AUFGELÖST
Der schlanke Körper hing über dem Zaun. Das graue Fell wehte im Wind wie eine achtlos weggeworfene Wolldecke. Erloschene Augen. Der Wolf war über den Stacheldraht eines Weidezauns geworfen worden. Erschossen. Ein Mahnmal des Viehzüchters. Seht her, so geht es euch, wenn ihr euch auf mein Land wagt. Montanas Antwort auf die Rückkehr der Wölfe.
Ich streichelte zart die große Pfote. Meine erste Begegnung mit einem wilden Wolf hinterließ eine tiefe Traurigkeit und viele Fragen. Warum? Warum nur so viel Hass?
Noch in der Nacht hatte ich von einem Wolf geträumt. Ich lag im Schlafsack im Auto. Viele Stunden war ich durch die weiten Prärien von Wyoming und Montana gefahren. Als es dunkel wurde, parkte ich meinen Wagen am Rand einer einsamen Landstraße. Das Heulen der Kojoten begleitete mich in den Schlaf. Der Wolf in meinem Traum trabte auf leichten Pfoten durch das Land seiner Väter. Er sah mich lange an. Tief beglückt wachte ich am nächsten Morgen auf. Stille. Sonne. Gabelböcke zogen durch gelbes Weidegras. Dann fiel mein Blick auf den Zaun und den Wolf.
Meine schöne heile Welt war plötzlich gar nicht mehr so heil. Ich war aus meinem Alltag geflohen, um mich nur noch mit positiven Dingen zu umgeben. Wollte alles Negative hinter mir lassen. Und jetzt das. Warum war ich nur hierhergekommen?
Mein neues Leben hatte mit dem Tag meiner Scheidung begonnen. Ich tat das, was viele Frauen in einer solchen Situation tun: Ich beschloss, mein Leben radikal zu ändern, gab meine Zulassung als Rechtsanwältin zurück, hängte die Robe an den Nagel, verließ meine Kanzlei und begann zu schreiben. Ich wollte endlich meinen Traum leben. Schon viel zu lange hatte ich mich mit einem Beruf herumgequält, der mich nicht glücklich machte.
Eigentlich hätte meine berufliche Karriere ganz anders aussehen sollen. Nachdem ich fünf Jahre lang als Stewardess den Duft der großen, weiten Welt geschnuppert hatte, wollte ich »etwas Sinnvolles« mit meinem Leben anfangen. Mit dem unerschütterlichen Optimismus, die Welt vor dem Bösen bewahren und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen zu können, begann ich, Jura zu studieren. Begeistert stürzte ich mich in das Studium. Gegenüber meinen Kommilitonen, die direkt von der Schule kamen, konnte ich mit Lebenserfahrung punkten. Außerdem verfasste ich leidenschaftlich gern Schriftsätze und versuchte dabei, das Juristendeutsch in eine verständliche Sprache zu bringen. Das Erste Staatsexamen schaffte ich in Rekordzeit. Im Referendaralltag nutzte ich meine Vorkenntnisse aus dem Airlinegeschäft und begann, mich auf Luftverkehrsrecht zu spezialisieren. Praxis-Stationen beim Luftfahrtbundesamt und in der Rechtsabteilung des Frankfurter Flughafens rundeten meine Ausbildung ab. Ich hatte meine Aufgabe gefunden, wollte die erste Fachanwältin für Luftverkehrsrecht werden. Diese Positionen waren Anfang der achtziger Jahre noch rar. Weltweit konnte man die Zahl der Spezialisten an einer Hand abzählen. Vielleicht könnte ich sogar noch Weltraumrecht belegen und mich so meinem alten Kindheitstraum nähern, Astronautin zu werden. Im Kopf hatte ich eine klare Vorstellung von meinem künftigen Leben: Ich jettete als Spezialistin durch die Welt, wurde von der NASA angefordert und schrieb Gutachten darüber, wem der Mond gehört. Ein schöner Traum.
Die Realität war eine andere. Ich fand keine Anstellung in meinem Traumberuf. Um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, machte ich mich als Anwältin selbständig und mietete mir eine kleine Praxis, in der ich auch wohnen konnte. Es war sehr schwer, Aufträge zu bekommen. Strafdelikte, Mietstreitigkeiten und Scheidungen ernährten mich mehr schlecht als recht. Mein erster Mandant schuldet mir heute noch das Honorar. Er hatte seine Zivilklage verloren.
»Sie sind eine schlechte Anwältin«, begründete er die Nichtzahlung seiner Rechnung. »Sie sind schuld, dass ich den Prozess verloren habe. Von mir bekommen Sie keinen Pfennig.«
Die Rechtslage meines Mandanten war aussichtslos gewesen. Auch mit einem Spitzenanwalt hätte er den Prozess verloren. Aber er hatte dennoch recht. Ich war keine gute Anwältin. Jeder meiner noch so kleinen Fälle war für mich eine emotionale Herausforderung. Ich wollte, dass meine Mandanten ihr Recht erhielten. Empfand jeden Schriftsatz des gegnerischen Anwalts als persönlichen Angriff. Ich erstickte in Akten und quälte mich zu jedem Gerichtstermin. Mir fehlte die Distanz und Härte, um wirklich »gut« zu sein. Ich war zu sensibel.
Meine Kollegen hatten solche Probleme nicht.
»Du musst härter werden«, rieten sie mir.
Ja, um eine gute Anwältin zu werden, hätte ich härter werden müssen. Doch wie sollte ich das anstellen?
