Warum ich Deutsch gelernt habe … und wie
Ich saß auf dem Beifahrersitz eines Mietwagens, raste mit meinem Freund – jetzt Ehemann – Stefan die deutsche Autobahn entlang und betrachtete Maisfelder, Wiesen und vereinzelte Windräder, die vorbeizogen, als wir quer durch Deutschland zu einer Grillparty Richtung Köln fuhren, wo Stefan aufgewachsen ist. Eine Fahrt, die wir in den folgenden Jahren noch etliche Male machen würden, aber damals war das alles neu für mich. Ich lebte nämlich noch immer in Prag und nicht in München.
Stefans Eltern hatte ich schon kennengelernt (stell dir hier ein paar Takte düster-dramatische Musik vor). Dieses Mal würde ich einen Haufen von seinen Freunden kennenlernen, für mich eine weitaus größere Sache als die erste Begegnung mit seinen Eltern.
In dem Sommer war das Wetter eher bescheiden gewesen, aber am Tag der geplanten Grillparty hatten wir einen perfekten Sommerabend: Sonnenschein, blauer Himmel, einige Wolkenschwaden und warmer Rauch, der vom Grill aufstieg und nach rauchigem Fleisch und Knoblauchbrot (zu meiner Überraschung Standard bei deutschen Grillabenden) duftete.
Nach und nach trafen die Gäste ein. Alle waren unglaublich freundlich und herzlich, allerdings sprachen sie nur ein bisschen Englisch. Nach der Begrüßung und dem Minimum an Smalltalk verfielen wir folglich in betretenes Schweigen. Bald schon gingen die Männer mit Stefan nach draußen, um den Grill anzustarren, und wir Frauen gingen in die Küche, um Salat zu machen. Weil ich aber nicht wusste, wie ich auf Deutsch meine Hilfe anbieten sollte, stand ich untätig daneben und sah den anderen beim Schnibbeln zu. Ab und zu sagte jemand etwas auf Deutsch, um die unangenehme Stille zu unterbrechen, und dann wurde erleichtert gelacht. Die ersten paarmal lachte ich laut mit. Aber als ich das drei-, viermal gemacht hatte, kam mir das aufgesetzt vor, schließlich wusste ich, dass sie wussten, dass ich keine Ahnung hatte, was sie gesagt hatten. Also lächelte ich halbherzig, wenn sie in Lachen ausbrachen, und kam mir ziemlich dämlich vor. Darauf hatte mich kein Seminar an der Uni vorbereitet.
Irgendwann wurden wir alle aus dieser peinlichen Situation erlöst, denn das Essen war fertig! Und: O Mann, das sah vielleicht lecker aus. Alle möglichen Arten von Fleisch, Kartoffelgerichten und Salaten und natürlich, vorne, in der Mitte und hinten auf dem Tisch: das Knoblauchbrot. Für mich passt das immer noch eher in ein italienisches Restaurant als zu einer Gartengrillparty, aber schmecken tat es trotzdem. Und erst die Soßen! Soooo viele Soßen – Knoblauchsoße, Ketchup und etwas namens Chiliketchup, was ich noch nie zuvor gegessen hatte, was aber interessant klang –, die einen beachtlichen Teil vom Tisch einnahmen und überall dort standen, wo noch ein Fleck frei war, zwischen Tellern, Gläsern, Platten und Schüsseln.
Wir alle langten zu, und zwischen Hühnchen und Bier versuchte Stefan immer wieder, mir die laufenden Gespräche kurz auf Englisch zusammenzufassen. Aber meistens war das Gespräch schon woanders, sobald er mich auf den aktuellen Stand gebracht hatte, eine Art Whac-A-Mole für deutschsprachige Konversation.
Da war ich also: perfektes Wetter, tolles Essen, gute Gesellschaft, ausgelassene Stimmung, sämtliche Soßen, die ich mir wünschen konnte … und hatte keine Ahnung, was um mich herum abging. Und irgendwann an eben diesem Abend, als alle anderen sich über einen Witz oder eine Bemerkung schlapp lachten, während ich abwechselnd ahnungslos mit lachte oder vage, peinlich berührt und genauso planlos grinste, da wurde mir klar, wie sehr ich an den Gesprächen teilnehmen wollte, aktiv und direkt; nicht als passiver Zuschauer von der Seitenlinie.
Dann fiel mein Blick auf Stefan, sein Gesicht war ganz rot von der Wärme und dem Alkohol, er strahlte vor Freude, dass er diesen Abend mit mir und seinen Freunden verbringen konnte. Und da wurde mir klar, dass ich zwar genau da sein wollte, wo ich war, aber eben auch den Augenblick und die Gespräche unmittelbar erleben wollte.
Plötzlich wusste ich genau, was Stefan und ich am nächsten Tag vor meiner Rückkehr nach Prag tun würden: Wir würden in die Stadt fahren und mir mein erstes Deutschbuch mit CD kaufen. Denn wenn die deutsche Grillparty eins gezeigt hatte (außer der Tatsache, dass Knoblauchbrot wirklich wunderbar zu Grillhähnchen passt), dann, dass ich Deutsch lernen müsste, wenn ich mit Stefan zusammenbleiben wollte. Und da eine Trennung bestimmt nicht infrage kam, beschloss ich, eine neue Fremdsprache zu lernen.
