II. GÖTTINNEN
Im Zeichen der Venus
Die Kulturlandschaft des Gardasees war für Heinrich und Thomas Mann ein besonderer Ort der literarischen Inspiration und des Streites über mythologische Deutungen. So bat Heinrich Mann im Jahre 1902 den Freund Ludwig Ewers, ihm kurzfristig für seine literarische Arbeit aus dem Brockhaus Stichworterklärungen zu Begriffen wie »Aphrodite«, »Mysterien«, »Eleusische Feste«, »Saturnalien«, »Bacchanale« und »Dionysosreligion« abzuschreiben und nach Riva zu übermitteln. Wie Christl von Hartungen sich erinnern konnte, hatten die Brüder Mann während ihrer damaligen, gemeinsamen Kuraufenthalte unter anderem ziemlich laut und laienhaft über die unterschiedlichen mythologischen Bedeutungen von Venus- und Apollonkult gestritten.
Obwohl ihm Ursprung und Etymologie des Namens unklar waren, gab Thomas sich als Anhänger von Apollon aus, den er als Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der sittlichern Reinheit und der Künste, vor allem der Musik, verehrte. Heinrich hingegen interessierte sich im Zusammenhang mit dem Minnesänger Tannhäuser mehr für die Venusberg-Sage. Nach dem mittelalterlichen Sagenmotiv lockte die schöne Venus Menschen, vor allem Männer, in ihr von Nymphen und Nixen bewohntes Bergreich, um sie zur Sünde zu verführen und so der Verdammnis zu überlassen. An Christl von Hartungen richtete Heinrich auch die Bitte, ihm aus Universitätsbibliotheken Material über italienische Versionen des Venusmythos zu besorgen. Mit dieser Aufgabe war der junge Medizinstudent, wie er im Rückblick freimütig einräumte, überfordert. Seine »Archivfunde« gingen nicht über die in allgemeinen Lexika zugänglichen Informationen hinaus. Heinrich Manns Vermutung, Venus sei ursprünglich eine italische Göttin der Bauern und Winzer gewesen, ließ sich auch durch neuere Nachschlagwerke nicht belegen. Seit dem 4. Jahrhundert v. Chr., so die übermittelte Erkenntnis, wurde Venus meist als Göttin der Liebe mit der griechischen Aphrodite gleichgesetzt, deren Kult sich als »Venus Erycina« von Sizilien, das heißt vom Berg Eryx, bis nach Norditalien ausbreitete. Die römische Mythentradition thematisierte aber auch einen Zusammenhang zwischen sinnlicher Lust und körperlichem Verfall, wie die Doppelfunktion der Göttin als »Venus Libentina« und »Venus Libitina« symbolisiert.
So durfte Heinrich Mann schlussfolgern, die Göttin Venus hätte auch in Riva Liebes- und Totenkulte beeinflusst. Allerdings hielt er daran fest, diese Kulte mit bukolischer Tradition in Verbindung zu bringen. Die Bauernidylle vom Gardasee kannte er aus eigener Anschauung. Landpartien gehörten zum Kurprogramm. Auf einer Fotografie aus dem Jahr 1905 posiert der Dichter zusammen mit Mitgliedern der Familie von Hartungen, schönen Frauen aus dem Sanatorium und einheimischen Bauern, Kindern und Ziegen geradezu symbolisch vor der malerischen Kulisse eines alten Gehöftes in der Nähe von Riva. Und im dritten Band der Göttinnen, der nicht zufällig den Titel Venus trägt, dient der Gardasee als Kulisse für die Lebensreform des Künstlers Jakobus Halm. Er lebt hier zurückgezogen auf einem einsamen Bauernhof am Seeufer, umgeben von Fischerbooten, Zypressen, Weinbergen und Rosengärten, und hat »was Besseres zu tun als malen«. Mit dem Auftauchen der Herzogin von Assy, der früheren Muse des Malers, wird die bukolische Idylle gestört. In der Konfrontation von schlichter Naturempfindung und »hysterischer Renaissance« treffen nicht nur unterschiedliche Welten aufeinander, sondern auch zwei gegensätzliche Frauenideale. Jakobus lebt mit der gesunden und kräftigen Bäuerin Pasqua zusammen, die »aus ihren schönen, fragenden Tieraugen gleichmütig auf die Fremde blickt«. Er versucht der Herzogin den Wandel seines Geschmacks zu erklären: »Ich hatte die klugen Frauen satt, wissen Sie. Und die liebenden gar! Immer in einem Ungewitter von Leidenschaft stehen! … Die Pasqua ist wundervoll geistlos. Auch denkt sie nicht daran, mich zu lieben.« Und was ihm besonders wichtig erscheint: »Die verlangt kein Werk von mir. Gemalt wird nicht!«
Für den Venus-Band konnte sich Heinrich Mann auf zahlreiche Anregungen, psychologische Skizzierungen und medizinische Informationen des Doktor von Hartungens und seiner Söhne stützen. Vor allem Christls älterer Bruder Erhard lieferte präzise klinische Beispiele des körperlichen Verfalls im »Verlauf von Herzkrämpfen«, die der Autor dann zur Beschreibung der Selbstzerstörung der Herzogin literarisch übersetzt hat. Im »Entwurf eines Waschzettels« für die Göttinnen heißt es:
