Es könnte alles so einfach sein!
Oder: Blumenwerfen für Anfänger
Die Menschen bauen zu viele Mauern und zu wenige Brücken.
ISAAC NEWTON
Wissen Sie was? Ich fühle mich gerade so gar nicht nach Wertschätzung. Denn ich sitze am Computer und kämpfe mit einem weißen Blatt Papier. Der Cursor blinkt höhnisch. So, als wenn er mir sagen wollte: „Na, läuft nicht, oder!?“
Mir fällt partout nichts ein, obwohl mein Kopf eigentlich voll ist mit Geschichten, Ideen, Statements und Erlebnissen. Aber ich bringe es gerade nicht auf die Straße. Frust macht sich breit.
Ich beschließe, den Rechner kurz mal mit Missachtung zu strafen und frische Luft zu schnappen. Tief durchatmen. Post holen. Zu Fuß die vier Etagen runter. Bisschen Blut durch die Adern jagen in der Hoffnung, dass der volle, aber doch irgendwie leere Kopf so auch ein bisschen frische Energie abkriegt.
Unten angekommen, sehe ich ihn. Er steht mit dem Rücken zu mir, aber seine rot gelbe Jacke verrät ihn sofort: der Paketbote. Hat geklingelt, wahrscheinlich schon mehrfach, und wartet auf eine offene Tür.
Ich halte kurz inne. Wenn ich jetzt aufmache, bleibt die Verteilung der Pakete an mir hängen … Wie heißt noch mal das Kapitel, bei dem ich gerade nicht weiterkomme: Wertschätzung im Alltag? Ich öffne die Tür …
Klar, ich müsste ihm die Pakete nicht abnehmen, sie sind ja nicht für mich und meist zieht sich die Übergabe auch etwas hin mit mehreren verschiedenen Nachbarn. Aber der Paketmann hat so einen Dreierpack weniger auf seiner stressigen Tour gegen die Uhr.
Er bedankt sich. Für einen Berliner sogar ziemlich überschwänglich. Habe ich da ein Lächeln in seinem Gesicht gesehen? Ich sprinte mit einem guten Gefühl die Treppe hinauf. Schnell wieder an den Computer. Denn in mir macht sich ein Gedanke breit, sehr klein und zerbrechlich noch. Ich will ihn nicht verlieren. Aber schon beim Wohnungstüraufschließen merke ich, dass der Gedanke größer wird. Er nimmt den ganzen Raum ein.
Es fühlt sich ein bisschen so an, als höre ich ein schönes Lied. Es ist nicht besonders neu, aber stimmig, ich fühle mich bei dieser Melodie aufgehoben.
Ich sauge die Musik auf. Oder den Gedanken. Er stammt nicht von mir. Aber ich habe mich an ihn erinnert. Es ist ein Spruch von Veit Lindau, einem Coach und Autor. Der hat das, was ich gerade erlebt habe, in wunderbare Worte gefasst:
„In jedem von uns schlummert ein Held.
Du kannst vielleicht nicht die ganze Welt retten.
Aber du kannst heute die Welt eines anderen Menschen erhellen.
Durch ein Lächeln, ein Kompliment, eine Berührung, einen Kaffee, eine kleine Hilfeleistung.
Und wenn wir das alle tun, ist eines Tages auch die Welt ein guter Ort.“
Klingt blumig und ein bisschen kitschig obendrauf, aber es ist vielleicht tatsächlich so einfach. Nehmen Sie sich kurz Zeit für eine kleine Gedankenreise. Wo haben Sie kürzlich die Welt eines anderen Menschen erhellt? Wer hat Ihnen zuletzt ein Kompliment gemacht, ein Lächeln geschenkt, die Tür aufgehalten oder einen Kaffee besorgt?
Ich denke sofort an einen Obdachlosen, den ich letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt am Potsdamer Platz gesehen habe. Ich war mit meiner Familie unterwegs und habe ihm im Vorbeigehen eine kleine Spende gegeben. Worauf er sagte: „Behalt das lieber für dich. Du hast eine kleine Tochter, die braucht das nötiger als ich!“
Ich gehe bewegt weiter, lasse seine Worte kurz sacken und sage dann zu meiner Frau: „Moment, komme sofort wieder.“ Dann kehre ich zurück zu dem Mann und gebe ihm einen Schein mit den Worten: „Das hat mich gerade sehr bewegt. Was für eine Einstellung – dein Blick für andere trotz deiner Situation. Bitte nimm diesen Schein. Meine Tochter muss deswegen auf nichts verzichten …“
Danach habe ich mich neben ihn gesetzt und wir haben einige Minuten gequatscht. Darüber, wie es ihm geht, wie es mir geht, warum er auf der Straße lebt, warum er zu seinem Sohn und anderen nahen Verwandten keinen Kontakt mehr hat und über einiges mehr.
Wer hat hier wen wertgeschätzt? Wir beide uns gegenseitig. Wir haben uns gegenseitig die Welt erhellt.
Seit unserer tieferen Auseinandersetzung mit dem Thema fallen mir immer mehr Bezüge und Beispiele und Gelegenheiten im Alltag auf. Es ist ein Prinzip der selektiven Wahrnehmung: Man wird sich einer Sache bewusst oder hat sich damit intensiver beschäftigt, und plötzlich begegnet einem genau diese Sache viel häufiger im Alltag als vorher. Nicht, weil sie plötzlich häufiger existiert, sondern weil man dafür sensibilisiert wurde.
Als meine Frau schwanger war und wir durch unseren Kiez spazierten, dachte ich: Mensch, es sind aber viele schwangere Frauen unterwegs. Waren natürlich nicht mehr oder weniger als sonst, aber mir ist es aufgefallen.
