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Wo leben wir denn?

Glückliche Orte. Und warum wir sie erschaffen sollten.

AutorTarek Leitner
VerlagChristian Brandstätter Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783850339551
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Wir haben es in der Hand - und das vergleichsweise leicht - unsere gesamte Lebensumgebung nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Weil es so einfach geworden ist, Gebäude welcher Art auch immer in kürzester Zeit zu errichten, brauchen wir keine überlegte Entscheidung zu treffen. Die Maybe-Gesellschaft geht vom Vielleicht aus: Wir lassen uns im Privaten und im Beruflichen so lange wie möglich alles offen. Das Credo von der Flexibilität überträgt sich auf unsere gebaute Umgebung. Dieser Zustand des Alles-zugleich-haben-wollens-und-das-sofort bildet sich in der Landschaft ab: ungeplant, achtlos, verschwendend - eine Wegwerfarchitektur, die unsere Umgebung schlicht verunstaltet. Unser Bewusstsein wird nicht zuletzt durch unsere Lebensumgebung geformt. Zeige mir, wie du baust, und ich sage dir, wer du bist, schrieb nicht umsonst schon Christian Morgenstern. Die gebaute Umgebung wirkt auf unseren Charakter, es darf uns daher nicht gleichgültig sein, wie es um uns herum aussieht. Ohne Sinn für Ästhetik stellen wir die Landschaft zu: Kommerz und Kitsch bestimmen unseren Alltag - auch auf bauliche Weise. Nur wenn wir die Machtfrage stellen, können wir die Schönheit in unserer Lebensumgebung zurückgewinnen: Eine das Leben für alle bereichernde Landschaft muss endlich zur politischen Kategorie werden.

Tarek Leitner, geboren 1972, Studium der Rechtswissenschaften, langjähriger Reporter und Innenpolitikredakteur beim ORF, seit 2004 Anchorman der 'Zeit im Bild', Österreichs meistgesehener Nachrichtensendung. Er war Lehrbeauftragter an der Fach-hochschule für Journalismus in Graz und wurde zwei Mal mit der TV-Romy als beliebtester Moderator ausgezeichnet. Bei Brandstätter erschien zuletzt Mut zur Schönheit (2012).

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Leseprobe

I.


UNSERE VERFASSTHEIT


Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. – FRIEDRICH NIETZSCHE

Die Erde in unserer Hand


Die Gestaltung unserer Lebensumgebung, das Siedeln der Menschen, das Bauen öffentlicher Infrastruktur wie Straßen oder Wasserleitungen, war nie darauf ausgelegt, dass wir uns wohl fühlen, dass es schön und gemütlich ist. Schon immer war es eine Frage des Möglichen. Was geht, das wird auch gemacht. Je größer, je schneller, je billiger – desto besser. Bis heute setzt sich im Bild unserer gestalteten Lebensumgebung und Landschaft nicht das rechtlich Gewünschte durch, oder gar das emotional Gewünschte, sondern das faktisch Mögliche. Bis vor einigen Jahrzehnten hat es eine solche Fülle an Regeln, Gesetzen, Verordnungen und Ingenieursnormen auch gar nicht gegeben, dass man den Eindruck hätte gewinnen können, es geht zumindest um das rechtlich Gewünschte. Aber selbst mit dieser Fülle, die von den Betroffenen meist nur als Schikane gegen die Verwirklichung ihrer Individualität, ihrer Kreativität oder ihres wirtschaftlichen Strebens ausgelegt wird, ist es doch wieder nur der ökonomisch oder militärisch Stärkere, der sich durchsetzt – und am Ende die gestaltete Lebensumgebung prägt.

Trotzdem brachte diese Entwicklung über viele Jahrhunderte für die Umgebung, in der die Menschen lebten, keine großen Änderungen mit sich. Wenn man das Land (als Gegensatz zur Stadt) betrachtet, war dessen Anmutung im Mittelalter eine ähnliche wie etwa um 1700. Und auch Ansichten, die 250 Jahre später entstanden sind, also nach Ende des Zweiten Weltkriegs, lassen vielfach eine Datierung nur zu, weil das Medium, auf dem die Abbildung zu sehen ist, kein Holzstich, sondern eine Photographie ist. Die Anmutung der ländlichen Welt war ähnlich wie zuvor.

