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Wissenschaftstheorie

Eine Einführung

AutorHolm Tetens
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 2808
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406653322
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Was ist Wissenschaft? Was dürfen und sollen wir von ihr erwarten, was nicht? Diese Frage ist die Leitfrage der Wissenschaftstheorie. Holm Tetens versucht eine systematische Antwort. Dabei geht er auf die gegenwärtige Stellung der Wissenschaften innerhalb unserer Kultur ein und thematisiert Fragen wie die nach der Zuverlässigkeit des wissenschaftlichen Prognosewissens, nach dem auffälligen Streit der Experten in fast allen wichtigen Fragen und nach dem Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen und anderen, zum Beispiel religiösen Weltbildern.

Holm Tetens ist Professor für Theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin.

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Leseprobe

2. Mythische und wissenschaftliche Weltauffassung


Uns, die wir in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation leben, ist Wissenschaft eine der selbstverständlichsten Sachen in der Welt geworden. Darüber vergessen wir leicht, dass Menschen in ihrer bisherigen Geschichte die längste Zeit ohne Wissenschaft gelebt haben. Zudem steht uns nicht mehr klar vor Augen, wie einschneidend der Übergang zur wissenschaftlichen Auffassung der Wirklichkeit in Wahrheit gewesen ist. Das lässt sich sehr gut an der mythischen Weltauffassung illustrieren.

Wir besitzen viele und eindrückliche Dokumente für die mythische Sicht auf die Wirklichkeit. Zu den herausragenden Dokumenten ist die Ilias des Homer zu rechnen. Hören wir einen kurzen Augenblick in die Ilias hinein und führen uns vor Augen, wie dort ein Wagenrennen beschrieben wird.

«er hätt ihn eingeholt, Kopf an Kopf wär es ausgegangen wenn da nicht phoíbos apollon, der noch auf ihn zornig war diomédes die eingeölte Gerte aus der Hand geschlagen hätte: worauf es ihm vor blanker wut die tränen in die augen trieb daß eńmelos’ Stutengespann ihn weit hinter sich zurückließ weil er ohne den stachel der gerte immer langsamer wurde. als athene aber sah wie übel ihm apollon mitspielte schoß sie auf diomédes zu, herrscher über die stadt argos gab ihm die gerte zurück und lieh den pferden neue kraft: aufgebracht holte sie dann aber den sohn des ádmetos ein nütze ihre macht als göttin – und zerschmetterte sein joch. die stuten brachen rechts und links aus, die deichsel riß ab und eúmelos flog aus seinem Wagen, grad neben die Räder schürfte sich dabei die ellenbogen, mund und nase auf. eine große dicke beule auf der stirn heulte er laut vor zorn brachte aber kein wort heraus: es blieb ihm im Halse stecken. diomédes machte einen Bogen um ihn – und preschte jetzt allen weit voraus: athene hatte seinen schnellen hengsten neuen atem verschafft; sie sah drauf, daß er siegen würde.»[7]

Wie anders erlebt und beschreibt ein Mensch mit einer mythischen Sicht auf die Welt ein Geschehen als wir «wissenschaftlich aufgeklärten» Menschen.

«Wo wir natürliche Ursachen erkennen, Materialversagen, Ungeschicklichkeit und unverdientes Glück, führt Homer Erfolg und Misserfolg auf das Eingreifen von Göttern zurück. Nicht Diomedes entglitt die Geißel, ein Gott entriss sie ihm. Nicht Diomedes bekam sie wieder zu fassen, eine Göttin reichte sie ihm. Eine göttliche Beschützerin, nicht die wiedergewonnene Peitsche war es auch, die Diomedes’ Pferde von neuem beflügelte. Nachdem Eumelaos sich erholt hatte, suchte er die Ursache seines Unglücks nicht in Materialversagen, in der Nachlässigkeit beim Aufzäumen oder bei der Pflege des Geschirrs; er meinte, er habe verabsäumt, den Göttern vor dem Start zu opfern. Dafür sei er bestraft worden.»[8]

Wie war es möglich, dass die Griechen im Zeitalter des Mythos die Welt so anders wahrgenommen haben als wir, wo sie sich doch in ihrem Sinnesapparat, ihrer Gehirnentwicklung usw. von uns nicht mehr unterschieden? Ist es glaubhaft, dass die Griechen, wenn für sie «die Welt voller Götter» war, in Wahrheit nur «Gespenster» gesehen und trotzdem nicht bemerkt haben sollen, dass es Gespenster waren?

Wir neigen dazu, drei Dinge auseinanderzureißen, nämlich den Wahrnehmungsprozess, das Wahrgenommene und die Art und Weise, wie wir beschreiben, was wir wahrnehmen. Das ist höchst fragwürdig. Wie wir wahrnehmen und was wir von der Welt wahrnehmen, lässt sich nicht trennen von der Art unserer erlernten sprachlichen Reaktion auf das Wahrgenommene. Der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend spricht von «natürlichen Interpretationen».

