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ERINNERUNG
Erinnerung, das größte Geschenk der Natur,
und von allen das Wichtigste für dieses Leben.
PLINIUS DER ÄLTERE, 1. JAHRHUNDERT N. CHR.
Ich konstruiere meine Erinnerungen mit meiner Gegenwart,
ich bin in die Gegenwart zurückgeworfen, verlassen.
An die Vergangenheit versuche ich vergebens anzuknüpfen: Ich
kann mir nicht entkommen.
JEAN-PAUL SARTRE, DER EKEL (1938)
Ich bin mehr als mein Gehirn, aber meine Erinnerungen sind das, was mich ausmacht. Wenn ich mich also an nichts erinnern kann, wer bin ich dann? … Ich weiß nicht, wann es Zeit ist, zu gehen.
NICOLA WILSON, PLAQUES AND TANGLES (2015)
Ireneo Funes stürzte vom Pferd und verlor das Bewusstsein. Als er das Bewusstsein wiedererlangte, war er gelähmt, aber mit einem unfehlbaren Gedächtnis ausgestattet – übermenschlich, könnte man sagen. Er konnte sich an jeden Traum und Tagtraum erinnern, den er je gehabt hatte. »Er kannte die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 und konnte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, der ihm nur ein einziges Mal zu Gesicht gekommen war, oder mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Río Negro am Vorabend des Quebracho-Gefechtes aufgewühlt hatte.« Funes, dessen Erinnerung nun grenzenlos war, entwarf ein System, bei dem er allen Zahlen bis 24 000 Namen gab. So hieß die Nummer 7013 zum Beispiel »Maximo Perez« und zu 7014 sagte er »Eisenbahn«.
Natürlich ist Funes nur eine fiktive Gestalt, ein Produkt des außergewöhnlichen Verstandes des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges. In seiner Kurzgeschichte Das unerbittliche Gedächtnis stellt er fest, dass Funes’ Zahlensystem und die nicht weniger verwirrende mentale Katalogisierung sinnlos und für jeden außer ihm selbst nicht nachvollziehbar sind. Aber zumindest zeigen sie uns, was in seinem Kopf vor sich ging. »Sie gestatten uns einen flüchtigen Blick oder einen Rückschluss auf die verwirrende Welt, in der Funes lebt.«
Das ist die Art von Welt, die wir in diesem Kapitel erforschen wollen. Wir werden Menschen begegnen, die sich im Hinblick auf den Umfang und die Genauigkeit ihres Gedächtnisses an Funes annähern, aber umso erstaunlicher sind, da es sich um reale Menschen handelt. Und wir werden auch den anderen Weg gehen und sehen, inwiefern die Fähigkeit des Erinnerns empfindlich, verformbar und völlig unzuverlässig ist – und das ist auch gut so. Die Erinnerung ist genauso seltsam wie, und unter Umständen noch geheimnisvoller als, die absurdeste und schrägste Borges-Geschichte. Während wir voranschreiten, sollten Sie im Hinterkopf behalten, dass die Aussage »Sie hat ein erstaunliches Gedächtnis«, zwei Bedeutungen hat. Die erste ist, dass diese Person über die Fähigkeit verfügt, viele Informationen zu speichern. Die zweite bezieht sich darauf, dass der Inhalt bemerkenswert ist. Wir werden uns meistens auf die kognitive Fähigkeit konzentrieren.27 Lassen Sie uns mit einer Zahl beginnen. Es ist eine, an die wir uns alle zumindest noch aus Schulzeiten schwach erinnern: Pi, das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser. Sie beginnt mit 3,14159… und geht immer weiter. Sie ist unendlich und irrational und viele verfallen ihrer Faszination. Zum Teil mag die Anziehungskraft spirituell sein, für andere ist der Sog vielleicht eher eine »weil es da ist«-Begründung von Bergsteigern. Gedächtnissportler – wegen ihres intensiven Trainings so genannt – werden besonders von Pis Endlosigkeit angezogen.
Akira Haraguchi aus Kisarazu, nahe Tokio, zählte 2006, im Alter von 60 Jahren, 100 000 Nachkommastellen von Pi auf, eine Meisterleistung, die mehr als 16 Stunden dauerte. Für ihn repräsentiert Pi eine spirituelle Suche nach Bedeutung. »Pi-Stellen aufzusagen hat dieselbe Bedeutung wie das Skandieren des buddhistischen Mantras und das Meditieren«, sagt er. »Buddhas Geist steckt in allem, was kreist. Meiner Meinung nach ist Pi das ultimative Beispiel dafür.« Er ist Weltmeister, obwohl das Guinnessbuch der Rekorde seine Rezitation nicht aufgenommen hat.
Der offizielle Guinness-Rekordhalter ist der 23-jährige Rajveer Meena aus dem Sawai Madhopur Distrikt in Rajasthan, Indien. Am 21. März 2015 sagte Meena im Vellore Institute of Technology in Tamil Nadu 70 000 Nachkommastellen auf. Seine Augen waren dabei verbunden. Die Meisterleistung dauerte neun Stunden und sieben Minuten. Er erzählte mir, dass seine Erziehung einer der Faktoren sei, die ihn motivierten. Er wollte zeigen, dass er trotz seiner Abstammung aus einfachen Verhältnissen den härtesten Gedächtniswettbewerb der Welt gewinnen konnte.
