Kapitel 1
Mannschaftsbesprechung
Jason hasst laute Umgebungen, Menschenmengen, Kinder, Salami und Gedränge.
Er schüttelt sich bei dem Gedanken, dass jemand neben ihm ein Butterbrot isst, und würde Kinder gerne von dieser Welt verbannen, obwohl er gemäß gesetzlichen Bestimmungen selbst noch ein Kind ist.
Er interessiert sich für unterschiedliche Blickwinkel der allgemeinen Relativitätstheorie, beschreibt die String-Theorie (Glossar 1) so, dass sogar ich sie verstehe, und lernt gerne spannende Dinge auswendig, wie das Periodensystem oder Ähnliches. Er kann sich nicht die Schuhe binden, er ist ungern alleine in einem Raum und er ist der konsequenteste und ehrlichste Mensch, den ich kenne. Jason ist heute elf und ich lerne von ihm seit seinem fünften Lebensjahr.
Wenn ich nicht von ihm lerne, kümmere ich mich um die Befriedigung seiner Interessen, um den Schutz meiner Tochter vor ihm oder ich unterdrücke meinen Drang, ihm eine Tracht Prügel zu verpassen. Es ist kompliziert.
Jason und ich reisen zu Fußballspielen mit bis zu 80 000 Zuschauern, fahren mit Betrunkenen im Schlafwagenabteil quer durch Deutschland, stranden in kleinen Zweitliganestern und dürfen niemals eine Minute eines Fußballspiels verpassen. Wir lieben wohl den Fußball, sind aber nicht einmal echte Fans und ich bin eigentlich kein schlechter Vater.
Die Suche nach einem Lieblingsverein für Jason wurde zu unserem Projekt, und dieses Abenteuer hat mein Leben bereichert, mir geholfen, meinen Sohn zu verstehen, und mich dazu bewegt, dieses Buch zu schreiben.
Aber eins nach dem anderen.
Es begann mit Opas Geburtstagsgeschenk und es sollte unser erster generationsübergreifender gemeinsamer Stadionbesuch werden. Es war nicht so, dass wir dies akribisch geplant hatten. Ich war bis dato sehr wenig in Fußballstadien unterwegs. Das ein oder andere Mal war ich mit meiner Frau bei einem Champions-League-Spiel ihres Lieblingsvereins, der Dortmunder Borussia. Alles aber jeweils weit vor der Geburt unseres Sohnes und wohl eher auf der Event-Fan- und Rosinen-picker-Ebene anzusiedeln.
Mit meinem Dad fuhr ich seit 2002 einmal im Jahr ins Stadion. Meistens waren es die besagten Geburtstagsgeschenke, die uns gemeinsam zum Fußball führten. Und dieses Mal nahmen wir meinen Sohn im Alter von fünf Jahren einfach mit. Völlig ungeplant und ohne größere Hintergedanken. Er genoss das Spiel, die Umgebung und die Anreise als gemeinsames Erlebnis, und auf der Rückfahrt aus dem Stadion verarbeitete er das Gesehene auf seine schon damals sehr spezielle Art und Weise. Dies fand damals nicht auf hohem fußballerisch-intellektuellem Niveau statt – er war gerade einmal fünf geworden und glänzte schon die Jahre zuvor mit scheinbar klugen Fragen.
»Wieso gibt man nicht jedem einen Ball?«
»Warum hatten manche Spieler das gleiche Trikot an?«
»Warum versteckt sich nicht einfach einer mit einem Ball hinterm Tor und schießt dann heimlich rein, wenn der Torwart nicht hinschaut?«
»Warum gibt es nur eine Halbzeit und keine Vollzeit?«
»Wie groß sind die Löcher im Tornetz?«
Er interessierte sich aber auch für diese beiden schreienden, Krach machenden Gruppen. Ihn faszinierten die in unterschiedlichen Farben mit Fahnen, Bannern und Schals bewaffneten Fans der beiden Mannschaften.
Geduldig ließ er sich erklären, was es mit den Herrschaften auf sich hatte, und begriff nach meinen Ausführungen eigentlich schon eine der elementaren Bedingungen für die Liebe zum Fußball: Du musst wohl Fan eines Vereins sein, um die Faszination Fußball zu verstehen. Sonst kannst du dich ja nie freuen, nie mitfiebern, niemals die Angst spüren, die eine Ecke des Gegners kurz vor Spielende auslösen kann. Gut, du musst dich auch nie ärgern, nie hadern, dir nie das ganze verdammte Wochenende versauen lassen, weil dein Team wieder einmal nicht gewonnen hat.
»Oder kann man einfach immer am Schluss des Spiels für den Gewinner sein?«
Mein Sohn wollte das pragmatisch lösen, und vielleicht hätte ich dies damals einfach zulassen müssen. Ich weiß nicht, warum ich damals seine Frage verneinte, aber es führte zu der logischen Reaktion, dass er nun auch Fan sein wollte, aber einfach nicht wusste, von welchem Verein.