«Es liegen nicht zwei Akte vor – die Wahrnehmung einer Erscheinung und ihr Ausdruck mittels der entsprechenden Aussage –, sondern nur einer, nämlich dass man in einer bestimmten Beobachtungssituation sagt oder denkt oder feststellt, ‹der Mond folgt mir› oder ‹der Stein fällt gerade zu Boden›. Man kann natürlich diesen Vorgang abstrakt in Teile zerlegen, und man kann auch versuchen, eine Situation herzustellen, in der Aussage und Erscheinung als psychologisch getrennte Prozesse auftreten, die darauf warten, zueinander in Beziehung gesetzt zu werden. Doch unter gewöhnlichen Umständen kommt es zu keiner solchen Trennung; die Beschreibung einer bekannten Situation ist für den Sprecher ein Ereignis, bei dem Aussage und Erscheinung fest aneinanderkleben. Diese Einheit ergibt sich aus einem Lernvorgang, der schon in der Kindheit beginnt. Von den ersten Lebenstagen an lernt man, auf Situationen in bestimmter Weise zu reagieren. Die Lernmethoden zusammen mit einem Wachstumsvorgang, der das natürliche Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt ist, gestaltet die ‹Erscheinung› und schaffen einen festen Zusammenhang mit Wörtern, so dass am Ende die Phänomene für sich selbst zu sprechen scheinen, ohne dass Hilfe oder Wissen von außen käme.»[9]

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen müssen wir uns nur vorstellen, dass Kinder von Anfang an unter der Anleitung von Erwachsenen auf Wahrnehmungen mit einer Göttergeschichte sprachlich zu reagieren lernen. Was sie dann «sehen», ist die Wirksamkeit einer in dem Geschehen gegenwärtigen Gottheit, die mit einer Geschichte fest verbunden ist, die sich in dem «gesehenen Phänomen» gerade erneut zuträgt und wiederholt. Wo wir zu sagen lernen: «Schau, das Korn wird jetzt reif», lernten die Kinder im Zeitalter des mythischen Weltzugangs, dass die Göttin Demeter in den Ähren anwesend ist, voll der Freude darüber, dass ihre Tochter Persephone (für vier Monate) gerade zu ihr zurückkehrt, nachdem Hades, der Gott der Unterwelt sie entführt hatte und er sie nun auf Geheiß des Göttervaters Zeus für einige Zeit wieder freigeben muss.

«Der Wurf einer Lanze, das Aufkommen von Sturm und Wind, die Bewegung der Wolken, der Sterne, des Meeres – in all dem äußern sich die Kräfte der Götter. Diese sind auch im Wandel der Jahreszeiten tätig, in dem Ausbrechen einer Krankheit, in der Erleuchtung, im Einfall, in der Weisheit, in der Selbstbeherrschung, in der Verblendung und im Leiden.»[10]

Mithin interpretiert die Wissenschaft Wahrnehmungen von vornherein völlig anders als der Mythos. Zwei Unterschiede springen besonders ins Auge:

Götterhandeln versus Naturgesetze: Anders als der Mythos es auffasst, liegen in der wissenschaftlichen Weltsicht dem Naturgeschehen keine zweckgerichteten Handlungen beseelter Götter zugrunde. Vielmehr basiert das gesamte Naturgeschehen auf unbeseelten und unbelebten materiellen Einzeldingen, die in Raum und Zeit nach zweckfreien und zweckblinden Regeln oder Gesetzen aufeinander einwirken und sich auf diese Weise verändern. Deshalb sind im Naturgeschehen keine Zwecke und Ziele wirksam, sondern materielle Objekte wirken nach Naturgesetzen aufeinander.

Numinose Substanzen versus Trennung von Begriff und wahrgenommenem Einzelgegenstand: Im Unterschied zum Mythos unterscheidet die wissenschaftliche Auffassung der Wirklichkeit zwischen konkreten Einzeldingen in Raum und Zeit und abstrakten, allgemeinen Begriffen. Die konkreten Einzeldinge lassen sich wahrnehmen, während die abstrakten Allgemeinbegriffe sich nur denken lassen. Wenn wir über die wahrgenommenen Dinge nachdenken, subsumieren wir sie unter die Allgemeinbegriffe. In der mythischen Weltsicht hingegen wurde das Allgemeine als Begriff nicht dem wahrnehmbaren Einzelnen gegenübergestellt,

«sondern Allgemeines und Besonderes bildeten miteinander eine so unauflösliche Einheit, dass sie für den mythisch Denkenden nicht einmal als deren Bauelemente erkennbar waren. Deswegen unterschied der Mythos auch nicht zwischen dem allgemeinen Gesetz, das nur in Gedanken zu erfassen ist, und dem Einzelnen der sinnlichen Wahrnehmung, das darunter subsumiert werden kann, sondern im Einzelnen sah er die Substanz eines numinosen und individuellen Wesens wirken, eines Gottes zum Beispiel, der überall im entsprechenden Phänomenbereich auf gleiche Weise anwesend und auch auf regelhafte (gesetzmäßige) Weise wirksam war. Daher übernehmen im Bereiche des Mythos numinose Eigennamen die Funktion von Allgemeinbegriffen. So spricht Homer nicht von der Morgenröte, sondern von Eos, nicht von einem Nordwind, sondern von Boreas, nicht von einem Regenbogen, sondern von Iris, nicht von einer Liebe, sondern vom Eros usw. Selbst wo Homer Allgemeinbegriffe nicht ausdrücklich durch numinose Eigennamen ersetzt, verbindet er mit ihnen doch konnotativ einen ganz anderen, dem heutigen Leser oft gar nicht unmittelbar erkennbaren Sinn, weil damit die Anwesenheit einer individuellen mythischen Substanz gemeint ist.»[11]

Es ließen sich weitere markante Unterschiede zwischen der wissenschaftlichen und der mythischen Auffassung der Wirklichkeit herausarbeiten. Wir wollen es bei den zwei genannten zentralen Unterschieden belassen.

Solange die mythische Sicht auf die Welt vorherrschte, konnte von Wissenschaft keine Rede sein. Die Menschen mussten sich erst allmählich und durchaus unter erheblichen intellektuellen Mühen aus dem...

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