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Wir schaffen es nicht

Eine Flüchtlingshelferin erklärt, warum die Flüchtlingskrise Deutschland überfordert

AutorKatja Schneidt
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783959713535
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Katja Schneidt arbeitet seit fast 20 Jahren ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. Sie unterstützt Menschen bei den ersten Schritten in Deutschland, begleitet sie zu Behördengängen, gibt Deutschkurse, ist Ansprechpartnerin bei Sorgen und Nöten, kümmert sich, wenn Kinder nicht zur Schule geschickt werden oder Frauen nicht ohne Begleitung zum Arzt wollen. Sie ist für die Menschen da, die in großer Zahl nach Deutschland kommen. Und sie zieht eine ernüchternde Bilanz, indem sie sagt: 'Nein, Frau Merkel, wir schaffen das nicht!' Im Lauf ihrer Arbeit musste Katja Schneidt feststellen, wie überfordert Politik, Verwaltung und Behörden wirklich sind. Wie wehrlos der deutsche Staat denjenigen gegenüber ist, die Gastfreundschaft mit einem Selbstbedienungsladen verwechseln, wie groß das Unverständnis vieler Flüchtlinge unserer Kultur gegenüber ist und wie unzureichend ein Heer an freiwilligen Helfern eine durchdachte, organisierte Integrationspolitik ersetzen kann. Katja Schneidt sagt, wo die Probleme liegen und was sich ändern muss, damit Flüchtlinge in der neuen Heimat ankommen und auch unsere Gesellschaft von all den neuen Bürgern profitiert. Derzeit tut sie es nicht. Und Katja Schneidt weiß, wovon sie spricht.

Katja Schneidt, Jahrgang 1970, arbeitet seit 1999 ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. Viele Jahre führte sie eine Beziehung mit einem türkischen Mann und lebte abgeschnitten von der Außenwelt in dessen muslimischer Großfamilie. Sie ist engagiertes Mitglied der SPD und hat für mvg bereits mehrere Bücher geschrieben, darunter den Spiegel-Bestseller Gefangen in Deutschland. Sie lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.

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Leseprobe

1. KAPITEL

Wie können wir das schaffen?


Als ich gefragt wurde, ob ich ein Buch über die Flüchtlingssituation in Deutschland schreiben wollte, musste ich nicht lange überlegen. Natürlich wollte ich das! Zu dem Thema gibt es so viel Wichtiges und Wissenswertes zu sagen.

Die Stimmung in Deutschland schwankt mittlerweile zwischen dem unerschütterlichen »Wir schaffen das!« und »Hilfe! Der Untergang Deutschlands steht bevor« – und beides ist fernab jeder Realität.

Als in den Neunzigerjahren, während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, die Flüchtlinge in Scharen nach Deutschland strömten, war ich bereits in der Flüchtlingshilfe tätig. Und ich bin es auch heute noch.

Ich lebe in einer mittelhessischen Kleinstadt und wir haben neben einer großen Erstaufnahmeeinrichtung, die in einer ehemaligen US-Kaserne untergebracht ist, auch drei große Gemeinschaftsunterkünfte für Asylsuchende. Dazu kommen noch mehrere kleinere Gemeinschaftsunterkünfte, die auf die anliegenden Ortsteile verteilt sind.

Meine Aufgaben in der Flüchtlingshilfe sind vielfältig.

Ich betreue Flüchtlingsfamilien und bin ihnen ebenso beim Ausfüllen von Formularen behilflich wie bei der Wohnungssuche und bei den anfallenden Problemen im Alltag. Außerdem begleite ich sie zu Terminen auf der Ausländerbehörde, bei Arztterminen und bei der Jobsuche.

In einer anderen großen Gemeinschaftsunterkunft gebe ich jungen, männlichen Flüchtlingen regelmäßig Deutschunterricht und bin ebenfalls Ansprechpartnerin bei allen anfallenden Problemen.