Und genauso geht es mir auch mit der Wertschätzung. Ein Beispiel nach dem anderen fiel mir auf oder zu. Ein Werbeplakat hier, ein zufällig aufgeschnapptes Gespräch da. Im Radio beim Zappen durch die Sender poppte plötzlich das Interview eines Psychologie-Professors zur Bedeutung von Wertschätzung im Arbeitsleben auf. Wäre mir vorher nie aufgefallen! Ich war beeindruckt – und mein smarter Notizzettel im Handy wurde immer voller.
Ich fing an, mit einer „Wertschätzungsbrille“ durch den Alltag zu gehen. Das ist toll – probieren Sie es auch mal. Einen Tag lang versuchen Sie bewusst wahrzunehmen, wo einem diese positive Macht überall begegnet. Oder wo sie fehlt. Und wo Sie sie einsetzen können.
Los geht’s gleich beim Aufstehen. Ein Kuss für den Partner – oder doch lieber nach dem Handy hangeln? Sich über den zu dünnen Kaffee beschweren – oder einfach mal Danke sagen, dass man ein paar Minuten länger liegen bleiben durfte? Jemandem die Vorfahrt nehmen oder den anderen Autofahrer durchlassen? Dem Kollegen zum Start in den Tag etwas Nettes sagen und erst dann seine To Do-Liste rübermailen. Die zehn Meter ins Nachbarbüro gehen für eine vis-à-vis-Frage, statt die x-te Mail zu schreiben.
Merken Sie was?
Der Tag hat noch gar nicht richtig begonnen, und schon hat man eine potenzielle Wertschätzungs-Situation nach der anderen gesammelt. Und bei den meisten hat man sogar direkt ein Mitspracherecht: einfach so wie immer? Oder mal mit Herz und Fokus auf dem Anderen? Sie können heute die Welt eines anderen Menschen erhellen.
Und Ihre eigene gleich dazu. Manchmal merken Sie sogar, dass Sie gerade jemandem echt den Tag gerettet haben, manchmal auch nicht. Das bedeutet aber weder, dass Sie das nicht wiederholen sollten, noch, dass Sie Ihre Wertschätzung verpulvert hätten.
Lassen Sie uns so einen Staffellauf einfach mal mit ein paar Beispielen weiterspinnen: Der Paketbote, den ich eben minimal unterstützt habe, geht mit einem guten Gefühl wieder zurück auf die Straße, steigt in seinen Lieferwagen und fährt los. Die drei Minuten, die er durch mich gespart hat, will er in eine kurze Mittagspause investieren. Er betritt einen Dönerladen und bestellt.
Er ist durch den unverhofften Zeitgewinn guter Laune, deshalb bestellt er den Döner nicht auf Deutsch, sondern auf Arabisch. Ein paar Brocken hat er von seinen Kollegen gelernt. Die Wirkung auf den Mann hinter dem Ladentresen ist verblüffend. Eine Bestellung in der Muttersprache! Noch dazu von einem Deutschen. Da wird ihm direkt warm ums Herz. Die beiden kommen ins Gespräch, der Paketbote verlässt mit dem Döner das Geschäft und der Mann in der Dönerbude dreht das Radio lauter und summt mit.
Kurzer Einschub: Die Idee mit bestellen auf Arabisch stammt von meiner lieben Kollegin Dunja Hayali. Sie hat sich (und mich) gefragt, warum wir uns alle immer so viel Mühe geben, im italienischen oder spanischen Restaurant unsere paar Brocken Fremdsprache anzubringen, aber bei arabisch oder türkisch sprechenden Menschen da doch eher zurückhaltend sind. Ich konnte keine Antwort darauf geben, aber ich fand den Gedanken interessant. In meiner Zeit bei Sky, wenn ich als Reporter in der Champions- oder Europa-League eingesetzt wurde, habe ich auch oft versucht, die Sprache des Landes einzubringen. Das war allerdings gar nicht so einfach. Vor allem in Lettland oder der Ukraine.
Zurück in den Dönerladen: Die Tür geht auf. Eine Frau kommt herein. Mit Handy am Ohr. Sie bestellt einen vegetarischen Döner und stellt sich an den kleinen Stehtisch. Sie wirkt angespannt. Ihren Döner isst sie hastig. Dann komm sie zur Theke und will bezahlen. Doch sie findet ihren Geldbeutel nicht. Es ist ihr sichtlich unangenehm. Sie sucht alles ab und wendet sich dann verzweifelt an den Mann hinter Theke. „Ich habe offenbar mein Portemonnaie im Hotel liegenlassen. Und das befindet sich am anderen Ende der Stadt.“
Es gibt Tage, da hätte der Ladenbesitzer gesagt: „Ja, ja, die Geschichte höre ich öfter.“ Aber dieses Mal nicht. Er lächelt die Frau freundlich an und sagt: „Geht aufs Haus.“
Die Frau lächelt erleichtert zurück, bedankt sich und verlässt den Laden. Das Wertschätzungslicht wurde schon wieder weitergegeben. In Form eines Döners.
Noch einige Tage später erinnert sich Frau an diese Begegnung im Dönerladen. Und zwar, als sie in ihrer Stadt das überfüllte Einwohnermeldeamt betritt. Sie muss ihren Personalausweis verlängern lassen. Diesmal hat sie ihre Geldbörse mit dabei und zieht eine Nummer. Danach noch eine.
Und sie wartet. Nach einer guten halben Stunde nähert sich die Ziffernanzeige ihrer Nummer. Sie schaut sich um. Viele Menschen um sie herum. Wer ist gerade gekommen und muss noch lange...