1 Was ist Wirtschaftsphilosophie und was kann sie leisten?
Einleitende Überlegungen – auch für Skeptiker
1.1 Wirtschaft philosophisch denken? Der theoretische Aspekt
1.1.1 Den Anfang unserer Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Wirtschaft mag eine Begebenheit bilden, die Aristoteles von dem Mann berichtet, den man für gewöhnlich an den Beginn der abendländischen Philosophiegeschichte stellt. Thales von Milet, der zwischen etwa 625 und 547 v. Chr. in Kleinasien lebte – wo zu seinen Lebzeiten übrigens das Münzgeld eingeführt wurde –, Thales also wurde einmal »wegen seiner Armut die Nutzlosigkeit der Philosophie vorgehalten; darauf habe er aus sternkundiger Berechnung erschlossen, daß eine große Olivenernte bevorstehe; er habe noch im Winter, da er gerade über bescheidene Mittel verfügte, für sämtliche Ölpressen in Milet und auf Chios Anzahlungen hinterlegt und sie für einen geringen Betrag gemietet, da niemand ein höheres Angebot machte. Als aber die Ernte kam und zur gleichen Zeit und plötzlich viele Ölpressen gesucht wurden, habe er sie nach Bedingungen, wie sie ihm gefielen, vermietet; er habe viel Geld gewonnen und bewiesen, daß es den Philosophen leicht ist, reich zu werden, wenn sie wirklich wollen – jedoch sei es dies nicht, worauf sie ihr Bestreben richten«1. Die Anekdote, mit der Aristoteles nicht zuletzt auch die Entdeckung der Vorteile des Monopols dem Philosophen beilegt, verweist darauf, daß der Philosoph zumindest dann, wenn er will, aus den Kreisen des Wirtschaftslebens nicht einfach ausgeschlossen ist, ja daß er in diesen Kreisen sogar ganz überraschende Einsichten zu gewinnen vermag. Trotzdem scheint »Wirtschaftsphilosophie« nicht gerade das zu sein, worum es den Philosophen meistens geht und womit sie ihren eigentlichen Anliegen wirklich gerecht werden. In der Tat ist »Wirtschaftsphilosophie« so denn auch eine vergleichsweise junge Disziplin – zumindest im deutschen Sprachraum. Während vergleichbare, insbesondere französische, Werktitel schon im 19. Jahrhundert zu finden sind2, wurde im Deutschen der Terminus erstmals von dem Juristen und Rechtsphilosophen Fritz Berolzheimer (1869-1920) mit seinem Hauptwerk System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie in Anspruch genommen3. Berolzheimer gehörte einem hegelianisch inspirierten kulturphilosophischen Ambiente an, das die dramatische Zäsur des Ersten Weltkriegs nur bedingt überlebt hat. Insofern wundert es nicht, daß sein Programm trotz der Tatsache, daß von »Wirtschaftsphilosophie« fortan in Buch-, Zeitschriften- und anderen Titeln immer wieder die Rede war, noch nicht bedeutete, daß sich die Philosophie das Thema »Wirtschaft« sogleich und vorbehaltlos zu eigen gemacht hätte. Von einer grundlegenden Wende in diese Richtung kann vielmehr, wie wir noch sehen werden, erst mit der kontinentalen Rezeption der zunächst vorwiegend amerikanischen »business ethics« in den 70er und vor allem den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Rede sein4. Bis dahin blieben – trotz des Beispiels des Thales – Denkstile herrschend, die zutiefst von einem Bewußtsein einer scheinbar unüberwindlichen Sphärendifferenz zwischen Philosophie und Ökonomie bestimmt waren. Geist und Geld – reimt sich denn das, und ist es nicht in jedem Fall eine Mesalliance? Wer hätte es wagen wollen, sagen wir: einen Martin Heidegger bezüglich der ontischen Niederungen eines »Systems der Bedürfnisse« um Auskunft zu bitten? Und hatte nicht Platon bereits gelehrt, daß der Philosoph zwar über die Höhen des Himmels und auch die Tiefen der Erde Rechenschaft zu geben vermag, dabei zugleich aber »den Weg auf den Markt und zum Gerichtshaus nicht kennt«?5
1.1.2 Allerdings zeigt schon ein zweiter Blick, daß die Dinge schon deshalb so einfach nicht liegen, weil, wenngleich unter anderen Namen, die Themen der »Wirtschaftsphilosophie« viel tiefer in der Geschichte und auch im Denken der Philosophie wurzeln, als der prima-facie-Eindruck wahrhaben kann. Der gleiche Platon, der die Konzentration auf die Erkenntnis des Ewigen und die eigene Vervollkommnung empfahl, erweist sich bei näherem Zusehen als der erste systematisch verfahrende Vertreter einer »politischen Ökonomie«, die gerade aus der Distanz zu Handel und Wandel heraus die Gesetze und Rahmenbedingungen des Wirtschaftens in einem nach Gerechtigkeitsprinzipien eingerichteten Staat zu denken versucht – Platons Nomoi sind gerade in dieser Hinsicht das faszinierende Dokument einer ersten Annäherung an die Probleme des Eigentums, der Produktion und des Warentauschs, des Innen- und Außenhandels, die im Zeichen eines rationalen Kalküls steht. Es geht hier darum, Handel und Wandel jedenfalls nicht als Schicksal nur hinzunehmen, sondern verstehen und evaluieren zu können. Platons Schüler Aristoteles hat dann das gleiche Thema seinerseits aufgegriffen und unter anderem klar gemacht, daß die Ökonomie (deren Namen wir wesentlich ihm verdanken) im Rahmen einer Lehre vom Menschen als »politischem Lebewesen« (z˛øıon politikón) zu begründen sei. Ihr Ansatzpunkt ist die Nicht-Autarkie des einzelnen Menschen, die ihn auf Formen der Gemeinschaftsexistenz verweist, in denen jeweils auch die Gemeinwohlfrage zu stellen ist – ein Aspekt, der nach Aristoteles etwa die Verselbständigung eines »Finanzmarktes« verbietet, der sich von den realen Bedürfnissen aufeinander angewiesener Menschen abkoppelt und eben deshalb auch von jedem Gemeinwohlgedanken losgelöst hat. Auch wenn aus heutiger Sicht die antiken ökonomischen Strukturen, vor deren Hintergrund Aristoteles schreibt, als »unterkomplex« zu gelten haben, hat der Stagirite hier doch – für das ökonomische Denken vieler Jahrhunderte prägend – elementare Markierungen vorgenommen, an die wir uns zwanglos, auch im Zeichen aktueller Finanzmarktkrisen, erinnert fühlen können.