Ich erklärte ihm, dass es viele Mannschaften gibt, in unterschiedlichen Farben, mit Spielern aus verschiedensten Ländern, die innerhalb eines Systems aus mehreren Ligen in einem Land spielen. Ich beschrieb ihm, dass es Auf- und Abstiege gibt und die sich daraus verändernde Zusammensetzung der Ligen. In meinen Ausführungen erklärte ich, dass eigentlich jede Stadt einen Fußballverein mit einer Historie hat, die 100 Jahre und mehr zurückreicht und dessen Bedeutung für die Bewohner und das Umfeld dieser Stadt, aber auch über Stadtgrenzen hinweg unterschiedlich intensiv ausgeprägt ist.
Wir saßen auf der Rückbank, es war mittlerweile kurz vor Mitternacht und der Sohn faselte inzwischen mehr rum, als dass er wirklich interessiert fragte. Er lauschte kopftaumelnd, die Augen kaum noch offenhalten könnend, meinen Ausführungen rund um den Fußball, um abschließend vor dem Schlafen klarzustellen:
»Dann müssen wir uns die alle anschauen, bevor ich mich entscheiden kann.«
Ich stimmte zu, wohl wissend, dass er das am nächsten Morgen auf keinen Fall vergessen haben würde, aber doch ohne mir der vollen Konsequenz bewusst zu sein.
Ich war nachlässig, vielleicht fahrlässig oder einfach noch unwissend im Umgang mit meinem Sohn. Es war klar, dass er mich die nächsten Tage daran erinnern würde. Er bohrte und hakte nach, jeden Tag, immer und immer wieder, bis mir ein weiterer Fehler unterlief – den ich heute gar nicht mehr als Fehler beurteilen würde.
Ich versprach ihm, die Zusage zu halten und mit ihm alle Stadien zu befahren und alle Vereine zu besuchen, die notwendig sind, bis er Fan eines oder besser seines Vereins werden würde. Wir gaben uns die rechte Hand und besiegelten unsere Versprechen. Na ja, und Versprechen sind eben Versprechen. Die muss man halten. Versprechen geschehen ja nicht zufällig. Die heißen ja nicht Versehen, klärte mich Jason auf. Versprechen sind uns heilig.
Und deswegen sind wir nun, gute sechs Jahre später, immer noch unterwegs und haben über 50 Stadien dieses Landes und einige sogenannte Grounds (Glossar 2) über unsere Landesgrenzen hinaus besucht. Wir saßen bei Minusgraden in Aalen, um uns den Zweitliga-Klassiker gegen den SV Sandhausen anzuschauen, wir haben die alte Dame Juventus gegen den FC Bayern kläglich eingehen sehen, wir sahen Tim Wieses (Glossar 3) letztes Spiel für die TSG Hoffenheim, folgten im strömenden Regen dem Eliteverein, der wunderbaren Fortuna aus Düsseldorf, zum Freundschaftsspiel in die rheinische Bezirksklasse und sahen Zanettis (Glossar 4) Abschiedsspiel im San Siro Stadion. Wir erlebten sehr bewegende Stadionbesuche im Rahmen des »Refugees Welcome Day« in Babelsberg und fuhren mit schwer alkoholisierten Hannover-Fans im Schlafwagenabteil des Nachtzuges vom Freitagabendspiel in Freiburg zum Hamburger Millerntor. DFB-Pokal (Glossar 5), Champions League (Glossar 6), Relegationsspiele (Glossar 7), Abschiedsspiele, wir nehmen mit was kommt und ein Ende ist nicht in Sicht.
Noch eine Vater-&-Sohn-Story? Ja, sorry. Noch ein Fußballbuch? Nein, nicht unbedingt.
Es gibt einige amüsante Verknüpfungen zum Spiel, dem eigentlichen Highlight. Die Zugfahrt zum Spielort, die Planung vorab, die mögliche Übernachtung und alle die Geschehnisse innerhalb des Stadions, meistens aber außerhalb des eigentlichen Spielgeschehens. Das alles bot das Futter für den Inhalt dieses Buches.
Mein Sohn ist der Wochenendrebell und wir werden unsere Abenteuer, unsere Probleme, unsere gemeinsam gesuchten Ansätze, unsere Differenzen und Auseinandersetzungen schonungslos offen darlegen. Vielleicht kann es als Anregung dienen, vielleicht zeigt es manchem Vater, was man wie am besten falsch macht, vielleicht brauche ich dieses Buch irgendwann für mich als Ausrede oder als Erklärung für Außenstehende, warum mein Sohn so ist, wie er ist. Die Präsentation von Erlebnissen, die man mit einem behinderten Kind erlebt, könnte für viele Grund genug sein, um dieses Buch nicht zu lesen, trotzdem ist genau dies für mich auch ein Antrieb, es zu schreiben, auch wenn eine Buchreihe im Harry-Potter-Ausmaß nicht ausreichen würde, um die Liebe, die ich meinem Sohn und meiner Familie gegenüber empfinde, zu beschreiben und all unsere schrägen Erlebnisse festzuhalten. Mein Sohn käme da sicherlich schneller zum Punkt. Er ist sehr direkt.
»Ich hasse dich und ich wünschte, du müsstest arbeiten...