Litaneien
Die Litanei, eine alte christliche Gebetsform, ist ein Bittgesang im Wechsel zwischen Vorbeter und Gemeinde, bestehend aus einer Reihe von Anrufungen; jede einzelne Anrufung ergänzt die Gemeinde mit dem »Ora pro nobis« (»Bitte für uns«). Die Lauretanische Litanei heißt nach dem Marienwallfahrtsort Loreto und wendet sich an die Jungfrau Maria. Seit dem 16. Jahrhundert gibt es besonders viele und eindrucksvolle mehrstimmige Vertonungen. Mozart komponierte in Salzburg vier Litaneien, darunter zweimal die Lauretanische (KV 109 und KV 195). Die beiden anderen (KV 125 und 243) sind Sakraments-Litaneien (Litaniae de venerabili altaris sacramento). Sie dienen dem Lobpreis der Eucharistie und wurden zu Fronleichnam und bei Sakramentsandachten, oft auch in privatem Rahmen, gepflegt.
Mozarts Litaneien folgen musikalisch dem Typus der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Kantatenlitanei, die aus einer kontrastreichen Reihe unterschiedlicher Sätze besteht, unter Einbeziehung von Texten des Messekanons. Ähnlich wie in den Messen und Vespern sind Mozarts Partituren in einem Mischstil gehalten, der aus Sätzen im sogenannten »stile antico«, also kontrapunktisch-imitatorisch und repräsentativ, und im »stile moderno«, also konzertant und eher subjektiv, besteht.
Mozarts erste Marien-Litanei, Litaniae de Beata Maria Virgine (KV 109), vom Mai 1771 ist das schlichteste, unaufwendigste von den vier Werken. Sie besteht aus fünf kurzen Sätzen (»Kyrie« B-Dur – »Maria« F-Dur – »Salus informorum« d-Moll – »Regina Angelorum« Es-Dur – »Agnus Dei« B-Dur) und folgt sehr offensichtlich dem Vorbild einer Litanei von Vater Leopold Mozart, der vor allem ein Komponist geistlicher Musik war. Nach dem festlichen ersten Satz (Allegro) folgt ein Andante (¾), das zunächst nacheinander die vier Solisten zu Wort kommen läßt und ihnen auch, nach einem Chorsatz im Mittelteil, das letzte Wort überläßt. Der dritte Satz ist ein Adagio, das nach fünf Takten zum Allegro wird, insgesamt nur vierzehn Takte kurz ist und ganz dem Chor vorbehalten bleibt. Als Kontrast folgt ein reiner vierstimmiger Solosatz (Vivace) im geradezu ausgelassenen Tonfall der Buffo-Oper:
Das abschließende »Agnus Dei« ist ein Andante-Satz, in dem Chor und Soli wie im ganzen Werk lediglich vom Streichorchester (ohne Bratschen) und von drei chorverstärkenden Posaunen begleitet werden.
Auch Mozarts erste Sakraments-Litanei B-Dur (KV 125), vom März 1772, folgt einem väterlichen Vorbild, und man hat im Autograph die Korrekturen Leopolds nachweisen können. Sie ist neunsätzig und wird von einem etwas größeren Orchester mit Flöten, Oboen, Trompeten und Hörnern sowie Bratschen begleitet. Stilistisch klingen in diesem Werk neben den kirchenmusikalischen Einflüssen auch die Vorbilder der Sinfonia, des Konzerts und der Solo-Arie an. So erinnert das einleitende »Kyrie« in Charakter und formalem Aufbau stark an einen symphonischen Sonatensatz oder auch an einen Konzertsatz: Es hat eine rein instrumentale Exposition mit Haupt- und kontrastierendem Seitensatz,
beide auf der Tonika; der erste machtvolle Chor-Einsatz unterbricht als Adagio den formalen Prozeß (vergleichbar etwa dem Ablauf des Kopfsatzes im A-Dur-Violinkonzert, KV 219, wo sich vor die Solo-Exposition ebenfalls sechs Adagio-Takte schieben). Danach beginnt dann – wieder »molto allegro« – die zweite Exposition, nun mit dem Seitensatz, markiert durch ein Alt-Solo, auf der Dominante. Vor die Reprise schieben sich einige »Durchführungs«-Takte im Chorsatz, allerdings harmonisch im Bereich der Dominante verweilend. In der Reprise kehrt der Seitensatz als Sopran-Solo wieder.
Der zweite Satz »Panis vivus« (Andante F-Dur), basiert wieder auf dem Sonatensatz-Modell und wendet es nun auf eine ausdrucksvolle und sparsam koloraturenverzierte Sopran-Arie an, vom flötengefärbten Orchester begleitet. Es folgt ein machtvolles d-Moll-Adagio für den Chor (»Verbum caro factum«). Ihm schließt sich, im Sinne der farbigen Kontrastdramaturgie, nun ein längeres Molto allegro (»Hostia sancta«, B-Dur) im gemischten Soli-Tutti-Satz an, das nahtlos in das »Tremendum« (Adagio g-Moll) übergeht, jenen Abschnitt der Litanei, der auch traditionsgemäß in der Vertonung den programmatischen Aspekt betont (Triolen-Tremolo).
