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Wortgemälde in verdichteter Sprache

Interpretationen deutschsprachiger Lyrik seit dem Barock in 60 Beispielen

AutorMario Paulus
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl342 Seiten
ISBN9783656501992
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Fachbuch aus dem Jahr 2013 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, , Sprache: Deutsch, Abstract: Der vorliegende Band enthält Interpretationen deutschsprachiger Gedichte seit der Epoche des Barock. Die Textauswahl erhebt keinen Anspruch auf kanonische Gültigkeit. Die Gedichte sind angeordnet in fünf thematischen Bereichen, die jeweils einer chronologischen Ordnung folgen: 'Poesie', 'Mensch und Gott', 'Mensch und Natur', 'Liebe und Sehnsucht' sowie 'Individuum und Gesellschaft'. Auf diese Weise soll ein Panorama der deutschsprachigen Lyrik entstehen, das diese auf den Grundpfeilern der europäischen Kulturgeschichte - Antike, Christentum und Aufklärung - zeigt. Die Gedichte werden jeweils textimmanent gedeutet, unter Verknüpfung formaler, sprachlicher und inhaltlicher Fragestellungen. Aufgrund einer genauen Lektüre der Texte sollen Fragen aufgeworfen und möglichst auch schlüssig beantwortet werden, darüber hinaus besteht ein wichtiges Ziel dieser Arbeit jedoch darin, den Leser zum Weiterdenken und vielleicht auch zum Widerspruch anzuregen. Das Buch richtet sich insbesondere an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II, Studierende der Germanistik und jeden, der sich für Lyrik interessiert. Der Verfasser unterrichtet die Fächer Deutsch und Französisch an einem Gymnasium in Rheinland-Pfalz und ist Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Trier.

9/2004 Magister Artium (Universität Trier) 3/2005 1. Staatsexamen (Universität Trier) 5/2007 2. Staatsexamen (Staatliches Studienseminar Speyer) 8/2007 Studienrat (Paul-Schneider-Gymnasium Meisenheim) seit 5/2014 Oberstudienrat (Paul-Schneider-Gymnasium Meisenheim) seit 2/2015 Dozent für Fachdidaktik Deutsch (Universität Trier)

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Leseprobe

I. Poesie


 

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. […] Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtkunst ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.[2]

 

Mit diesen Worten charakterisiert Friedrich Schlegel in seinem 116. Athenäumsfragment das Wesen romantischer Dichtkunst. Diese kunsttheoretischen Äußerungen eines der wichtigsten Vertreter der Frühromantik verdeutlichen vor allem zwei zentrale Wesensmerk-male moderner Dichtkunst: erstens ihre Selbstreflexivität. Die romantische Poesie ist sich ihrer Modernität bewusst – in Abgrenzung von der Kunst der klassischen Antike, die nicht mehr als gesetzgebendes Vorbild angesehen wird. Diese Feststellung ist für die moderne europäische Dichtkunst unhintergehbar. Hinzu kommt – zweitens – die Autonomie der Kunst, die sich aus der proklamierten Freiheit des Dichters ergibt, der sich keinerlei außerliterarischen Gesetzen mehr unterwirft. Daraus leitet Schlegel die Forderung ab, dass alle Poesie romantisch sein solle, da wahre Poesie auf dieser Autonomie basiere.

 

Aus ästhetischer Sicht ist sicherlich festzuhalten, dass der Beginn der Romantik gleichzeitig den Beginn der Moderne bedeutet. Wenn der vorliegende Band dazu einladen will, deutschsprachige Gedichte der letzten 350 Jahre zu lesen, sie in ihrer sprachlichen Schönheit zu erfassen und über sie nachzudenken, so ist es durchaus naheliegend, mit einem Gedicht zu beginnen, das die Bedeutung der Poesie selbst behandelt. Dazu bietet sich die Epoche der Romantik aus den bereits genannten Gründen an.

 

Doch der Auszug aus dem berühmt gewordenen Fragment Friedrich Schlegels macht auch deutlich, wie die Romantiker das Wesen der romantischen Poesie im Speziellen sahen: Zunächst einmal ist wichtig festzuhalten, dass es um Progressivität geht, dass also die romantische Kunst ihrem Wesen nach nie vollendet sein kann. Dies ist schon deshalb einleuchtend, weil sie den universalen Anspruch verfolgt, die schärfsten Gegensätze miteinander zu verbinden. Beispielsweise sollen Kunst und Leben eins werden, sollen Wunderbares und Alltagswelt miteinander verschmelzen. Universalität – das bedeutet aber auch, dass es die uns heute geläufige Aufteilung der Literatur in diverse Gattungen dem Wesen der Poesie nach eigentlich gar nicht gibt, bzw. dass diese Trennung aufgehoben werden soll. So ist es kein Zufall, dass das ausgewählte Gedicht einem Romanfragment entstammt, nämlich dem zweiten Teil des „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis.

 

Novalis (1772-1801)[3]


 

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

 

Sind Schlüssel aller Kreaturen

 

Wenn die so singen, oder küssen,

 

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

 

Wenn sich die Welt ins freye Leben

 

Und in die < freye > Welt wird zurück begeben,

 

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

 

Zu ächter Klarheit wieder gatten,

 

Und man in Mährchen und Gedichten

 

Erkennt die < alten > wahren Weltgeschichten,

 

Dann fliegt vor Einem geheimen Wort

 

Das ganze verkehrte Wesen fort.

