Vorwort
Als mein erstes Buch über die Massenvergewaltigungen in Deutschland nach 1945 erschien, wurde ich nach Köln in die Talkshow »Maischberger« eingeladen. Wir Gäste, die wir auf den Sofas im roten Fernsehstudio Platz nehmen durften, waren eine bunte Gesellschaft: Erhard Eppler, Jahrgang 1926, der noch als junger Mensch in der Wehrmacht gekämpft hat, Niklas Frank, Jahrgang 1939, dessen Vater Hans Frank als ein Haupttäter des NS-Regimes hingerichtet wurde, Nico Hofmann, Jahrgang 1959, der die von ihm verfilmte Geschichte eines dreijährigen jüdischen Jungen im KZ Buchenwald erzählte, und Elfriede Seltenheim, Jahrgang 1931, die als Teenagerin nach Kriegsende von alliierten Soldaten vergewaltigt worden war. Siebzig Minuten lang sprachen wir eher nach- als miteinander, doch in einem Punkt waren wir uns alle einig: Die Geschichte ist nicht vergangen. Unabhängig davon, wie alt sie bei Kriegsende gewesen waren, auf welcher Seite der Front sie standen, ob sie verfolgt worden waren oder zu den Verfolgern gehörten – die Jahre zwischen 1933 und 1945 haben bei vielen Deutschen tiefe Spuren hinterlassen. Bis heute.
Auch Karl T. versuchte an diesem Abend, der Sendung mit dem wuchtigen Titel »Das Erbe von 1945 – deutsche Schuld, deutsche Opfer« vor dem Fernseher zu folgen. Der Anspruch, durch die Auswahl der Themen und Gesprächspartner sowohl der deutschen Schuld als auch den deutschen Opfern gerecht zu werden, ließ ihn jedoch ratlos zurück. Am nächsten Tag setzte sich der Finanzberater an den Computer und schrieb den Verantwortlichen beim Sender einen Brief. Leider, meinte er, sei es doch wieder nur ein pflichtschuldiger Durchlauf durch die deutsche Schuld- und Opferdiskussion geworden. Erhofft habe er sich etwas ganz anderes, erhofft habe er sich Antworten auf die Frage, was diese heillose Geschichte mit den Deutschen gemacht habe. »Aus mir hat sie sehr viel gemacht, bewegt mich heute noch, und es gibt eine Menge anderer, denen es ähnlich geht. Wir haben jetzt nämlich diese Bilder im Kopf!«
Als Sohn einer Frau, die bei Kriegsende in Berlin elf Mal von Angehörigen der Roten Armee vergewaltigt worden war, fragte sich Karl T. zurecht, wie er die ganz unterschiedlichen Geschehnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs für sich in Einklang bringen sollte, von der Shoah über die Leiden der Soldaten an der Front bis zur sexuellen Gewalt durch die Siegertruppen. Ich kann seine Überforderung verstehen, weshalb ich ihn auch gebeten habe, mir ein Interview zu seiner Lebensgeschichte zu geben. Dieses Buch soll Menschen wie ihm, den Kindern der Gewalt, Raum für ihre Bilder im Kopf schenken.
Doch auch wenn hier die Nachfahren der deutschen Kriegsgeneration im Mittelpunkt stehen, heißt das nicht, dass die Leiden der primären Opfer des Nationalsozialismus und des deutschen Vernichtungskrieges in den Hintergrund treten dürfen. Je länger die Zeit seit 1945 fortschreitet und je weiter die Forschung vorankommt, desto mehr müssen wir lernen, auch mit den Ambivalenzen der Erinnerung umzugehen. Es ist eben unmöglich, die Jahre zwischen 1933 und 1945 zu rekonstruieren, ohne die Verantwortung der Deutschen, allen voran an der Ermordung der europäischen Juden, anzuerkennen. Es ist aber auch nötig, den Folgen gewaltsamer Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse auf Seiten der nichtverfolgten Deutschen Rechnung zu tragen. Der Umgang mit der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg fordert einen nie endenden Lernprozess, der uns befähigt, die Spannung und Unbequemlichkeit auszuhalten, dass wir die Menschen von damals nicht immer ordentlich in Täter und Opfer unterteilen können.
Dieser Prozess wurde und wird neben den individuellen Variablen – also wie schwer betroffen, wie verletzlich oder robust die betreffende Person ist – auch von der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Probleme beeinflusst. Alle, die den Krieg überlebt haben, haben ihn auf unterschiedlichste Art und Weise »metabolisiert«, wie es die bekannte Traumapsychologin Luise Reddemann ausdrückt.1 Zu verschiedenen Zeiten, aufgrund wechselnder politischer Bedingungen oder gesellschaftlicher Anlässe, treten bestimmte Themen und mit ihnen Verwundungen in den Vordergrund, und das wirkt sich wiederum auf die Verarbeitungsweisen der Betroffenen aus: Für die Deutschen, die nicht unter der Verfolgung im Nationalsozialismus zu leiden gehabt hatten, standen in den ersten Jahren nach dem Krieg die eigenen Verwundungen im Mittelpunkt. Dabei waren auch Verdrängung und Selbstmitleid mit im Spiel. Später, seit den siebziger Jahren, trat der Nation der Täter das Verbrechen an den Juden in seinem ganzen Ausmaß ins Bewusstsein. Seit den neunziger Jahren wurde wieder zunehmend des Schicksals der deutschen Mehrheitsgesellschaft gedacht, der Bombardierungen, des Verlusts von Heimat oder des vaterlosen Aufwachsens.
