8000 v. Chr.
DIE ERFINDUNG DER EROTIK
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Zwei Menschen, eine Umarmung, so inniglich, dass die beiden Körper fast zu verschmelzen scheinen. Die eine Person sitzt auf dem Schoß der anderen, hat die Beine eng um die Hüften des Partners gelegt, beide halten sich fest an den Schultern. Bei der Skulptur, die unter dem Namen die Die Liebenden von Ain Sakhri bekannt ist, handelt es sich eigentlich nur um einen zehn Zentimeter großen Calcit-Klumpen, den ein unbekannter Künstler vor langer Zeit in der Wüste von Judäa aufgeklaubt und mit einem harten Werkzeug bearbeitet hat. Gleichzeitig kann man das Werk nicht betrachten, ohne sich zu fragen, wann man eigentlich selbst das letzte Mal so in den Arm genommen wurde.
Die Liebenden von Ain Sakhri gelten als die älteste bekannte Darstellung des menschlichen Geschlechtsakts. Der Künstler, ein Vertreter der Natufien-Kultur, machte sich vor rund 10 000 Jahren ans Werk – und offenbar viele Gedanken. Die kleine Skulptur ist ein vielseitiges Sexobjekt. Blickt man von oben auf den Stein, sieht man kein Liebespaar mehr, sondern zwei Brüste. Auf der Unterseite ist eine Vulva zu erkennen, auf der Rückseite ziemlich eindeutig ein erigierter Penis.
Die erotische Plastik ist das Produkt einer Zeit, in der die Menschheit einen entscheidenden Schritt in ihrer Entwicklung machte: den der neolithischen Revolution. Damals begannen Menschen in verschiedenen Regionen, ihren Lifestyle fundamental zu ändern: Sie jagten Tiere nicht mehr nur, sondern zähmten sie, sie sammelten Getreide nicht mehr, sondern bauten es auf Feldern an, sie errichteten Zäune, Vorratskammern und Siedlungen. Dieser Prozess zog sich über Jahrtausende hin, um das Jahr 8000 vor Christus war er im Nahen Osten, aber auch in Süd- und Zentraleuropa sowie in weiten Teilen Asiens und Afrikas abgeschlossen. Es ist der Beginn der menschlichen Kulturgeschichte. Und damit auch der Beginn der schrecklich schönen, verwirrenden, chaotischen Sache, die wir Sexualität nennen. Und die mehr ist als: nur Sex.
Es gibt Steinfiguren, die nackte Frauen mit großen Brüsten und runden Hüften zeigen, und die mehr als doppelt so alt sind wie die Liebenden. Aber diesen Skulpturen fehlt das sinnliche Element, sie feiern nicht den Liebesakt, sondern das Überleben der Spezies und die weibliche Fruchtbarkeit, sie stellen die Übermutter dar, die Göttin, die Leben schenkt. Vor der neolithischen Revolution hatten sich die Menschen wohl eher beiläufig und triebhaft fortgepflanzt. Durchaus möglich, dass sie gar nicht wussten, dass Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung zusammengehören. Höhere Mächte sorgten dafür, dass eine Frau schwanger wurde: die Sonne, der Mond, der Vulkan am Horizont. Nachdem sich die Menschen niedergelassen hatten, war da auf einmal mehr Zeit, die Welt zu beobachten und zu verstehen. Womöglich führte erst die Haustierhaltung auf dem Hof dazu, dass die Menschen erkannten, was passiert, wenn sich zwei Lebewesen paaren.
Die neolithische Revolution brachte außerdem die Idee des Privateigentums hervor. Zum ersten Mal in der Geschichte besaß eine Einzelperson ein Haus, ein Stück Land, Vieh, das darauf weidete. Wenn nun der Besitzer starb, erschien es naheliegend, dass die Reichtümer an die Kinder weitergegeben wurden. Dafür musste man allerdings erst mal wissen, wer die eigenen Kinder sind. Das machte die Monogamie attraktiv, eine feste Beziehung zwischen Mann und Frau. Diesen Einstellungswandel kann man in der Kunst nachverfolgen. Die alten Muttergöttinnen, die Fruchtbarkeit spendeten, wurden von Vatergottheiten verdrängt, die misstrauisch über Frau, Kinder und Hof wachten.
Sex bekam eine völlig neue Bedeutung. Er stand nun für Macht und deren Bedrohung, für das individuelle Leben und in gewisser Weise auch für einen Triumph über den Tod. Man konnte Kinder zeugen, die wieder Kinder bekamen, und so gewissermaßen unsterblich werden. Aber Sexualität war auch gefährlich. Ein illegitimes Kind etwa bedrohte den Fortbestand des Stammbaums, Untreue galt als Schande. Es ist deshalb nur logisch, dass die Sexualität ab dieser Zeit immer stärker überwacht wurde. So wie man einen Zaun um Hof und Garten zog, wurden nun Grenzen und Regeln für das Bett formuliert.