Ganz anders die Entwicklung in den wenigen Jahren, die zwischen 1990 und 2015 liegen. Es sind Jahre, in denen wir die Anmutung unserer Lebensumgebung so radikal verändert haben wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Nie zuvor ist so viel Boden so schnell versiegelt worden, wie die Geographen das Asphaltieren, Zubetonieren oder Schottern nennen – also das Verschwinden natürlichen Bodens durch Häuser, Hallen, Brücken, Straßen, Parkplätze oder Swimmingpools. Und nie zuvor ist so viel Kubatur entstanden, wie Architekten den Raum nennen, der durch ein Bauwerk, gleich welcher Funktion, entsteht.

Und das, obwohl sich die Gesellschaft in diesem Vierteljahrhundert weniger tiefgreifend verändert hat, als zwischen zwei viel weiter auseinanderliegenden Vergleichspunkten in der Vergangenheit. Dennoch haben wir in den wenigen Jahren rund um die Jahrtausendwende das Ende einer ländlichen Kultur erlebt, wie sie seit Jahrhunderten bestanden hat. Ein gesellschaftlicher Wandel, den es in der Geschichte immer wieder – und auch immer wieder ganz radikal – gegeben hat, bedingt also nicht einen damit einhergehenden radikalen Wandel der gebauten Umgebung und damit eine Verhässlichung unserer Welt, die zunehmend unwirtlich wird und uns abstößt.

Diese Verhässlichung geschieht, weil uns technologisch keine Grenzen mehr gesetzt sind; weil wir uns die Welt tatsächlich untertan gemacht haben. In den 1950er Jahren ist uns diese Kraft schmerzlich bewusst geworden. Als die Amerikaner und kurz darauf die Sowjets Wasserstoffbomben testeten, mit denen sich die Menschheit plötzlich mit einer nie dagewesenen Leichtigkeit zur Gänze hätte in die Luft jagen können, waren wir nicht nur von einer enormen militärischen Bedrohung erschreckt, wie sie die Geschichte – wenn auch nicht so final – immer wieder geboten hat. Erschreckt hat vor allem der Umstand, das Leben auf diesem Planeten, unser aller Leben also, in der Hand zu haben und darüber – technologisch gesehen – vergleichsweise leicht verfügen zu können. Es verwundert, dass uns ein halbes Jahrhundert später dieselbe Möglichkeit, nun nicht militärisch, sondern ganz zivil gedacht, nicht ebenso erschreckt. Denn erstmals in der Menschheitsgeschichte ist es uns möglich, den gesamten Planeten mit unserer Zivilisation zu überziehen, die Oberfläche so zu gestalten, dass sie uns keinerlei Überraschungen mehr bietet. In gleichem Maße wie wir die gefährlichen und manchmal todbringenden Überraschungen eliminieren, verschwinden auch alle glückbringenden und schönen Überraschungen, die die Welt sehr wahrscheinlich bereithält. Wir streben es an, dass sich die Welt so verhält, wie wir das wollen – oder zumindest so, dass wir es vermutlich voraussagen können. Wir haben es in der Hand. Technologisch vergleichsweise leicht. Alle Unwägbarkeiten, die die Natur bereithalten würde, bekommen wir in den Griff: ungeplant, achtlos, verschwendend und unsere Umgebung immer hässlicher machend.