»So ist aus der keuschen Freiheitsschwärmerin und der prachtliebenden Kunstbegeisterten im dritten Roman eine unersättliche Liebhaberin geworden. Die brünstige Natur Neapels steigerte ihre Erotik bis zum körperlichen Wahnsinn. Physiologisch betrachtet ist Venus der Roman des Climacteriums. Und das Krankhafte, das dem Lebensalter der Heldin angehört, trägt einen bitteren Geschmack in ihre überhitzten Lüste. Die Herzogin geht wie in allem, was ihr Leben bewegt hat, auch in der Liebe bis zum Äußersten. Von Liebesgeschichten mit der Schlichtheit und Naturempfindung von Hirten-Idyllen gelangt sie bis zu Orgien, die starkes antikes Leben in die raffiniertesten modernen Verhältnisse übertragen und von einer kaum zu überbietenden Fleischlichkeit strotzen. Überall in diesem merkwürdigen Liebesroman strömen Landschaft und Menschen eine erstaunliche Hitze aus. Die Herzogin genießt bis zur Selbstzerstörung. Ihr Tod ist stürmisch wie das Leben; aber sie bereut nichts. Eine Freudigkeit um jeden Preis atmet aus all diesem Leben, so viel Tragik es auch hervorbringt …«
Aufmerksame Leser, wie der Kritiker des Berliner Tageblatts, erkannten, dass »die Namen« der Romanheldin zwar »auf die Antike deuten«, der mythologische Zusammenhang aber »kaum« stimmig war. »Diese Herzogin von Assy«, heißt es in der Rezension der Abendausgabe vom 20. Dezember 1902, habe »zu viel hinter sich für ein naives Götterkind. Sie ist eher eine der Zauberinnen des Mittelalters, eine Loreley, eine Armide, eine alles bestrickende, verlorene, süße Hexe, wie sie auf der Felseninsel ihres Stammschlosses umgehen.«
Dem Autor näher stehende Personen aber wussten, dass es ein lebendes Vorbild für die Herzogin von Assy gab: die Malerin und Schriftstellerin Hermione von Preuschen. Sie war weniger eine Loreley, als vielmehr eine leidenschaftliche Frau und erotische Künstlerin zwischen altgriechischen Idealen und emanzipatorischer Avantgarde. Sie übertrug »starkes antikes Leben in die raffiniertesten modernen Verhältnisse« und war bereit, »bis zum Äußersten« zu gehen – wie auch Heinrich Mann und Christl von Hartungen in Riva erfahren mussten. Obwohl der Dichter in seiner offiziellen Autobiografie die persönlichen und geistigen Beziehungen zu der wesentlich älteren Künstlerin verschweigt, hat er sie doch in chiffrierter Form für seine Literatur nutzbar gemacht. Freimütiger in der Darstellung dieser Beziehung war die Künstlerin selbst.
»Weißt Du übrigens«, informierte Thomas Mann im Februar 1905 den Bruder, »dass Du in dem letzten Buch der Preuschen eine Rolle spielst?« Gemeint war eine Neuauflage der am Luganer See spielenden Novelle Monte Bré, die wie folgt beginnt: »Sie saßen seit Wochen nebeneinander in der kleinen Pension am Fuße des Monte Bré. Lange Zeit kannten sie nicht einmal ihren Namen. Dann wussten sie’s von einander: Er war ein bekannter deutscher Dichter und sie – war verheiratet …« Diese Erklärung und die folgenden Liebesszenen sollten offensichtlich als demonstratives Bekenntnis zu einer intimen Beziehung mit Heinrich Mann gelesen werden. Doch entsprach der Hinweis – zumindest was die erotische Dimension betraf – mehr den Wünschen der Autorin als der Realität. In ihren posthum (1926) veröffentlichten Memoiren Der Roman meines Lebens ist Hermione von Preuschen ausführlicher auf ihr Verhältnis zu Heinrich Mann eingegangen. Aber auch hier mischen sich Dichtung und Wahrheit.
Unbestreitbar jedoch ist, dass Heinrich Mann sich für Person und Werk der Künstlerin interessiert hat. Er war von der außergewöhnlichen Erscheinung und dem wagemutigen Aktionismus dieser Frau beeindruckt und ließ sich um 1902 auf eine intensive Korrespondenz mit ihr ein. Auch andere Dichterkollegen wie Theodor Storm und Paul Heyse suchten den persönlichen Kontakt mit Hermione von Preuschen. Und selbst Thomas Mann hat sich – wie seine Bemerkung gegenüber dem Bruder belegt – mit »der Preuschen« beschäftigt. Und es scheint, dass die Affären der Künstlerin in Riva noch zwei Jahrzehnte später das Bild der lasziv-moribunden Madame Chauchat im Zauberberg beeinflussten. Hermione von Preuschens äußere Erscheinung widersprach zwar dem maskenhaften Schönheitsideal ihrer Zeit, doch sie wusste durchaus erotische Signale zu setzen, wenn sie bei passenden oder unpassenden Gelegenheiten in einem schwarzen, tief ausgeschnittenen Samtkleid, das mit natürlichem Blumenschmuck verziert war, auftauchte. Berühmt geworden ist sie aber nicht durch aufregende Kleidung oder »wilde« Lyrik, sondern durch einen politischen Skandal, den sie als Malerin verursachte. 1887 wies der Vorstand der Berliner Kunstausstellung ihr Bild Mors Imperator wegen »Majestätsbeleidigung« zurück, da das Werk, das einen Herrscher mit Totenkopf zeigte, als Anspielung auf den greisen Kaiser Wilhelm I. interpretiert wurde. Empört über die Zensur mietete die Künstlerin repräsentative Räumlichkeiten und initiierte eine provokative Privatausstellung. Hermione von Preuschens Bekanntheitsgrad und der Marktwert ihrer Bilder stiegen danach...