Zwei Tage später riss ich die Plastikfolie auf, in die mein allererstes Deutschbuch samt CD eingewickelt war – zum Glück hatte ich damals noch einen Computer mit einem CD-Laufwerk –, und blätterte durch die neuen weißen Seiten. Ich war voller Vorfreude: Ich würde mein Hirn bis obenhin füllen mit was auch immer auf diesen druckfrischen Seiten stand. Ganz einfach. Oder nicht?
Ich öffnete das Buch auf der ersten Seite und schrieb zunächst mit Kuli hinein. Ein paar Minuten später wechselte ich zum Bleistift. Offenbar würde das schwerer sein, als ich gedacht hatte. Worauf ich nämlich in keiner Weise vorbereitet war, war der Mangel an Logik, den die deutsche Sprache aufweist. Ich versuchte tapfer, sie so anzunehmen, wie sie war. Wenn das Buch erklärte, ihr bedeutet her und you? Okay. Ich gab diese Info an mein Hirn weiter, ohne sie zu hinterfragen. Ausdrücke wie voll leer – wortwörtlich full empty – sind üblich? Alles klar. Ist gespeichert, weiter geht’s. Ein Fluss ist maskulin – der Fluss –, aber zwei oder mehr sehen auf einmal aus, als wären sie feminin – die Flüsse. Na gut, wenn ihr meint.
Mit dieser bedingungslosen, unvoreingenommen Art meisterte ich die ersten Wochen Deutschstudium: Ich hörte die CD, füllte Lücken aus, verband Nomen mit passenden Artikeln und lernte meine ersten Listen mit der, die und das auswendig. Trotz all der Zeit und Mühe und Indifferenz gegenüber diesem Berg an Widersprüchen war ich jedoch immer noch nicht in der Lage, Deutsch zu sprechen.
Und auch wenn es im Rückblick total verständlich erscheint, dass man in ein paar Wochen Eigenstudium mit einem A1-Lehrbuch nicht zum Muttersprachler mutiert, erhoffte ich mir damals mehr. Ich wollte die Sprache verstehen und beherrschen, und zwar sofort.
Also ergänzte ich mein Deutschlernprogramm durch »Musik« (Anführungszeichen gewollt). Ich hatte die »geniale« Idee (auch hier sind die Anführungszeichen sehr wichtig), mit Kopfhörern ins Bett zu gehen und die Dialoge der Deutsch-CD in Endlosschleife zu hören, während ich schlief. Ich war der Hoffnung verfallen, mein Unterbewusstsein würde sich die deutschen Wörter Kaninchen, Hund und Leguan merken, ebenso wie die komplizierten Verbkonjugationen und Adjektivdeklinationen, die mein starres Bewusstsein nicht schnell genug verinnerlichen konnte.
Einige unruhige Nächte mit abartigen Träumen später hörte ich mit dieser Lernmethode wieder auf und ersetzte sie durch echte deutsche Musik. Nicht nachts, sondern tagsüber. Den ganzen Tag. Jeden Tag. Immer wenn ich etwas tat, was nicht meine volle Aufmerksamkeit erforderte (und manchmal auch dann), hörte ich Peter Fox oder Die Toten Hosen, die über … na ja … die über das sangen, worüber sie eben sangen. Denn ehrlich gesagt konnte ich bloß hier und da einzelne Wörter verstehen, weshalb ich mir den Rest der Liedtexte zusammenfantasierte und hoffte, mein magisches Unterbewusstsein würde mit diesem Input etwas anfangen können. Deutsche Musik zu hören, auch wenn ich den Text weder kannte noch verstand, musste schließlich besser für meinen Lernfortschritt sein, als gar keine deutsche Musik zu hören, oder? Zumindest hoffte ich das.
Am Ende des Sommers konnte ich mich voller Stolz nach Wegbeschreibungen zu bestimmten Plätzen in der Stadt erkundigen (Entschuldigen Sie, wo ist das Kino? Verzeihen Sie mir, wo ist das nächste Schuhgeschäft?) und nachfragen, wo man bestimmte Dinge kaufen konnte (Wo kann ich ein neues Notizheft kaufen? Wissen Sie, wo ich Turnschuhe bekommen kann?) – offensichtlich waren Schuhe den Buchautoren wichtig –, auch wenn ich in neun von zehn Fällen die jeweilige Antwort nicht verstand, da sie nicht einer der fünf Beispielantworten aus dem Deutschbuch entsprach. Und selbst eine Antwort, wie sie im Buche steht, führte durch einen leichten regionalen Akzent dazu, dass es sich für mich nach Französisch oder Schwedisch oder sonst etwas anhörte – und ich rein gar nichts verstand.
Aber hey, immerhin war ich imstande zu kommunizieren … zumindest einseitig. (Eine philosophische Fragestellung zu diesem Kapitel: Gilt es als Kommunikation, wenn man zu anderen Menschen etwas sagen kann, aber nicht in der Lage ist, ihre Antwort zu verstehen?)
Doch so aufregend diese einseitige »Kommunikation« auch war, meine begrenzten Fähigkeiten brachten einige Nachteile mit sich. Abgesehen von dem eindeutigen Nachteil, dass ich kurz nach meinem Umzug nach Deutschland die Etiketten von Putzmitteln nicht lesen konnte und daher Badreiniger für den Boden und Bodenreiniger für die Wanne benutzte, musste ich feststellen, dass es manchmal tatsächlich komplizierter war, ein bisschen Deutsch zu sprechen als gar keins – etwas, das ich nie im Leben als Problem beim Erlernen einer neuen Sprache angesehen hätte.
Als ich noch kein Deutsch sprach, erwartete niemand etwas von mir. Aber sobald ich auch...