»Panis omnipotentia« (Andante Es-Dur, ¾) ist als Tenor-Arie das Pendant zum »Panis vivus«. Nach dem kurzen homophonen, in b-Moll beginnenden Chorsatz des »Viaticum« (Adagio) folgt das Riesengebäude der archaisch-strengen »Pignus«-Chorfuge (180 Takte). Das abschließende »Agnus Dei« ist zweigeteilt: zunächst »un poco adagio« als Koloratur-Arie (Sopran), dann übernimmt der Chor die Melodiephrase des Sopran-Anfangs und führt sie zum festlichen Abschluß.
Auch Mozarts zweite Marien-Litanei, Litaniae Lauretanae (KV 195) von 1774, hält bewunderungswürdig die Balance zwischen festlich repräsentativem Charakter und einer sowohl innigen als auch konzertanten »weltlicheren« Akzentuierung.
Das »Kyrie« (Adagio D-Dur) ist imitatorisch im Tutti-Soli-Wechsel angelegt und geht immer wieder kurzzeitig in homophone Abschnitte über. Das folgende »Sancta Maria« (Andante G-Dur) beginnt dann als stilles, verinnerlichtes Gebet mit einem ausgedehnten Sopran-Solo und steigert sich zu großer Ausdruckskraft, indem es die übrigen Solostimmen und auch den Chor hinzuzieht.
Das »Salus infirmorum« (Adagio) zeigt bereits durch die Wahl der Tonart h-Moll und durch seine punktierte Rhythmik im Orchester seine tiefernste Grundhaltung an. Die intervallische Führung der Stimmen unterstreicht diese große Ernsthaftigkeit, vor allem beim zweimaligen »ora pro nobis« des Chores, bei dem jeweils zwei Stimmen unisono im Kanon geführt werden und zweimal geradezu suggestiv die Gebärde des Tritonus reihen:
Im anschließenden »Regina Angelorum« (Allegro con spirito D-Dur) setzt nach dem Orchestervorspiel zunächst der Chor ein und überläßt dann dem Solo-Tenor mit seinen heiter-weltlichen Koloraturen weite Teile des musikalischen Ablaufes.
Zum Ausdrucksschwerpunkt wird das abschließende »Agnus Dei« (Adagio D-Dur): Es wird von einem anderthalbtaktigen Bläservorspiel eingeleitet und lebt dann vom Schmelz der empfindsamen Solo-Arabesken der Sopranstimme, zart von gedämpften Streichern grundiert. Der Chor bringt zunächst einen kurzen imitatorischen Einwurf von großer Intensität und beendet schließlich den Satz. Seine letzten Takte, nach einigen beherrscht ausdrucksstarken Koloraturen, verklingen ganz zurückgenommen im Piano, mit einer innig flehenden herabsinkenden Wendung – ein ungemein origineller und anrührender Schluß für ein zu Unrecht sehr vernachlässigtes Meisterwerk!
Die andere Sakraments-Litanei (KV 243), vom März 1776, beginnt quasi im eher offiziellen liturgischen Tonfall, im verhalten leuchtenden Es-Dur (Andante moderato); dieser Anfangsteil bildet dann zugleich verkürzt den Abschluß des ganzen Werkes und rundet so den Zyklus auch äußerlich. Dagegen kontrastiert effektvoll das koloraturenreiche Tenor-Solo des folgenden »Panis vivus« (Allegro aperto B-Dur), ein regelrechter Konzertsatz mit zwei ein wenig voneinander abweichenden Expositionen, Durchführung und Reprise.
Ein kurzes ernstes Chor-Largo (»Verbum caro factum«) leitet über die Dominante g unmittelbar zum nächsten Satz, dem »Hostia sancta« (Allegro comodo) mit seinem vokalen Tutti-Solo-Alternieren: kantabel und sanft das Solistenensemble, dagegen kontrastiert machtvoll der Chorsatz. Eine Überleitung der beiden Violinen führt, wie in KV 125, zum wiederum programmatisch mit Tremolo-Effekten und düsterer Harmonik ausgemalten »Tremendum« (Adagio) mit seinem ungemein eindringlich deklamierenden Chor,
dem ständig schaurige Posaunenakzente entgegengesetzt werden. Den größten Kontrast hierzu bildet danach das weltlich-liebliche Sopran-Solo im »Dulcissimum convivium«, zart vom flötengefärbten Orchester und seinen gedämpften Violinen begleitet; auch das Hörnerpaar wird ganz dezent solistisch eingesetzt.
Im »Viaticum« (Andante) sorgt ebenfalls die Instrumentation für die besondere Atmosphäre: Die Streicher zupfen, außer den Bratschen con sordini, und im Hintergrund steuern die drei Posaunen, zwei Hörner und zwei Fagotte die verhangen düstere Mischfarbe bei. Das Vorspiel führt suggestiv über eine chromatische Akkordfolge zum g-Moll-Einsatz des Chor-Sopranes, der in langen Tönen cantus-firmus-artig, nach Art einer Choralbearbeitung, das »Pange lingua«...