In den zehner Jahren unseres Jahrhunderts kehrte ein bis dahin fast vollständig verschüttetes Thema an die Oberfläche zurück – die Massenvergewaltigung durch die Sieger- und Besatzungstruppen in Deutschland. Direkte Gewalt erfahren haben nach meiner Schätzung mindestens 860 000 Personen. Doch betroffen waren davon viel mehr Menschen: allen voran die Familien der Opfer, besonders ihre Nachkommen, aber auch die Nachbarn und sonstigen Mitwisser, die oft mit Abwehr auf das Problem reagierten, die Ärzte und Pfarrer, die eingeweiht, aber nicht immer hilfreich waren, die Behörden, die mit den rechtlichen Folgen rangen. Die sexualisierte Kriegsgewalt zeitigte letztlich Auswirkungen auf die ganze Nachkriegsgesellschaft.
Momentan ist viel von der Generation der Kriegskinder die Rede. Doch »Kriegskindheit« ist eine mäandernde Kategorie. Mal sind die Geburtenkohorten gemeint, die während des Krieges Kinder waren, unabhängig davon, ob und wie direkt sie vom Krieg beeinträchtigt wurden. Mal sind die Nachkommen der Menschen gemeint, die Akteure des Krieges waren. Während die Kinder der Flüchtlinge und Vertriebenen sehr direkt vom Kriegsverlauf betroffen waren, müssen für die meisten Menschen der Generation »Kriegskindheit« die indirekten Folgen des Krieges als prägend betrachtet werden: Der Verlust von Angehörigen, die Verschlossenheit der Eltern bezüglich ihrer eigenen Erfahrungen im Krieg, die Verleugnung der Verstrickung in den Nationalsozialismus, der weitverbreitete harte Erziehungsstil zu jener Zeit und nicht zuletzt die Sexualdelikte der Siegerarmeen, all das hat sich für sie ineinander verschachtelt.
In diesem unübersichtlichen Feld von Generationenerfahrungen ist der Begriff, den ich für mein Buch wählen möchte – »Kinder der Gewalt« –, ein Versuch, die speziellen Erfahrungen der Kinder der Vergewaltigungsopfer zu fassen und in das Gesamtbild der Kriegskindheit zu integrieren. Im internationalen Forschungskontext beginnt sich für sie der Begriff »children of war« zu etablieren, der jedoch nicht gut in die deutsche Sprache übertragbar ist, da »Kriegskinder«, wie gesagt, auf ein sehr viel weiteres Bedeutungsfeld verweist.2 Kinder, die aus Vergewaltigungen entstanden sind oder auch »nur« von Vergewaltigungsopfern der Siegerarmeen in Deutschland aufgezogen wurden, sind eine Untergruppe der sogenannten Besatzungskinder, von denen im westlichen Teil des Landes zwischen 1945 und 1955 knapp 80 000 amtlich registriert wurden. Manche Forscher glauben indes, es könnten bis zu 400 000 gewesen sein.3
Die Kinder der Gewalt können vor Kriegsende, unmittelbar bei Kriegsende, in den späteren Besatzungsjahren und sogar noch in den sechziger Jahren gezeugt worden sein, wenn ihre bei Kriegsende vergewaltigte Mutter spät noch einmal ein Kind zur Welt gebracht hat. Sie gehören mithin der Generation der Kriegskinder im generativen Sinne an, aber auch der Nachkriegsgeneration, die wir heute als Achtundsechziger bezeichnen, und sogar den Babyboomern. Ihre Biografien wurden durch eine spezifische Kriegsfolge, die Massenvergewaltigung durch Siegertruppen, in besonderem Maße geprägt.
Wie einschneidend, zeigt eine erste statistische Erfassung der psychischen Leiden dieser Personengruppe: Demnach tragen sie generell ein deutlich höheres Risiko, psychisch zu erkranken. Zu den Stressoren gehörte das im Vergleich zur Normalbevölkerung vielfach erhöhte Risiko, eigene traumatische Erfahrungen wie Kindsmissbrauch, sogar Vergewaltigungen zu durchleben. Spätere psychische und psychosomatische Erkrankungen lassen sich aber auch auf die häufigen Wechsel der Bezugspersonen beziehungsweise Phasen der Heimunterbringung, auf die ambivalente Beziehung zu den Müttern, die fehlenden leiblichen und die ablehnenden Ziehväter, die Abhängigkeit von potentiell feindlichen und missbräuchlichen Familienangehörigen und die Erfahrungen der Diskriminierung und Stigmatisierung im sozialen Umfeld zurückführen.4
In den Lebensgeschichten dieser Personengruppe überlagern sich Themen, mit denen viele deutsche Nichtverfolgte als Folge des Krieges zu kämpfen hatten. Deshalb kann ihr Schicksal, wiewohl es ein besonders drastisches war, als paradigmatisch für eine ganze Generation gelten. Die Kinder der Gewalt mussten im besonderen Maße erfahren, was es heißt, nicht »in Liebe empfangen«, sondern oft schon im Mutterbauch als belastend, bedrohlich, fremd wahrgenommen worden zu sein. Sie mussten erleben, was es heißt, sich ein Leben lang zu fragen, wer der eigene Erzeuger war, was es heißt, immer wieder verpflanzt zu werden, bei Fremden aufzuwachsen, soziale Ausgrenzung oder Stigmatisierung zu erleben, was es heißt, die Mutter oder beide Eltern unter einem namenlosen Geheimnis leiden zu sehen und erst spät und bruchstückhaft Erschreckendes aus der eigenen...