Einführung: Wirtschaft zwischen
Demokratie und Verbrechen
Der Titel des Buches und dieses einleitenden Beitrags deuten es an. Es geht um das Verhältnis der Wirtschaft zur Demokratie. Die Hauptverantwortlichen der Wirtschaft, Eigentümer (Großinvestoren), Vorstände und Aufsichtsräte der Konzerne, Repräsentanten und Sprecher der Wirtschaftsverbände, haben nachweislich ein doppelbödiges, ein äußerst zweifelhaftes Verhältnis zur Demokratie. Demokratie verstanden als System, das allen, die über keine materiellen Machtmittel verfügen, zu denen vor allem Produktionsmittel gehören, erlaubt, zur Verhinderung von Machtmissbrauch und Herrschaftsverbrechen wirksame Kontrollen von gesellschaftlichen Machtapparaten, wie Staaten und Wirtschaftsunternehmen, auszuüben. Viele kapitalistische Staaten sind im Sinne dieser Definition Demokratien, dagegen sind Wirtschaftsunternehmen Diktaturen.1
Als ich mich wissenschaftlich mit Demokratie zu beschäftigen begann – damals ging es um die Erweiterung der in der Montanindustrie schon bestehenden paritätischen Mitbestimmung auf andere Großunternehmen –, stieß ich auf eine Äußerung des Industriekuriers, in der es hieß, die Demokratisierung der Wirtschaft sei „so unsinnig wie die Demokratisierung der Schulen, der Kasernen oder Zuchthäuser“.2 Nach überstandener Not der Kriegs- und Nachkriegszeit sowie nach zwölf Jahren eigener Erfahrung als Industriearbeiter wusste ich, wovon die Rede war. Seitdem weiß ich auch, dass die Demokratisierung der Wirtschaft der Dreh- und Angelpunkt der Demokratiefrage ist.
Heute bin ich fest davon überzeugt, dass alles Ringen um mehr Demokratie im Staat und in anderen gesellschaftlichen Institutionen vergeblich ist, solange die Konzerne als demokratiefreie Überstaaten nur Demokratien tolerieren, die ihre Macht vor demokratischer Kontrolle schützen und ihre Ausbeutungspraktiken, selbst die von diesem Staat offiziell durch das Strafrecht verbotenen, faktisch unterstützen. Daher halte ich denen entgegen, die glauben, Wirtschaftsverbrechen könnten allein durch eine Verschärfung des Wirtschaftsstrafrechts oder – wenn dies nicht hilft – durch mehr Demokratie im Staat verhindert oder auch nur minimiert werden: Die Demokratisierung der Wirtschaft ist notwendig, weil anders nicht verhindert werden kann, dass es in absehbarer Zeit in immer mehr Staaten der Welt demokratische Mehrheiten für sozialdarwinistische und faschistische Parteien geben wird.
Es geht also darum zu verstehen, was es gesellschaftspolitisch bedeutet, dass Chefetagen – auch in Firmen, in denen Mitbestimmungsrechte gelten – demokratiefreie Herrschaftsbereiche sind, die keine direkte staatliche Kontrolle und Einmischungen in ihre Entscheidungen dulden und das Recht haben und erfolgreich verteidigen, private ökonomische Interessen auf Kosten ganzer Gesellschaften und Staaten durchzusetzen. Ich wäre bereit, den Verantwortlichen der Wirtschaft zu glauben, dass sie als Privatpersonen und Privateigentümer auch Staatsbürger und Demokraten und als Unternehmer bzw. Manager ehrliche Leute sind. Ich gehe sogar (so viel Vertrauensvorschuss muss sein) davon aus, dass die große Mehrheit sich privat und geschäftlich an die geltenden Gesetze hält. Doch spricht ihr eisernes Schweigen zu den Wirtschaftsverbrechen, die nahezu täglich ans Tageslicht kommen, dagegen.3 Es wäre ihre demokratische Pflicht, sich öffentlich von Wirtschaftskriminellen zu distanzieren und ihre Geschäftsbeziehungen zu ihnen abzubrechen. Für eine solche Distanzierung habe ich keine Belege gefunden.
