Einleitung
Vor Jahren fragte mich ein Freund, was eigentlich der besondere Nutzen des Yoga sei. Heute würde ich kurz und knapp sagen: Yoga befreit dich zum Leben!
Damals konnte ich meinem Freund spontan keine griffige Antwort geben, die auf den Punkt brachte, was mich selbst so sehr am Yoga faszinierte. Das irritierte mich zutiefst, da ich selbst bereits jahrelang intensiv Yoga ausübte und eben dabei war, mich als Yoga-Lehrerin selbstständig zu machen. Ich hätte es doch eigentlich wissen müssen?!
Was habe ich ihm wohl seinerzeit geantwortet? Wahrscheinlich habe ich ausgeführt, dass Yoga eine anerkannte Methode zum Stressabbau ist und zahlreiche positive Effekte auf die physische und psychische Gesundheit hat, die wissenschaftlich glaubhaft belegt sind. Möglicherweise habe ich darauf verwiesen, dass Yoga weit mehr als »Turnen auf der Matte« ist und neben Körper- und Atemübungen auch Entspannungstechniken und verschiedene Meditationsformen sowie Mantra-Chants umfasst; und dass eben diese vielfältige Kombination aus körperlichen Aktivitäten und mentaler Entspannung erst die Stressbewältigungsmechanismen trainiert. Sicherlich habe ich ihm dargelegt, dass der Yoga eine uralte Tradition hat, die mehrere Tausend Jahre alt ist. Als solche ist er an sich keine Religion, wenngleich verschiedene yogische Praktiken, wie z. B. Meditation und Kontemplation, Eingang in die verschiedenen religiösen Strömungen gefunden haben. Ich bin mir sicher, dass ich ihn seinerzeit davon überzeugen wollte, dass der Yoga, so wie ich ihn in der Tradition des Kundalini-Yoga kennen und unterrichten gelernt habe, von jedem Mann und jeder Frau, unabhängig von der jeweiligen Konstitution, gleichermaßen ausgeübt werden kann; weil Kopfstand und andere akrobatisch anmutende Haltungen nicht zwangsläufig zu jeder Yogastunde dazugehören. Und in diesem Stil werde ich wohl damals weitergesprochen haben …
Das alles hat auch heute noch seine Gültigkeit und ist im Grundsatz richtig. So weit gut und schön. Zwischen damals und heute liegen einige arbeitsreiche Jahre, in denen ich umfangreiche Erfahrungen mit meiner eigenen intensiven Yoga-Praxis, als hauptberufliche Yoga-Lehrerin, als systemische Beraterin für Privatpersonen und Unternehmen, als Yoga-Ausbilderin, Autorin und letztlich als Gründerin eines Unternehmens sammeln durfte. Diese intensive Beschäftigung mit den verschiedenen Facetten und Einsatzmöglichkeiten des Yoga hat mich den Yoga selbst wahrhaftig mit Leben füllen lassen. Möglich war dies vor allem aufgrund des Begleitumstandes, dass sich zunehmend viele Menschen für Methoden und Denkansätze interessieren, die die Gesundheit fördern und/oder Heilungschancen verbessern. Nach aktuellen Schätzungen betreiben mittlerweile ca. 5 Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum regelmäßig Yoga (Spiegel 14/2012). Viele von ihnen suchen nach Orientierung für eine ausgewogene Lebensführung bzw. eine gesunde Selbststeuerung im Alltag, die die üblichen schulmedizinischen Therapieansätze sinnvoll ergänzt bzw. über sie hinausweist. Von diesem Trend habe ich selbst wie auch viele andere Yoga-Lehrer und -Schulen profitiert. Die zunehmende Ausbreitung des Yoga geht einher mit einer wachsenden Palette von differenzierten Angeboten. Die Bandbreite reicht von Yoga für spezielle Zielgruppen, z. B. Yoga für Kinder oder Business-Yoga, über Programme zu verschiedenen Gesundheitsthemen, z. B. Hormon-Yoga, oder Yoga-Einzelunterricht bis hin zu Gong-Meditation und Mantra-Singen. Gleichzeitig wächst in der Öffentlichkeit der Anspruch an die Professionalität des Yoga-Lehrers und an die Wirksamkeit des jeweiligen Arbeitsansatzes.
So erscheint die Frage nach dem Nutzen des Yoga heute in einem anderen Licht als vor Jahren. Doch letztlich ist und bleibt Yoga immer etwas, das der einzelne Mensch ausübt. Die Yoga-Praxis knüpft stets am Individuum an, das, indem es sich selbst wahrnimmt und aus seinem Potenzial zu schöpfen beginnt, mit seinem Verhalten die Welt beeinflusst und verändert. Die Voraussetzung hierfür ist, dass der Mensch »erwacht«, dass er also erkennt und einsieht, dass er selbst – und letzten Endes nur er selbst und niemand anderes – Einfluss auf das eigene Wohlbefinden hat. Dies umfasst ausdrücklich auch die Option, auf die jeweiligen Lebensbedingungen einzuwirken und diese zu gestalten. Und dass es ihm dank dieses Umstandes möglich ist, sich eigenverantwortlich durch das Leben zu steuern, Herausforderungen zu meistern und sich unter Stress zu regulieren. Ein kompetenter Yoga-Lehrer wird ihn auf diesem Weg begleiten, sein Denken und Verhalten gleich einem Coach reflektieren und ihm hilfreiche Instrumente an die Hand geben.
