Vorwort
Aylan Kurdi war nicht der erste Flüchtling, der die Flucht über das Meer mit dem Leben bezahlte. Aber sein Tod am 2. September 2015 veränderte dennoch auf einen Schlag und weltweit die Wahrnehmung der alltäglichen Tragödie im Mittelmeer. Es gibt dafür einen wesentlichen Grund: das Foto des angeschwemmten toten syrischen Kindes am Strand von Bodrum, das die türkische Fotografin Nilüfer Demir aufgenommen hat.
Was zahllose Appelle von Hilfsorganisationen und kontinuierliche Berichterstattung über den barbarischen Krieg in Syrien nicht vermochten, war infolge der rasanten Verbreitung und Rezeption des Fotos plötzlich Realität: Die Debatte über das globale Migrationsgeschehen, seine Ursachen, seine Opfer sowie die Rolle jener Länder, in die sich die Kriegsopfer flüchten, veränderte sich. In Kanada, wohin die Familie Kurdi ursprünglich hatte fliehen wollen, aber wegen eines fehlenden Visums nicht konnte, hat das Bild des toten Aylan Kurdi die Einwanderungspolitik der Regierung gegenüber Schutzsuchenden aus Syrien gar nachhaltig verändert.
Die Geschichte des Fotos wirft ein Schlaglicht auf die ikonografische Macht von Pressebildern. Seine enorme Wirkung auf ein globales Publikum erzählt viel über unser kollektives Bildergedächtnis. Dass das Bild des toten Jungen zumindest für einen kurzen historischen Moment all jene Fronten zu überwinden vermochte, die die diversen politischen Lager in der Flüchtlingspolitik voneinander trennen, zeugt davon, dass mächtige Bilder in der Lage sind, narrative Strukturen zu schaffen. Sie können zum Bezugspunkt für eine neue Erzählung werden – in diesem Falle eines des Mitleids mit den unschuldigen, aber bis dato anonymen und gesichtslosen Opfern, die ihr Leben riskieren auf der verzweifelten Suche nach Rettung vor dem Krieg.
Doch ist dies nur die eine Seite der faszinierenden Macht kraftvoller Bilder. Die andere Seite lässt sich am Beispiel eines ganz anderen Fotos illustrieren, das der dpa-Fotograf Patrick Lux 1994 anfertigte. Es zeigt eine anonyme junge Frau mit Kopftuch, die, mit dem Rücken zur Kamera stehend, das Wort Integration an eine Tafel schreibt. Das Foto gehört zu den häufigsten Motiven in der Bebilderung von Migrationsthemen in Deutschland, findet regelmäßig Verwendung auch in Kontexten, in denen es weder um Muslime noch um Bildung noch um Frauen geht. Warum ist dieses Bildmotiv, übrigens zum Ärger des Fotografen, so universal einsetzbar, sobald Bildredaktionen ins Archiv steigen und das Thema Migration zu bebildern suchen? Weshalb löst das Bild einer jungen Muslimin mit Kopftuch an der Tafel beim Betrachter offenbar unmittelbar die Assoziation Migrantin aus, obwohl wir von der gesichtslosen Frau nichts wissen, außer dass sie ein Kopftuch trägt?
Die mediale Karriere dieses Fotos erzählt wiederum viel über die archetypischen Bilderwelten in den Köpfen der Betrachter, an die dieses Motiv unmittelbar anschließen kann. Gerade weil Muslime zum Inbegriff des Fremden geworden sind, zum ewigen Objekt integrationspolitischer Bemühungen, zum Sinnbild all der Problemlagen, denen wir uns tatsächlich oder auch nur vermeintlich auf dem Gebiet der Integration gegenübersehen, wird das Foto zur universal einsetzbaren Chiffre – und damit zugleich zum Spiegelbild unserer ureigensten Migrationsphantasien. Der Umstand, dass das Bildmotiv seit über 10 Jahren ununterbrochen Verwendung findet, zeugt davon, dass es sich längst entkoppelt hat von der migrationspolitischen Realität, dass es immun ist gegen jede Korrektur mit Hinweis auf eine differenziertere Wirklichkeit. Das Bild, so könnte man sagen, ist stärker als die Evidenz, die sich über Muslime, Migration und ein vielfältiges Deutschland stattdessen erzählen ließe. Es ordnet stattdessen in stereotyper Form Vorstellungen, Ideen und Emotionen von Migration so an, dass es im Auge des Betrachters zum schnell verstehbaren Referenzpunkt wird: Wenn du dieses Bild siehst, bist du mit dem Thema Migration konfrontiert.
Das Problem dieser monotonen, symbolgetränkten Bildsprache – weniger ein Problem des Bildes an sich als vielmehr seiner Kontextualisierung in konkreten Berichterstattungsmustern – ist evident. Es fixiert die dargestellte Frau in einem eng umrissenen Feld, schreibt ihr stellvertretend für eine ganze Gruppe von Menschen Eigenschaften zu, verwandelt sie so in eine assoziationsreiche Projektionsfläche, aus der sie sich nur schwer herausbewegen kann, in der sie eher das Ergebnis dieser Zuschreibungen ist und nicht aktive Zeugin ihrer eigenen Lebenswirklichkeit.