Diese Gedächtniszauberer haben unterschiedliche Motivationen und setzen verschiedene Techniken ein. Aber im Wesentlichen übertragen beide die Zahlen in eine Geschichte. Wenn sie die Zahlen aufsagen, erzählen sie im Kopf eine Geschichte und übersetzen diese zurück in Zahlen. Haraguchi verwendet ein System, das auf Kana, den beiden Silbenschriften des Japanischen, basiert. Die ersten 50 Stellen dieses Systems lauten (übersetzt ins Deutsche): »Also, ich, dieses zerbrechliche Wesen, das seine Heimatstadt verlassen hat, um Seelenfrieden zu finden, wird in finsteren Ecken den Tod finden; man kann leicht sterben, aber ich denke positiv. Man kann nur hoffen, dass die Geschichte in den verbleibenden 100 000 Nachkommastellen noch ein bisschen Fahrt aufnimmt.«
Meena assoziiert Zahlengruppen mit Wörtern, so wie Funes in der Geschichte von Borges. Als ich mich mit ihm unterhielt, gab er mir ein Beispiel. »Ich gehe aus dem Haus und treffe Roger Federer, gehe in den Park, nehme mir ein Paar Jeans, fahre für 50 Dollar mit dem Taxi ins Büro, wo ich 100 Dollar verdiene.« Umgesetzt ist das die Zahl 749099950100: Ich (74) gehe aus dem Haus und treffe Roger Federer (90), gehe in den Park, nehme mir ein Paar Jeans (999), fahre für 50 Dollar mit dem Taxi ins Büro, wo ich 100 Dollar verdiene.
Er brauchte über sechs Jahre, um sich die Geschichte für eine Abfolge von 70 000 Nachkommastellen einzuprägen. Abgesehen davon, dass er dadurch zeigen konnte, der Weltbeste zu sein, »war es eine gute Methode, um Geduld und Selbstvertrauen zu fördern«, erklärt Meena mit ausdruckslosem Gesicht. Diese Qualitäten wurden auf die Probe gestellt während der siebenmonatigen Wartezeit, bis sein Versuch offiziell bestätigt wurde: »In der Nacht, nachdem ich vom Guiness World Records eine E-Mail bekam, dass mein Rekordversuch erfolgreich gewesen sei, konnte ich nicht schlafen. Immer wieder habe ich die E-Mail gelesen.«
Wenn ich die Menschen, die sich Pi einprägen, verstehe, komme ich der Sache vermutlich ein bisschen näher. Also scrolle ich ein bisschen durch eine Website, die Pi mit einer Milliarde Nachkommastellen auflistet.28 Ich mache das nun schon eine Weile und der Scroll-Marker am Rand hat höchstens 5 Prozent seines Wegs bis zum Seitenende zurückgelegt. Ich habe den Eindruck, mein Verstand verknotet sich, wenn ich das zu lange mache. Die endlosen Zahlen erinnern an den Film Matrix, aber ich kann nichts in ihnen erkennen, weil da nichts zu erkennen ist. Pi ist unendlich und wurde bisher bis auf 22 Billionen Nachkommastellen berechnet. Niemand hat (bisher?) diese Zahl online gestellt. Ich kehre zurück zum Anfang der Nachkommastellen, 3,14159 … und kopiere die ersten 22 514 Nachkommastellen heraus. Das ist nur ein Bruchstück (auch eine Billion Nachkommastellen einer unendlichen Zahl sind nur ein Bruchstück) und betrachte die Zahlen mit mehr Muße.
Das erinnert mich an eine andere Erzählung von Jorges Luis Borges Die Bibliothek von Babel, in der es um eine riesige Bibliothek aller möglichen Bücher geht, die sämtliche Kombinationen des Alphabets enthalten. Der überwiegende Teil der Buchstabenkombinationen scheint unsinnig, aber ab und zu findet sich doch ein verständliches Wort oder gar ein zusammenhängender Satz. Die Menschen in der Bibliothek verbringen ihr Leben mit der Suche nach Büchern, die eine Bedeutung haben. Wenn ich mein Bruchstück von Pi betrachte, entdecke ich seltsame Zahleninseln: gehäuft Wiederholungen der Zahl Neun, eine kurze Reihe von Nullen und eine, die aussieht wie zweistellige Zahlen oder Bereiche, in denen sich stachelige Siebener wie ein Leiterspiel-Zickzack durch die Ziffern schlängeln. Aber das ist auch schon alles. Ich erkenne hier keine Bedeutung und ich verstehe auch nicht, dass Menschen sich in diese Zahlen vertiefen können. Und wie soll man sich all diese Zahlen merken?
Für Daniel Tammet haben diese Zahlen jedoch eine Bedeutung. Für ihn haben Zahlen eine Aura. Sie haben Farbe, Struktur, Form – und seltsamerweise sogar Gefühl. Zum Beispiel ist für Tammet die Zahl...