und zu betreuen heißt, den Eigenheiten und der Situation des Bewohners entgegenzukommen und nicht, dass die Pflegekraft individuelle Praktiken und Techniken beibehält“ (Pflegekonzept Sophien-Heim 2004).

An die Pinnwand daneben hat die Heimleiterin ein DIN A 4-Blatt geheftet, auf dem sie ihr Personal in wohlwollender Absicht zu Selbstreflexion und entspanntem Innehalten während der Arbeit einlädt: „Gutschein, sich hinzusetzen und durchzuatmen und in sich zu gehen“. Beide Texte – der Pflegeanspruch, sich selbst beziehungsweise seine individuellen Praktiken zurückzunehmen und ganz die Bedürfnisse des Bewohners in den Mittelpunkt zu stellen, und daneben die Aufforderung, sich auszuruhen und in sich zu gehen – erscheinen mir widersprüchlich und verwirrend. Wie soll man in sich gehen und gleichzeitig für die ununterbrochen vorhandenen Bewohnerbedürfnisse zuständig sein?

Kurz vor dem Abendessen, bemerkt Lena gelassen, als sie ansetzt, einer Bewohnerin Insulin zu spritzen und im selben Moment die Rufglocke ertönt: „Wichtig ist, die Arbeit locker zu erledigen, die Glocke ruhig auch mal piepsen lassen.“ Die schriftlichen Aufforderungen im Hinterkopf wird mir klar, dass es Lena in diesem Moment weder um Selbstreflexion und eigenes Wohlbefinden noch um die Beachtung der individuellen Bedürfnisse der Bewohner geht. Sie will einfach ihre Arbeit schaffen. Ihre gelassene Haltung hilft ihr dabei. Lenas Einstellung wird später noch einmal auf die Probe gestellt, als sie die elf Bewohner ihres Bereichs in die Zimmer begleitet und ins Bett bringt. Bei den ersten drei Bewohnern verläuft alles reibungslos.

Sie können beim Aufstehen mithelfen und, indem sie sich festhalten, am Bett stehen. Beim Wechseln der Kleidung, Anlegen der Einlage und ins Bett legen brauchen sie aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen Anleitung und Hilfe. Die vierte Bewohnerin, die schwer pflegebedürftige Frau Dreher, kann nicht sprechen und nur einen Arm bewegen. Lena dreht sie auf die rechte Körperseite und unterlagert die Gliedmaßen mit Kissen. Währenddessen spricht sie zu ihr und ihrem Ehemann, der in einem Sessel neben dem Bett sitzt. Dann eilt sie zu den nächsten beiden, Frau Rahm und Herrn Dinkel.

Beide haben sich schon selbst umgezogen und brauchen nur noch Hilfe beim Wechseln der Einlage und um sich ins Bett zu legen. Im nächsten Zimmer dagegen will sich die demente Frau Gramser trotz Lenas Überredungskünsten nicht umziehen. Sie fragt in einem fort: „Warum“. Lena lässt sie nach gescheiterten Überzeugungsversuchen schließlich in ihrem Sessel sitzen und geht zu Frau Hecht. Diese treffen wir mit einem breiten Grinsen auf dem Bett liegend und noch nicht umgezogen an: Ihre gesamte Kleidung sowie ihre Schuhe und die Bettwäsche sind durchnässt."
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Einleitung10
1. Theoretische Ansätze und Verortung12
1.1 Altenpflege in transdisziplinärer Perspektive12
1.2 Altenpflegearbeit als Lebenswelt17
2. Entstehung und aktuelle Situation der stationären Altenpflege21
2.1 Vom christlichen Dienst zum Dienstleistungsberuf21
2.2 Stationäre Altenpflege heute: Kampf um Auf- oder Abstieg24
2.3 Die Pflegenden im Sophien-Heim26
2.4 Zusammenfassung34
3. Methodisches Vorgehen, Reflexion und die eigene Rolle im Feld35
4. Ökonomisierte Arbeitsbedingungen in der stationären Altenpflege42
4.1 Stationäre Altenpflege im Spannungsfeld staatlicher und ökonomischer Vorgaben42
4.2 Exkurs: Ökonomisierung der Pflege im Spiegel der Fachsprache51
4.3 Auswirkungen der Ökonomisierung auf die Arbeitsrealität der Pflegenden52
4.4 Zusammenfassung62
5. Vorstellungen von einer „guten Altenpflege“63
5.1 Offizielle Pflegeleitbilder63
5.2 Pflegeanspruch des Sophien-Heims69
5.3 Vorstellungen der Pflegenden77
5.4 Konflikte um Pflegevorstellungen81
5.5 Zusammenfassung85
6. Konflikte in der pflegerischen Praxis87
6.1 Lenas Spätdienst87
6.2 Grenzgänge89
7. Strategien der Pflegenden94
7.1 Effizienz, Regeneration und soziale Beziehungen96
7.2 Arbeitsstile in der stationären Altenpflege99
Schlussbetrachtung106
Literaturverzeichnis111

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