1. Die Kriegskinder
Starke Eltern, schwache Eltern
Das „Tosen des Krieges“
Die Sonne scheint, fröhlich singend sitzen mein Bruder und ich auf dem Rücksitz des Opel Kadett meiner Großeltern. Wie so oft haben wir gemeinsam ein Wochenende auf dem Land verbracht, in einem kleinen Holzhäuschen am Rande eines Rapsfeldes in der Nähe von Bad Segeberg. Schon seit Jahren genießen meine Großeltern dort ihre freien Tage, oft mit meiner Uroma im Schlepptau, und entfliehen so der Enge ihrer Hamburger Stadtwohnung. Wir lieben diese Wochenenden in der Natur. Hinter dem Häuschen baut meine Großmutter Kartoffeln, Karotten und Salat an, und nichts begeistert uns Kinder mehr, als ihr zu helfen, das Gemüse zu ernten und es anschließend gemeinsam zu essen. Am Ende des Grundstücks, zur kleinen Landstraße hin, dann das Revier meines Großvaters: Zwei Bienenstöcke in einem kleinen Kiefernwäldchen. Stundenlang sitzt mein Opa dort auf einem Hocker, raucht Zigarillos und beobachtet seine Bienen. Schon als Kind frage ich mich oft, worüber genau der schweigsame Mann die ganze Zeit nachdenkt.
Nachdem meine Großeltern uns zu Hause abgeliefert haben, summen mein Bruder und ich die Lieder, die wir während der Autofahrt gesungen hatten, noch weiter: „Schwarz-braun ist die Haselnuss“ und „Heho, spannt den Wagen an“ sind unsere Favoriten. Als meine Mutter uns hört, bringt sie uns sofort zum Schweigen. „Singt das nie wieder!“, weist sie uns an und murmelt dann kopfschüttelnd. „Dass Mutti immer noch ihre Lieder aus dem Arbeitsdienst singen muss.“ Mein Bruder und ich haben das Gefühl, uns für etwas schämen zu müssen – nur wofür, das wissen wir nicht genau. Erst ein halbes Jahrhundert später begreife ich, dass für meine Großeltern in den Kriegsjahren, den Jahren ihrer Jugend, der wohl schönste und gleichzeitig auch fürchterlichste Abschnitt ihres Lebens stattfand. Beim Auflösen ihrer Wohnung finde ich Tagebücher, Fotoalben, Ahnenpässe, Verwundetenabzeichen und Soldbuch-Auszüge aus NS-Zeiten, sorgfältig in Ordnern archiviert. Von der Zeit „unter Adolf“, wie sie oft sagten, hatten sie sich offensichtlich nie ganz verabschiedet.
Mein Großvater, 1918 in Mecklenburg geboren, hatte 14 Jahre lang Tagebuch geführt, von 1928 bis 1943. Seine Einträge reichen von seinen Sommer- und Winterlagerfahrten mit verschiedenen nationalen Jugendgruppen als zehnjähriger Knirps bis hin zu seinen Luftwaffeneinsätzen in Russland und Rumänien im Jahr 1943 und dokumentieren eindrucksvoll, wie die nationalsozialistischen Jugendorganisationen ihre jungen Mitglieder zu prägen vermochten. Im Tagebuch meines halbwüchsigen Großvaters dominieren eingeklebte Schwarz-Weiß-Drucke, die Jungen in kämpferischen Positionen zeigen, darunter handschriftlich sorgfältig kopierte Zeilen wie „Weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein“. Ab 1938 finden sich auch Hakenkreuze in seinem Tagebuch, parallel zu seinem beginnenden Landdienst in Mecklenburg, während dessen er inbrünstig hofft, endlich zur Wehrmacht einberufen zu werden: „Nun muss die Entscheidung fallen“, schreibt er 1939. „Nach unserem vergeblichen Harren, nach Ostpreußen oder nach Oberschlesien zu kommen, muss jetzt eine Klärung kommen.“ Kurze Zeit später wird er zur 22. Staffel des Flieger-Ausbildungsregiments in Güstrow einberufen. Zeilen über Zeilen von nationalsozialistischen Gedichten und Liedertexten dokumentieren diesen neuen Lebensschritt. In den kommenden drei Jahren führt ihn seine Position als Mechaniker der Transportstaffel des IV. Fliegerkorps monatelang nach Brüssel und Paris. Diese Jahre scheinen für ihn voller Abenteuer zu sein: Sauftouren mit seinen Kumpels und humorvolle Beschreibungen des Fliegeralltags dominieren seine Erinnerungen. Kein kritischer, besorgter Gedanke findet Eintrag in sein Tagebuch – oder vielleicht behält er solcherart Reflexionen lieber für sich? Andere Aufzeichnungen scheinen dagegen zu sprechen. Als er in Brüssel beobachtet, wie die Bevölkerung angesichts der deutschen Besatzer panisch die Stadt verlässt, schlussfolgert er: „Noch immer strömen Flüchtlinge durch die Straßen. Oh, welch ein Elend. Wieder hat die Bevölkerung der feindlichen Propaganda das Wort Barbaren geglaubt.“ Auch während seines einjährigen Dienstes in Paris von Juni 1940 bis Juni 1941, „der schönsten Stadt der Welt“, findet mein mittlerweile 23-jähriger Großvater nichts dabei, einer aggressiven Besatzungsmacht anzugehören. Wie ein Tourist zieht er mit seinen Kameraden durch die Straßen der Stadt, bewundert die Architektur, kehrt in Kneipen und Restaurants ein, besucht Kinos, das Theater oder die Oper. „An uns zieht das Leben der Franzosen vorbei“, schreibt er. „Wie viel Spaß macht es uns, in diesen Zeiten uns hier zu tummeln.“ Vom Leiden der Zivilbevölkerung, den Judenverfolgungen, der Willkür und Gewalt der deutschen Besatzer – kein Wort. Er ist überzeugt von seiner Mission: „Oft wird mir das Herz groß, wenn wir über die Schlachtfelder von 1914 –1918 fliegen“, schreibt er 1941. „Dieser Krieg hat alles wieder gut gemacht. Zur Heimat könnte uns dieses Land nie werden, es fehlen die Seen und Wälder. Der Atlantik dagegen ist anders.“