 

Die heilende Kraft des geheimen Wortes


 

Novalis hat seinen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ als eine „Apotheose der Poësie“ in zwei Teilen angelegt. Der Titelheld, ein junger Mann, soll zunächst zum Dichter reifen und dann als Dichter verklärt werden. Somit handelt es sich auf den ersten Blick durchaus um einen Entwicklungsroman Goethescher Prägung, allerdings hat Novalis ihn bewusst gegen Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ verfasst, da es ihm eben nicht darum geht, einen abgeschlossenen Entwicklungsprozess literarisch darzustellen, sondern eine unendliche Annäherung an das angestrebte Ideal. Dabei spielt die Poesie die zentrale Rolle; sie soll eins werden mit „dem Leben“ und gleichzeitig diesen Prozess in Gang setzen und halten. Dies ist auch der philosophische Grund dafür, dass die Titelfigur ein (werdender) Künstler ist. An vielen Stellen des Romans werden das Wesen und die Rolle der Kunst reflektiert.

 

Im zweiten Teil, der Fragment geblieben und 1802, also nach Novalis’ Tod, von Ludwig veröffentlicht und kommentiert worden ist, findet sich das vorliegende Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“, das viele Bezüge zur Romanhandlung des ersten Teils ausweist, durchaus aber auch für sich genommen gelesen werden kann.

 

Das Gedicht besteht aus zwölf Versen, die paarweise gereimt sind. Das Metrum ist nicht einheitlich; Novalis hat sich des Knittelverses bedient. Die gedankliche Struktur ist ebenso klar wie die syntaktische: Das gesamte Gedicht bildet eine Hypotaxe, die aus fünf aneinander gereihten, jeweils zwei Verse umfassenden Nebensätzen besteht und dem abschließenden Hauptsatz, der ebenfalls ein Distichon bildet. Es werden Bedingungen aufgezählt, die erfüllt sein müssen, damit die Welt von ihrem „verkehrte[n] Wesen“ (Vers 12) befreit wird. Akzentuiert man stärker die Tatsache, dass der erhoffte Zustand noch nicht eingetreten ist, so wird man die Nebensätze eher konditional auffassen, ist man sich sicher, dass das Ersehnte einst eintreten wird, ist ein temporales Verständnis näher liegend. Beides ist auf Basis des Textes sicherlich zu rechtfertigen.

 

Welche Voraussetzungen müssen nun aber erfüllt sein, damit die Utopie Wirklichkeit wird, und wie ist dieser anzustrebende Zustand zu charakterisieren?

 

Zunächst einmal dürfen „Zahlen und Figuren“ (Vers 1) nicht mehr die „Schlüssel aller Kreaturen“ (Vers 2) sein. Dies bedeutet, dass eine einseitig rational argumentierende Vernunft abzulehnen ist; der Schlüssel zum Verständnis der Welt liegt nicht in formalisierendem Denken. Zahlen und Figuren haben miteinander gemeinsam, dass sie etwas klar zu definieren versuchen – sei es mathematisch oder dadurch, dass beispielsweise einer abstrakten Idee feste Umrisse verliehen werden sollen. Die Negation „nicht mehr“ (Vers 1) sagt aus, dass für die Allgemeinheit genau diese Denkweise jedoch zutrifft. Erst wenn sich dies geändert haben wird, wird sich die Situation zum Besseren hin verändern. Geistesgeschichtlich wendet sich Novalis also gegen die Aufklärung, zumindest jedenfalls gegen die vorkritische, auf die Macht der Ratio vertrauende Aufklärung.

 

In die gleiche Richtung weist auch das nächste Distichon. Der Teilsatz beginnt anaphorisch zum ersten, nämlich ebenfalls mit der Konjunktion „Wenn“. Hier wird die Bedeutung der Kunst – speziell des Gesangs – thematisiert sowie die Erfahrung körperlicher Liebe. Singende und küssende Menschen sollen einst mehr als wissenschaftlich arbeitende Menschen wissen; Kunst und Liebe sind also Wege, sich die Welt anzueignen, sie in ihrem Wesen zu erkennen. Das Nomen „Tiefgelehrten“ (Vers 4) ist ein Neologismus und ironisiert sicherlich das gängige Adjektiv „hochgelehrt“, das die Überlegenheit der „Gelehrten“ vor den „Unwissenden“ suggeriert. Hier wird also zum einen problematisiert, dass unser wissenschaftliches Erkenntnisvermögen begrenzt und fragwürdig ist, und zum anderen wird dem gegenüber gestellt, dass es sehr wohl möglich sein kann, die Welt singend und liebend zu „verstehen“. Die Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit, wie sie in der Aufklärung verbreitet war, wird also fortgesetzt und dahingehend zugespitzt, dass eine Alternative aufgezeigt wird. Kunst und Liebe sollen an die Stelle der Wissenschaft treten bzw. diese ergänzen. Vor allem werden jene Wissenschaftler der Lächerlichkeit preisgegeben, die sich der körperlichen Liebeserfahrung entziehen und sich die Welt rein kognitiv anzueignen versuchen. Offenbar ist Novalis der Auffassung, dass dieser Zustand gegenwärtig besteht, jedoch in einem zukünftigen, positiveren Zeitalter beendet sein wird.

 

Daran anknüpfend, wird in den nächsten beiden Versen die Offenheit des Individuums, also dessen Fähigkeit, Grenzen zu überwinden und sich selbst zu überschreiten, als nächste Voraussetzung angeführt. „Die Welt“ (Vers 5) solle sich „ins freye Leben / […] begeben“ (Vers 5f.), was bedeutet, dass dadurch, dass jeder Einzelne neue Wege beschreitet und den Weg in die Freiheit sucht, die Welt als solche geprägt und verändert wird. Diese Veränderung wird in Vers 6 deutlich, wenn die Welt nunmehr ihrerseits als „<freye> Welt“ bezeichnet...

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