Unternehmer stehen objektiv zwischen Staat und Wirtschaftsverbrechen. Das kann man logischerweise nur sagen, wenn man – wie der Heilige Augustinus – den Staat (dem die Gerechtigkeit fehlt) nicht selbst als Räuberbande betrachtet.4 Tut man es, muss man einen wichtigen Unterschied hervorheben. Dem Staat ist Straflosigkeit sicher. Er wird nicht bestraft, weil er nicht bestraft werden kann. Er, wer immer ihn im Griff hat, bestimmt nämlich, welche Handlungen oder Gedanken Verbrechen sind. Er ist allein wegen seiner Größe und seiner Machtmittel die gesetzgebende und die strafende Instanz. Er kann seine Raubzüge in Steuergesetze, Abgaben, Gebühren einkleiden oder Eroberungskriege gegen Nachbarstaaten als Verteidigungsfall legitimieren, was kleinere Räuberbanden nicht können. Es sei denn, sie wären – wie Konzerne – mächtig und für den Staat nützlich genug, um vor Verfolgung und Bestrafung durch diesen Staat geschützt, ja von ihm unterstützt zu werden.5
Dieser Aspekt müsste allein schon zur Begründung eines Forschungsprojekts ausreichen, das überprüft, inwieweit mächtige Wirtschaftsunternehmen, zumal Weltkonzerne, nicht auch schon als Staaten zu betrachten und wie diese zu behandeln sind, um sie in Schranken zu weisen. Wie anders wäre das möglich als durch Demokratisierung? Wäre also unter diesem Aspekt die politische Forderung nach Wirtschaftsdemokratie nicht ebenso berechtigt wie die politische Erwartung, die kapitalistische Demokratien an die kapitalistischen Diktaturen richten, nämlich in ihren Ländern die Demokratiebewegungen und Oppositionsparteien zuzulassen? Üben kapitalistische Demokratien als „westliche Wertgemeinschaft“ nicht ständig größten Druck auf kapitalistische Diktaturen aus, zumindest auf die, die aus kommunistischen Entwicklungsdiktaturen hervorgegangen sind?
Obgleich also Weltkonzerne nichts anderes als kapitalistische Diktaturen sind, werden diese von denselben gesellschaftlichen Kräften vor Demokratisierung geschützt, die Staaten mit kapitalistischen Diktaturen als Unrechtsstaaten bekämpfen. Zugegeben, noch kann man Konzerne nicht eindeutig als Staaten identifizieren, aber man kann deutlich erkennen, dass sie dabei sind, eine informelle Weltregierung zu beanspruchen. Kapitalismuskritische Wissenschaftler sowie sozialökologische und demokratische Bewegungen müssten deshalb die Frage stellen, wohin diese Entwicklung führt. Einen wichtigen Versuch, in dieser Richtung wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, unternahmen Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf. Allerdings – was auch in diesem Projekt nicht anders machbar gewesen wäre – ohne die weltweit kooperierenden und konkurrierenden Konzerne beim Namen zu nennen, ihre Großaktionäre in „konkurrierenden Unternehmen“ (also auch Scheinkonkurrenzen) zu ermitteln und zwischen informellen und kriminellen Ausbeutungspraktiken und Einflussnahmen auf die Staaten zu unterscheiden.6
II. | Missbrauchte Aufklärungstheorien? |
Zu untersuchen, woher geschichtliche Entwicklungen kommen und wohin sie führen, ist legitim. Große historische Tendenzen verlaufen nämlich, nicht nur theoretisch, wie Flugbahnen von Kanonenkugeln, nach nahezu „ehernen Gesetzen“. Sie folgen, unter der Prämisse, dass sie auf keine Hindernisse treffen, einer von der Schwerkraft der Erde bestimmten gekrümmten Linie, und man kann sogar genau berechnen, wo sie einschlagen. Der Ballistiker weiß freilich: Auf welche Hindernisse sie treffen, die sie ablenken, und wo sie dann wirklich einschlagen, lasst sich im Voraus nicht berechnen. Historiker, insbesondere Geschichtsphilosophen, haben – obgleich lineare historische Entwicklungen nach unseren Alltagserfahrungen kaum vorstellbar sind – immer wieder die langfristigen zivilisatorischen Prozesse von Gesellschaften und ihren Kulturen erforscht und zum Teil erstaunliche Gesetzmäßigkeiten herausgefunden, deren Logik sie sogar dazu verführte, Propheten zu spielen.7
Es waren zuerst die bürgerlichen Aufklärer, die die Entwicklung des Menschengeschlechts im Lichte der Lernfähigkeit sowie der fortschreitenden Erkenntnisse über die Natur, die Vernunft des Menschen, die Gesellschaften und die Welt betrachteten. Sie verliebten sich in ihre Vision, irgendwann würde die Menschheit eine Menschheit von Brüdern werden (die Schwestern wurden zunächst vergessen) und am Ende würde der Weltfriede ausbrechen und das Paradies auf Erden würde Wirklichkeit werden.
Wie armselig stünden wir in dieser Weltgeschichte herum, wenn es diese grandiose Utopie des Liberalismus von der individuellen Freiheit aller Individuen nicht gäbe? Sie war vor den bürgerlichen Revolutionen eine weltbürgerliche Idee. Aber sobald sie in die Praxis übersetzt wurde, verkam sie – beschleunigt durch den Druck der Reaktionäre – zur besitzbürgerlichen Ideologie. Mit Blick auf die Praxis der „faustischen Wirtschaftstheorien“, wie Oswald Spengler die Theorien von Adam Smith und Karl Marx nannte, war die Idee von Adam Smith eine für die besitzindividualistische Klasse, die über Grund und Boden sowie Kapital in Form von Produktionsmitteln verfügte. Karl Marx hatte jedoch, rund 90 Jahre später, als er sein eigenes Werk über den Wohlstand der Nationen – „Das Kapital“ – verfasste,...