Dies ist der Ausgangspunkt meiner Arbeit mit Einzelpersonen: mithilfe des Yoga den Menschen quasi bei sich selbst abzuliefern, ihn in seine eigene Kraft zu führen, so dass er sich selbst zu dem Leben ermächtigt, das er für sich wählt. Für mich ist Yoga ein Weg der Persönlichkeitsentwicklung und bewussten Lebensführung. Gesundheitsfördernde Nebenwirkungen eingeschlossen.
In diesem Buch lernen Sie diesen speziellen Ansatz kennen, den ich Yoga-Coaching nenne. Meine Vorgehensweise im Yoga-Coaching basiert einerseits auf der Tradition des Kundalini-Yoga (nach Yogi Bhajan) und andererseits auf Methoden aus der systemischen Arbeit. Diese Kombination erlaubt es, die jeweilige Lebenssituation ganzheitlich zu betrachten und Wirkungszusammenhänge herauszuarbeiten. Je nach Problemstellung werden im Yoga-Coaching folgende Dimensionen berücksichtigt:
- Organisatorische und persönliche Beziehungen: das berufliche und soziale Umfeld.
- Fragen der Identität, Werte und Lebensleitlinien.
- Der ganze Mensch mit allen Erfahrungsebenen = körperliche Wahrnehmung und Achtsamkeit, Emotionen und Gefühle, die Welt der Gedanken, seelische Aspekte.
- Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft: der individuelle Lebens- und Berufsweg, familienbiografische Prägungen und Projektionen in die Zukunft.
Neben der systemischen Beratung integriere ich im Yoga-Coaching Körperübungen und Meditationen aus dem Kundalini-Yoga. Diese Tradition umfasst Haltungen und Atemübungen, die der gleichen Quelle wie der Hatha-Yoga entspringen. Die spezielle Kombination von Haltung, Atmung und geistigem Fokus sowie eine ausgefeilte Meditationspraxis unterscheiden sich jedoch von anderen Yoga-Traditionen sowohl hinsichtlich der physischen und energetischen Wirkung. Kundalini-Yoga gilt als effiziente Technik, die sich auch von ungeübten Menschen leicht erlernen lässt und problemlos in jeden Alltag passt.
Auch wenn in dieses Buch Empfehlungen aus dem Kundalini-Yoga nach Yogi Bhajan eingeflossen sind, so lässt sich der hier vorgestellte Coaching-Ansatz auch auf andere Yoga-Traditionen übertragen. Denn das übergeordnete Ziel eines jeden Yogas ist immer dasselbe, so wie es Patanjali am Anfang des Yoga-Sutra formuliert hat: yogas citta-vritti nirodhah – Yoga ist der innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen1. Wenn dies gelingt, ist der Übende mit allen Sinnen ganz im Hier und Jetzt zu Hause und ruht vollkommen in sich selbst. Gemeinhin wird dieser Zustand der mentalen Ruhe als außerordentlich entspannend und erhebend wahrgenommen. Erfahrungsgemäß entfalten sich in diesem Bereich sogenannte Schlüsselkompetenzen wie Reflexionsfähigkeit, Empathie und Mitgefühl ebenso wie die Fähigkeit des emotionalen Selbstmanagements. All dies trägt dazu bei, dass der Übende sich selbst erfolgreich(er) durch sein Leben steuert. Dies lässt sich beispielsweise erkennen an einer verbesserten Selbstregulation unter Stress, einem erhöhten Selbstbewusstsein durch die von ihm selbst eingesetzten Fähigkeiten und Ressourcen und einer inneren Klarheit über die eigenen Werte und Ziele. All diese Aspekte sind besonders wichtig in jenen Situationen, die als herausfordernd erlebt werden und in denen dem Betroffenen persönliches Wachstum durch Veränderung seines Verhaltens oder der Lebensumstände abverlangt werden – und die ihn ins Coaching bzw. die Beratung geführt haben.
Die Yoga-Praxis hat, wie eingangs erwähnt, zahlreiche Effekte. Bei entsprechender Offenheit und/oder Erfahrung des jeweiligen Klienten unterstützt ein spezifisches Übungs-Programm sowohl die Gesundheit als auch die persönliche Entwicklung, fördert Verhaltensänderungen und damit den Fortgang des Coaching-Prozesses.
In diesem Buch wird es in erster Linie darum gehen, das Bewusstsein für einen guten Umgang mit den eigenen Ressourcen zu schärfen.
Um hierbei gezielt vorzugehen und die geeigneten Übungen auszuwählen, benötigen Sie neben einer persönlichen Yoga-Praxis fundierte Kenntnisse über die infrage kommenden Techniken sowie über die elementaren Energiemodelle aus der yogischen Philosophie, dem System der Chakren und Energiekörper. All dies wird in der Regel im Rahmen einer Yoga-Lehrerausbildung vermittelt. Doch auch wenn Sie kein (Kundalini-)Yoga-Lehrer sind, ist die Lektüre dieses Buches hilfreich für Sie. Es ermöglicht Ihnen, sich anhand der hier vorgestellten Konzepte das wertschätzende Welt- und Menschenbild des Yoga zunutze zu machen, um zum Beispiel komplexe Situationen besser zu durchschauen und schneller auf den Punkt zu kommen. Dies erlaubt Ihnen, als Coach gezielte Fragen zu stellen und (körperorientierte) Interventionen auszuwählen, die den Klienten auf seinem Weg unterstützen.
Im Folgenden sind einige Anknüpfungspunkte des Yoga-Coachings aufgeführt, die in diesem Buch vorgestellt werden:
Auf das Coaching-Ziel abzielend