Nach Paris werden die Einträge sporadischer, für meinen Großvater geht es weiter nach Rumänien und wenig später nach Russland. Manchmal klingen vorsichtige Klagen über die bittere Kälte im Osten an, über Ratten in den Zelten und Verluste unter den Kameraden. Im Jahr 1943 enden die Tagebucheinträge mit dem Gedicht: „Niemand weiß, wie lange das Tosen dieses Krieges noch dauern wird / Drum will ich den Sang beschließen / Niemand wird heut schon wissen, was die Zukunft gebiert / Aber: Trotzdem blühen Rosen.“
Aus seinem Soldbuch geht hervor, dass er in den kommenden zwei Jahren an drei Gefechten teilnimmt und in der rechten Brust durch einen Granatsplitter verwundet wird – doch er hat Glück, der Großteil des Splitters bleibt in einem Fotobüchlein mit Familienbildern stecken, welches er stets in seiner rechten Brusttasche aufbewahrt. Seine letzten Kriegsstationen sind das Lazarett Bad Bramstedt und Elmendorf im Ammerland, wo er an aussichtslosen Kämpfen gegen die Alliierten teilnimmt. Im Mai 1945 wird er von den Briten verhaftet und als Kriegsgefangener zum Arbeitsdienst auf einem Hof in der Nähe von Stade verurteilt.
Wie mag es meinem Großvater ergangen sein, als er im Februar 1946 endlich nach Schwerin zurückkehrte? Vermutlich war er froh, den Krieg überlebt zu haben. Wie seine Heimatstadt mag aber auch sein Weltbild in Trümmern gelegen haben. Er kam zurück als Besiegter – und blühende Rosen waren nirgends zu sehen. Stattdessen seine junge Frau Käthelies mit seiner Erstgeborenen auf dem Arm, meiner Mutter Annegret, die am 21. Mai 1945 zur Welt kam und ein dünnes Baby war. Auch meiner Großmutter, 1922 geboren, wird es in dieser Zeit vermutlich nicht besonders gut gegangen sein. Abgesehen von den existenziellen Nöten der Nachkriegszeit im besetzten Schwerin, dem als traumatisch erlebten Einmarsch der Russen und dem langen Bangen um ihren Mann, von dem sie seit Kriegsende kein Wort gehört hatte, war es vermutlich auch für sie nicht leicht, zu den Besiegten zu gehören. Sie hatte im BDM als Jungführerin mit Begeisterung in diversen Ernte- und Arbeitsdienstlagern gedient. Ein Fotoalbum belegt diese Zeit: Meine junge Großmutter beim Kartoffelsammeln, beim Heuernten und bei Sommerfesten, uniformiert, meist gut gelaunt inmitten einer Schar gleichaltriger Mädchen. Im Hintergrund fast immer: Die Hakenkreuzflagge. Wie eine ausgedehnte, fröhliche Klassenfahrt wirken die Bilder dieser Jahre auf mich. Vom Grauen des Nationalsozialismus keine Spur. Doch auch dieses Album endet im Jahr 1943. Danach: Nichts mehr.
Im Krieg geboren
Als das „Reich“ in Trümmern lag, war mein Großvater 27 und meine Großmutter 23 Jahre alt. Wie mag es in ihnen ausgesehen haben? Waren sie erschüttert vom Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, von der Enttarnung der Helden ihrer Jugend als millionenfache Kriegsverbrecher? Oder waren sie einfach nur froh, überlebt zu haben?
Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks beschreibt in seinem Buch Warum folgten sie Hitler? den Nationalsozialismus als kollektiven Rauschzustand, der eine suchtartige Abhängigkeit auf seine Anhänger ausübte – und erklärt so das „schwarze Loch“, in das viele „Berauschte“ nach der Niederlage fielen.
Ob auch meine Großeltern in so ein „schwarzes Loch“ fielen, werde ich nie erfahren – inzwischen sind beide verstorben. Sicher ist jedoch, dass für sie eine mühsame Zeit der Neuorientierung begann. Mein Großvater besuchte eine Lehrerfortbildung und erhielt Ende 1946 eine Anstellung an einer Dorfschule in der Nähe von Schwerin. Bezahlt wurde er überwiegend in Naturalien, so dass die Familie zumindest keinen Hunger leiden musste. Nutzten meine Großeltern aber die langsam einkehrende Ruhe, um sich kritisch mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit auseinanderzusetzen? Wenn wir ihren nostalgischen Erzählungen über die Zeit „unter Adolf“ glauben schenken dürfen, dann taten sie dies weder zu diesem Zeitpunkt noch später.
Der 1928 geborene Journalist Heinrich Jaenecke beschreibt die so genannte Stunde Null nach Kriegsende als „den großen Schlussstrich, den die Mehrheit der Deutschen unter das Kapitel Hitler zog – eine Amputation des Bewusstseins, die die ‚Vergangenheit‘, wie die Umschreibung für das ‚Dritte Reich‘ lautete, aus dem Gedächtnis löschte. Man glaubte, sie damit los zu sein wie ein...