Das alles hat den Sexualtrieb des Menschen nicht lahmgelegt, sondern erst so richtig angestachelt. Unsere Vorfahren beschäftigten sich immer manischer mit ihrer Sexualität, sie verehrten Sexgöttinnen (Erotischer Karneval im Zweistromland), erstellten ein Archiv der besten Sexstellungen (Die ersten Liebesakrobaten), erfanden Anti-Spermizide (Das Nilkrododil und das erste Verhütungsmittel), hielten Schönheitswettbewerbe ab (Griechenland wählt die Miss Po) und gründeten Peitsch-Bordelle (Die Königin des Schmerzes). Sex wurde gefeiert und verdammt. Er inspirierte Kunstwerke und löste Kriege aus. So wurde die Sexualität zu dem, was sie bis heute ist: das Interessanteste, was Menschen sich nur denken können.
Und wenn man Die Liebenden von Ain Sakhri betrachtet, kann man die Gefühle erahnen, die in dem Künstler während der Arbeit tobten. Vor 10 000 Jahren.
6000 v. Chr.
GÖTTIN SCHWANZKOPF
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Gab es vor langer Zeit eine Kultur, in der die Frauen »schwanzgesteuert« waren, also: triebhaft, impulsiv, liebeskrank, unersättlich? Die etwa zehn Zentimeter großen Tonfiguren, die in der Nähe der nordgriechischen Stadt Nea Nikomedeia entdeckt wurden, sind 8000 Jahre alt und stellen kräftige Frauen mit kleinen Brüsten und einem sehr breiten Becken dar, die ihre Arme vor der Brust verschränken. Die Details der Figuren sind bemerkenswert. Noch bemerkenswerter aber ist, dass einige der Kultfiguren einen erigierten Penis auf den Schultern tragen, zum Teil mit beschnittener Vorhaut und deutlich erkennbarem Harnloch.
Warum nur?
Man weiß nicht, welchem Volk die etwa 500 Menschen angehörten, die damals in der Siedlung lebten, wie sie genau aussahen oder welche Sprache sie sprachen. Aber man weiß, was ihnen heilig war. Die einfachen, quadratischen Holzhütten gruppierten sich um einen zwölf mal zwölf Meter großen Schrein, der auch als Vorratskammer gedient haben könnte. Neben Werkzeugen wie Klingen, Äxten und Spindeln fand man in dem Zentralgebäude auch besagte Tonfiguren (und kleine, bunte Kröten aus demselben Material).
Ähnliche Zwitterfiguren – halb Frau, halb Penis – tauchten im sechsten vorchristlichen Jahrtausend überall in Südosteuropa und Anatolien auf. Archäologische Untersuchungen ergaben, dass der Körper und der Phalluskopf separat hergestellt und vielleicht erst während eines Rituals zusammengesteckt wurden.
Der Mensch hat zu allen Zeiten naturalistische Darstellungen von Geschlechtsteilen gebastelt. Erigierte Penisse aus Stein und Ton sind sowohl aus der Steinzeit wie aus dem antiken Rom (Der Gott des Ständers) erhalten und sollten wohl die Stärke und Potenz des Mannes verherrlichen. Es gibt Archäologen, die vermuten, dass sie auch als Sexspielzeug eingesetzt wurden. War das auch der Zweck der lang gezogenen, explizit gestalteten Figuren? Waren die Statuen eine Mischung aus Götze und Dildo?
Einige archaische Mythen versuchen zu erklären, wie die beiden Geschlechter entstanden sind, warum sich die Menschen zwar zueinander hingezogen fühlen, aber doch nie eins werden. Platon, der viele Tausend Jahre nach den Künstlern von Nea Nikomedeia in Griechenland lebte, erfand zum Beispiel die Legende vom Kugelmenschen, der vier Arme, vier Beine und einen rundlichen Rumpf hatte, und außerdem weibliche und männliche Attribute vereinte. Die Kugelmenschen fühlten sich so wohl und sicher, dass sie die Götter angreifen und stürzen wollten. Zeus verhinderte den Putsch, indem er die androgynen Kugelwesen in Mann und Frau zerteilte – die Sehnsucht nach dem ganzheitlichen Urzustand ist laut Platon die Quelle der erotischen Liebe.
Vielleicht bastelten sich die Menschen von Nea Nikomedeia also ihre eigenen Kugelwesen und versuchten, die beiden Geschlechter mit Wasser und Lehm wieder zusammenfügen. Allerdings handelte es sich um eine höchst ungleiche Fusion. Die Frau stellte den gesamten Körper, vom Mann wurde nur das Geschlechtsteil verwendet. Aber warum wurde der Phallus ausgerechnet anstelle des Kopfes angebracht? Der Künstler war vermutlich doch ein Mann.