Doch wie typisch sind derartige Symbolbilder für die Migrationsberichterstattung in deutschen Medien eigentlich? Erstaunlicherweise weiß die Wissenschaft weltweit zu diesem Thema eher wenig zu sagen, und das, obwohl wir in einer Medienwelt leben, die so stark von Bildern geprägt wird wie nie zuvor. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung hat sich trotz der seit den 1990er Jahren diskutierten ikonischen Wende, also der Renaissance der Bildwissenschaften, bislang vor allem mit der textlichen Berichterstattung über Migration befasst und dort wiederholt und weltweit dokumentiert, dass in ihr problemfixierte Stereotypisierungen von Migranten und die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen (Muslime, Sinti/Roma etc.) häufig anzutreffen sind.
Insofern betritt die vorliegende Bilder-Studie von Margreth Lünenborg und Tanja Maier weitgehend Neuland. Die beiden Forscherinnen der FU Berlin haben rund um konkrete Berichterstattungsanlässe – Integrationsgipfel, Christian Wulffs Islam-Rede, Flüchtlingstote im Mittelmeer und Willkommenskultur-Euphorie 2015 am Münchner Hauptbahnhof – die Bildsprache in FAZ, Süddeutsche Zeitung, taz, BILD sowie den Magazinen SPIEGEL und STERN untersucht. In ihrer Studie haben sie knapp 450 Bilder identifiziert und analysiert.
Die wichtigsten Erkenntnisse: Die Bildsprache der deutschen Medien ist vielschichtiger und damit weniger stereotyp, als es die zuvor erwähnten Befunde zur Berichterstattung über Migration hätten vermuten lassen. Dennoch sind die Probleme in der Visualisierung des Themas nicht zu übersehen. So ist augenfällig, dass auch in der Bildsprache Migration überproportional oft als Bedrohung und Problem inszeniert wird, dass die kulturelle Differenz zwischen uns und den Anderen betont wird, dass Migranten nicht selten anonym und konturenlos als Masse erscheinen, ohne Geschichte und ohne Individualität.
Was die Studie ebenfalls deutlich macht: In den Visualisierungsstrategien der Medien geht es weit häufiger primär um die Befindlichkeiten der Aufnahmegesellschaft und damit eben nicht um ein bloßes Abbilden der Wirklichkeit, wie es auch Fotojournalisten für sich häufig reklamieren. Vielmehr fließen in die Bildgestaltung die Sorgen, Hoffnungen und Phantasien des deutschen Publikums ein. In einer Fotografie, die ein überfülltes Flüchtlingsboot zeigt, manifestiert sich somit nicht nur eine Realität im Mittelmeer: Die Inszenierung und Kontextualisierung des Bildes wirft nicht selten zugleich die Frage auf, die dem Bild latent zu Grunde liegt: Schaffen wir das? Wollen wir das?
Bilder knüpfen so an innere Bilder der Betrachter an, lösen Assoziationsketten von gelingender oder womöglich gescheiterter Migration aus; sie werfen Fragen kultureller Differenz und des eigenen Selbstverständnisses in Bezug auf die globalen Veränderungsdynamiken aus. All das ist zunächst kein Problem von Bildern. Aber es ist der Subtext, die Tiefendimension visueller Kommunikation, derer sich Fotografen und Rezipienten bewusst sein müssen und die komplexer ist, als es die Rede von der Fotografie als unmittelbarem Abbild der Wirklichkeit glauben machen will. In einer solchen Perspektive, resümieren die Autorinnen, »geht es nicht um den Aktualitäts-, Informations- oder Realitätsbezug von Bildern, sondern darum, wie journalistische Bilder und Diskurse daran mitwirken, was in bestimmten kulturellen Kontexten überhaupt unter Flucht, Integration und Migration verstanden wird.«
Im Zusammenhang mit dieser Tendenz zur thematischen Selbstreferentialität in der Visualisierung des Migrationsgeschehens, die sich in der Berichterstattung selbst ebenfalls findet, kommt überdies eine Dimension oft zu kurz: die Selbstauskunft jener, die auf den Bildern zu sehen sind. Migrationsfotos zeigen zwar oft Menschen aus anderen Kulturen. Aber wir erfahren wenig über diese Menschen selbst, ihre Geschichten und Motive, ihre Erwartungen und Hoffnungen, weil unser Blick auf sie primär geleitet ist durch unsere Fragen und Erwartungen – ein Phänomen, das ja auch schon in der Analyse der eingangs erwähnten ikonischen Bildmotive von Aylan Kurdi und der namenlosen Kopftuchträgerin deutlich geworden ist.
Die Bertelsmann Stiftung verknüpft mit der Veröffentlichung der Studie von Margreth Lünenborg und Tanja Maier die Hoffnung, dass sie den Anstoß gibt für eine intensivere Diskussion der journalistischen Bildsprache über Flucht und Migration.
Franco Zotta
Project Manager
Programm »Integration und...