Der Mensch erscheint im Holozän heißt ein Buch von Max Frisch. Seine Welt verschwindet im Anthropozän. Diese Epochenbezeichnung ist zwar kein exakter Begriff der Erdwissenschaften, aber er hält dort Einzug. Geprägt wurde er vom Geologen Paul Crutzen, der für die Entdeckung des Ozonlochs 1995 den Nobelpreis erhielt15. Gemeint ist damit das Erdzeitalter, in dem alles biologisch, geologisch und atmosphärisch Neue vom Menschen gemacht ist – also die Epoche, in der wir gerade leben. Bemerkenswerterweise hat sie nicht mit dem negativen Zeitpunkt begonnen, zu dem es der Mensch theoretisch in der Hand hatte, die ganze Welt zu vernichten, sondern zu einem vermeintlich ganz positiven: Rund um die letzte Jahrtausendwende, infolge des Jahres 1989 und dem Siegeszug des globalisierten Kapitalismus, seit der Mensch durch seine gewaltige Kraft seine Lebensumgebung nach seinen Vorstellungen schaffen kann. Aber so positiv, wie das scheint, ist es nicht. Denn wir halten das Machen-können für derart positiv, dass ständig Machensollen daraus resultiert.

Als erste Stunde der großflächigen Landschaftsarchitektur (abseits kaiserlicher Schlossparkanlagen) gilt vielen die Anlage des quer durch das südliche Frankreich führenden Kanals, Canal du Midi16. Er erwuchs aus dem Machen-können. Erstmals war es möglich, ein so gigantisches Bauwerk über 240 Kilometer Länge zu errichten. Für die Möglichkeiten im 17. Jahrhundert war das ein gewaltiger Eingriff in die Landschaft. Aber es war letztlich kein brutaler Schnitt, weil die Maßstäbe ganz andere waren: Der Transportweg von einst ist heute eine Wasserstraße, auf der Urlauber in Booten die Seele baumeln lassen. Wo Güter von der Atlantikküste zum Mittelmeer gebracht wurden, erstreckt sich jetzt eine wohlig anmutende Landschaft; denn mit dem größten Bauprojekt des Sonnenkönigs ging die Pflanzung von 60 Tausend Bäumen einher. Das war gar nicht als verschämte Behübschung für den landschaftlichen Eingriff gedacht, sondern als Befestigung der langen Uferpartien, also gleichsam als technische Notwendigkeit. Und doch war die Notwendigkeit vielfach näher an der ursprünglichen Landschaft und sanfter in diese eingebettet, als es etwa die absurde Idee ist, mit der in den Schweizer Alpen die Landschaft zerschnitten werden soll. Im kleinen, gerade einmal Tausend Einwohner zählenden Ort Vals im Kanton Graubünden, will ein Steinbruchunternehmer gemeinsam mit einem Investor (da ahnt man schon die Richtung, in die es geht) einen 82-stöckigen Wolkenkratzer errichten17. Da bei solchen gigantomanischen Projekten nur der Superlativ gut genug ist (wer will schon das zweihöchste Haus Europas bauen?), muss das Dorfhochhaus selbstverständlich das bislang höchste europäische Gebäude (537 m), es steht in Moskau, unter sich lassen. Aus gutem Grund ist bis dato ein solches Projekt rechtlich an diesem Ort vorerst nicht möglich. Aber wessen Unternehmen gleich die Postleitzahl des Ortes, in dem man tätig wird, als Namen führt, es heißt schlicht 7132 AG, zeigt, wie es um die Machtansprüche steht – und was man sich von den Stimmbürgern erwartet, zu deren Vorteil das alles vordergründig sein soll.

Dieses Vorhaben belegt, wie das technologisch mögliche Machen-können in Machen-müssen umschlägt. Es muss doch möglich sein, argumentieren die Betreiber, solcherart auch hier zu bauen. So zeigt sich an einem solchen Bauvorhaben auch beispielhaft die Verfasstheit unserer Gesellschaft, als wären alle ihre Zutaten in eine hochhausähnliche gläserne Eprouvette gefüllt, die wir uns im Labor genau ansehen können; oder in diesem Buch, deren vier wesentliche Kapitel sie ausmachen.

Wie wir uns verzetteln, zeigt die rhetorisch gemeinte Frage des Turmplaners, warum der Bau von Hochhäusern nur Städten vorbehalten sein soll. Es ist die naive Frage des vermeintlichen Freigeistes, der meint: Alles soll überall immer möglich sein. Sie geht einher mit dem Unwillen, Grenzen zu ziehen – oder sie überhaupt zu erkennen. Hier heißt es in einer billigen Floskel: Unsere...

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