Vor jeder Gerichtsverhandlung bekam ich Magenschmerzen und musste mich übergeben. Ich wurde immer verzweifelter. Wo war mein ursprünglicher Traum, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, geblieben? Die Erfahrung lehrte mich nun, dass nicht die »Guten« gewannen, sondern jene, die die miesesten Tricks kannten. So konnte und wollte ich nicht für den Rest meines Lebens weitermachen.
Als dann eines Tages der Mann einer Mandantin aus Wut über den verlorenen Scheidungsprozess einen Fernseher durch das geschlossene Fenster in mein Büro warf, reichte es mir. Das war’s! Egal, was kommen würde, nichts könnte so schlimm sein wie das.
Genau an diesem Tag traf der Brief mit meinem Scheidungsurteil ein.
Schon seit einem Jahr lebte ich von meinem Mann getrennt. Unsere Ehe war nicht mehr zu retten gewesen. Ich war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und hatte mir eine eigene Bleibe gesucht, die ich mit gebrauchten und geschenkten Möbeln einrichtete. Zwei Räume meiner kleinen Mietwohnung funktionierte ich zur Anwaltskanzlei um: ein Büro und ein kleines Wartezimmer. An der Haustür prangte ein Messingschild: Elli H. Radinger, Rechtsanwältin, Sprechzeiten nach Vereinbarung.
Der Kontakt zu meinem Mann beschränkte sich auf das Nötigste. Wir hatten uns auf eine einvernehmliche Scheidung geeinigt, einen gemeinsamen Anwalt genommen und im Vorfeld alles geregelt. So war die Scheidungsverhandlung nur eine Formsache.
Jetzt hielt ich den Beweis in den Händen und war frei. Mein Blick fiel auf einen Spruch, der über meinem Schreibtisch hing: Der Preis der Freiheit ist der Verzicht auf die Bequemlichkeit. War das das Omen, auf das ich gewartet hatte?
Innerhalb von vier Wochen gab ich alles auf, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte, zum völligen Unverständnis meiner Familie und Freunde.
»Bist du wahnsinnig? Wovon willst du denn leben? Du könntest doch als Anwältin Erfolg haben und viel Geld verdienen.«
Ich antwortete nicht. Was sollte ich auch sagen? Sie hatten ja recht. Aber es kümmerte mich nicht mehr. Ich hatte alle Brücken abgebrochen und wollte nicht mehr in mein altes Leben zurück. Stattdessen kehrte ich zurück in den Schoß meiner elterlichen Familie. In ihrem kleinen Einfamilienhaus stand eine Einliegerwohnung leer. Die zwei Zimmer richtete ich mir mit den wenigen Möbeln ein, die ich aus der Mietwohnung mitgenommen hatte. Ich strich sie bunt an, hängte ein paar Poster auf und freute mich an meiner kleinen »Künstlerwohnung«. Mein ehemaliger Arbeitgeber bei der Lufthansa nahm mich sofort auf und gab mir meinen alten Job als Stewardess wieder.
In der Sommersaison arbeitete ich durchgehend und nutzte die Freitickets, um in der restlichen Zeit des Jahres auf eigene Faust durch Nordamerika zu reisen. Ich mietete einen kleinen Camper und erkundete Amerika und Kanada, blieb, wo es mir gefiel, und schrieb Artikel für deutsche Reisemagazine.
Besonders angetan hatten es mir die einsamen Gegenden Nordamerikas. Wochenlang hielt ich mich in den abgelegensten Gebieten von Arizona, Alaska und den Rocky Mountains auf. Das war meine Welt, in der ich mich zu Hause fühlte.
Bei einer dieser Reisen in den Südwesten der USA traf ich auch meine ersten »wilden Hunde« – Kojoten. Wenn ich mit dem Camper in den einsamen Wüstengebieten übernachtete, konnte ich sicher sein, sie als vierbeinige Begleiter in meiner Nähe zu haben. Nachts sangen sie mich mit ihrem melodischen Heulen in den Schlaf. Für mich war das die schönste Nachtmusik.
Kojoten haben schon immer eine führende Rolle in den Sagen und Märchen der Indianer gespielt. Die Wüstenstämme nennen sie »Gotteshunde«, »Trickster« oder »Präriewölfe« und schreiben ihnen übernatürliche Fähigkeiten zu. Ich bewunderte besonders ihre unglaubliche Kunst, sich jeder Situation anzupassen und das Beste daraus zu machen.
Ich beobachtete sie oft stundenlang. Manchmal tauchten sie wie Geister auf und liefen an mir vorbei, mit der Nase einer Spur folgend. Sie schienen mich absichtlich zu ignorieren. Aber ab und zu schaute mich einer der kleinen Gesellen direkt an. Ich spürte seinen Blick, noch bevor ich zu ihm hinsah. Sie störten sich nicht an mir, sondern schienen mir sogar zu vertrauen und zu erlauben, an ihrem Leben teilzunehmen. Das berührte mich sehr. Irgendwie fühlte ich mich ihnen nah, seelenverwandt.
Die Tage und Nächte in der Einsamkeit, die intensive Verbundenheit mit der Natur, die Begegnungen mit den Tieren – das ließ mich nicht mehr los. Ich wollte mehr erfahren über die Lebensweise der Kojoten und ihrer großen Verwandten, der Wölfe. Denn Wölfe hatten mich schon als Kind fasziniert. Ich war mit einem Schäferhund großgeworden, dem Tier, das äußerlich dem Wolf am nächsten ist. Statt mit anderen Kindern hatte ich nur mit ihm gespielt. Meine Eltern fanden mich oft in seiner Hütte, wo ich, eng an ihn gekuschelt, schlief. Er gab mir Sicherheit. Wie alle Kinder las auch ich...