1.1.3 Platon und Aristoteles stehen beispielhaft für eine philosophische Denklinie, in der es aus ganz verschiedenen Perspektiven um eine prägnante, tiefenscharfe Erfassung der ökonomischen Sphäre ging. In bestimmtem Sinne hat in dieser Linie die Philosophie auch die Ökonomie allererst aus sich herausgesetzt – ähnlich, wie es in den Relationen Naturphilosophie → Naturwissenschaften, politische Philosophie → politische Wissenschaften (und anderen Fällen) gilt. Die Ökonomie hat dabei der Philosophie nicht nur Leitgesichtspunkte ihrer Fragestellungen und kategoriale Mittel entnommen. Sie verdankt ihr z. B. auch jenen »regulativen Optimismus«, dessen es in jedem Fall bedarf, wenn man ein scheinbar so opakes, ja irrationalitätsanfälliges Phänomen wie »den Markt«, einen so komplexen »Apparat« wie den der Bewirtschaftung einer entwickelten Industriegesellschaft rational zu erschließen versucht. Man wird – auch historisch – die These vertreten können, daß die moderne Ökonomie in ihrem letzten Antrieb vielleicht mehr am neuzeitlichen Rationalismus und etwa an dem großen Prinzip des »zureichenden Grundes« bei Leibniz partizipiert als der »Geist des Kapitalismus« es nach einer bekannten These des großen Soziologen Max Weber an calvinistischen Glaubenssätzen tut6. Die moderne Ökonomie ist ohne die Entdeckerfreude einer »beobachtenden Vernunft« (Hegel), die sich selbst überall in der Empirie am Werke findet, nicht zu denken, und gerade die großen scheinbaren Paradoxien, die den ökonomischen Theoremen der Konvertibilität von Eigen- und Gemeinnutz oder der vernünftigen Lenkung des Marktgeschehens durch eine unmittelbar »unsichtbare Hand« zugrunde liegen, setzen dieses Vertrauen der Vernunft in sich selbst, in ihr allgegenwärtiges Wirken voraus. Genau an diesem Punkt ist dann das Interesse der Philosophie an den Theoriebildungen der Ökonomie erwacht – von Fichte und Hegel an auf dem Kontinent, bei Bentham und Mill auf den britischen Inseln. »Wirtschaftsphilosophie«, die jetzt explizit Philosophie der ökonomischen Lebenswelt und des ökonomischen Denkens ist, etabliert sich zuletzt im Zeichen eines konkret zu buchstabierenden Rationalitätsversprechens, das die Philosophie seit Descartes als sich als solche begreifende Vernunftwissenschaft abgegeben hat. Daß dies mit einer Apologetik in bezug auf die jeweils realen Verhältnisse nichts zu tun hat, liegt immer dann auf der Hand, wenn man sich der Tatsache bewußt ist, daß die Gewißheit der Möglichkeit einer rationalen Dechiffrierung der menschlichen Lebenswelt die unabdingbare Prämisse ihrer rationalen Veränderung ist – bei aller konkreten Problematik ist gerade dies schon die Botschaft der Wirtschaftsphilosophie Fichtes, und auch bei Hegels (normativer) Fixierung der Insuffizienzen der bürgerlichen Gesellschaft liegen die Dinge nicht anders. »Wirtschaftsphilosophie« wird sich so auch auf den folgenden Seiten nicht einfach als passives Nach-Denken ökonomischer Realitäten verstehen. Aber sie wird bei dem Bewußtsein ansetzen, daß das Wirtschaftsgeschehen wie auch die ökonomische Theoriebildung nicht einfach der Vernunft verschlossen, sondern ihr durchaus zugänglich sind. Philosophie muß den Realitätskontakt nicht scheuen – auch Platon hatte, als er den philosophischen Lebensweg nicht »den Markt« kreuzen ließ, nicht die Weltflucht als Programm im Auge, sondern den Hinweis, daß die einfache Unmittelbarkeit der Involviertheit in Welt jedenfalls noch keine hinreichende Bedingung der Erkenntnis von Welt ist. Wir erinnern uns, daß nach Platons berühmtem Gleichnis der Philosoph, der die Höhle verlassen und zur Erkenntnis des wahrhaft Guten und der Wahrheit gelangt ist, doch auch wieder in die Höhle zurückkehren soll und wird, um dort »praktisch-aufklärerisch« zu wirken7. Auch, wenn...