Dazu bin ich einmal in der Woche in unserer Grundschule und übe mit einer Gruppe Erstklässler, die sowohl aus deutschen wie auch aus Flüchtlingskindern besteht, das Lesen.

Da ich selbst viele Jahre lang in einer Beziehung mit einem türkischen Mann gelebt habe und auch heute noch ein sehr multikulturelles Umfeld habe, kenne ich mich in der islamischen Kultur bestens aus und kann mich in jedem muslimischen Umfeld bewegen. Dies erleichtert mir meine ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit sehr und verhilft mir zu einer großen Akzeptanz bei den Asylsuchenden. Immerhin kommt ein Großteil dieser Menschen aus streng islamischen Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Auch bei den Flüchtlingen aus Eritrea liegt der Anteil der Muslime bei fast 60 Prozent.

Außerdem berate ich seit vielen Jahren – ebenfalls ehrenamtlich – Opfer häuslicher Gewalt. Auch diese Menschen kommen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen.

Neben mir gibt es noch einige hilfsbereite Menschen, die sich im Rahmen unseres Flüchtlingshilfenetzwerks »Neue Nachbarn« unermüdlich für die Asylsuchenden engagieren.

Die meisten tun dies mit einem leidenschaftlichen Engagement und man spürt, dass ihnen die Flüchtlinge wirklich am Herzen liegen. Viele sind ebenso wie ich aktives Mitglied in der SPD, sodass wir uns auch auf kommunalpolitischer Ebene bemühen, gute Voraussetzungen für die in unserer Stadt lebenden Flüchtlinge zu schaffen.

Im November 2015 wurde uns der Hessische Integrationspreis verliehen. Darauf sind wir stolz. Es ist ein gutes Gefühl, wenn die vielen Hilfestellungen, die man als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer geben muss, wenigstens eine soziale Anerkennung finden.

Ich stelle mir oft die Frage, was die Geflüchteten ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer tun würden.

Nachdem sie Deutschland erreicht haben und in eine der Erstaufnahmeunterkünfte gebracht worden sind, gibt es eine relativ große Anzahl von Menschen, die sich um die Geflüchteten kümmern. Auch hier ist der Anteil der ehrenamtlichen Kräfte weitaus höher als der der bezahlten Betreuungskräfte.

Die meisten Erstaufnahmeunterkünfte verfügen über eigene Ärzte und umfangreiche medizinische Diagnostik-Apparate, wie zum Beispiel Röntgen- oder Ultraschallgeräte, sodass die ärztliche Betreuung direkt vor Ort abgedeckt wird und lange Wartezeiten, wie sie bei öffentlichen Ärzten üblich sind, sowie Anfahrtswege entfallen.

Die Essensversorgung wird meistens über einen Cateringservice abgedeckt, sodass die Flüchtlinge sich weder um einen Einkauf noch um die Essenszubereitung kümmern müssen.

Die Sauberhaltung der Unterkünfte wird durch externe Reinigungsunternehmen durchgeführt.

Behördentermine außerhalb der Erstaufnahmeunterkünfte werden meist von Dolmetschern oder Betreuungskräften begleitet.

Die Hilfestellungen der Flüchtlingshelfer sind sehr engmaschig und sorgen für einen meist reibungslosen Ablauf in den Erstaufnahmeunterkünften.

Anders sieht es allerdings aus, wenn die Asylsuchenden die Erstaufnahmeunterkünfte verlassen und in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Von einem auf den anderen Tag sind sie plötzlich in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, völlig auf sich allein gestellt. Es gibt ab diesem Zeitpunkt kaum noch eine Unterstützung durch bezahlte Betreuungskräfte.

Ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer, die zum Teil zwanzig Stunden und mehr pro Woche ihrer freien Zeit in die Flüchtlingshilfe investieren und dafür keinen einzigen Cent, außer der Erstattung ihrer Kosten, bekommen, wäre die Flut der Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, gar nicht zu bewältigen.

Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum mir das optimistische »Wir schaffen das!« unserer Bundeskanzlerin immer ziemliche Bauchschmerzen bereitet. Und leider klagen tatsächlich viele Hilfsorganisationen mittlerweile über einen massiven Rückgang der Hilfsbereitschaft.

Die Euphorie zu Beginn der Flüchtlingswelle ist verflogen, und viele Menschen, die sich am Anfang engagierten, haben ihre Prioritäten inzwischen wieder neu gesetzt. Job, Haushalt und Kindererziehung lassen nun mal auf Dauer keinen nennenswerten Spielraum zu, um die Flüchtlinge wirklich adäquat zu betreuen und ihnen in ihrem Alltag kontinuierlich behilflich zu sein.

Als Autorin genieße ich den Luxus, mir meine Zeit frei einteilen zu können, und das ist auch notwendig, wenn ich wirklich effektiv helfen möchte. Termine auf der Ausländerbehörde, bei Ärzten oder dem Jobcenter etwa sind immer tagsüber. Dazu klingelt häufig mein Telefon und ich werde von den Flüchtlingen gebeten, doch mal kurz vorbeizuschauen, weil sich ein Kind verletzt hat, Post gekommen ist, die ihnen übersetzt werden muss, oder es Probleme mit anderen Bewohnern in der Gemeinschaftsunterkunft gibt.

Es wäre dringend notwendig, die finanziellen Mittel für bezahlte Betreuungskräfte nennenswert zu erhöhen, denn der Hilfebedarf wird in absehbarer Zeit noch massiv ansteigen. Spätestens dann, wenn die Angehörigen der Asylsuchenden im Rahmen des Familiennachzugs in Deutschland eintreffen, wird der Hilfebedarf mit fast ausschließlich ehrenamtlich tätigen Hilfskräften nicht mehr zu bewältigen sein.

Dabei steht uns die größte Arbeit noch bevor. Wenn die formellen Dinge geklärt sind und die Flüchtlinge endlich in eine private Wohnung ziehen dürfen, beginnt der Integrationsprozess.

Dieser besteht nicht nur darin, dass die Schutzsuchenden die deutsche Sprache erlernen.

Viel wichtiger ist es, sie mit unserer Kultur und der hier herrschenden Gleichberechtigung von Mann und Frau vertraut zu machen. Dies ist wichtig, damit sie ein vollwertiger Teil unserer Gesellschaft werden und sich nicht noch weitere Parallelgesellschaften bilden.

Dieser Aspekt bereitet mir große Sorgen. Zu oft habe ich in den vielen Jahren meiner Beratungstätigkeit erlebt, dass muslimische Frauen und Mädchen die großen Verlierer einer misslungenen Integration wurden. In einem freien Land mit Gleichberechtigung zu leben, aber selbst in einer Struktur zu stecken, die den weiblichen Mitgliedern der Familie eine Rolle zuteilt, die wir in Deutschland schon vor mindestens einem halben Jahrhundert abgeschafft haben, stellt diese Frauen und Mädchen vor eine große Herausforderung, und nicht wenige von ihnen erleiden mit der Zeit eine psychische Erkrankung. Eine Studie der Berliner Charité hat sogar ergeben, dass junge Frauen mit vorwiegend türkischem Migrationshintergrund sich doppelt so häufig das Leben nehmen wie gleichaltrige deutsche Mädchen.

Auch für die Männer ist dieser Spagat zwischen zwei Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, eine enorme Belastung.

Es ist ein Irrglaube und äußerst naiv zu denken, dass die Menschen, die hier Schutz suchen, ihre tief verwurzelten Traditionen und vor allem das Rollenbild, dass in den meisten Herkunftsländern herrscht, ablegen, nur weil sie jetzt in einem Land leben, in dem die Selbstbestimmung der Frau etwas völlig Selbstverständliches ist.

Trotzdem tun viele Deutsche so, als ob es diese Probleme nicht gäbe bzw. sie mit einem bisschen guten Willen spielend zu bewältigen wären.

Warum tut sich ein Großteil der Menschen so schwer...

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