Gerd Leipold
Stockholm
Stockholm. Ein Samstag im Mai 2013. Die Sonne hat schon eine wohltuend milde Kraft entwickelt. Bei strömendem Regen bin ich gestern in Deutschland gestartet. Kalt war es. Eingehüllt in Regenjacken mit Kapuzen waren die Menschen über den Parkplatz des kleinen Flughafens im Allgäu gehetzt, durch Pfützen zogen sie Koffer hinter sich her. Hier, 1700 Kilometer weiter nördlich, tragen Frauen Tops mit Spaghettiträgern und junge Männer laufen in T-Shirts und kurzen Hosen auf der Straße. Am Morgen hat mir eine Schwedin erzählt, dass hier vor vier Wochen noch Schnee lag. Jetzt entlockt die frühsommerliche Wärme der Stadt eine entspannte Fröhlichkeit. Nur das viele Wasser in den Flüssen und Seen erinnert daran: Es ist noch nicht sehr lange her, dass sich der Winter davongemacht hat. »Eine Stadt mit Wasser ist immer schön«, schrieb Kurt Tucholsky im schwedischen Exil in Schloß Gripsholm. Und Stockholm hat viel Wasser. Nicht nur bei Schneeschmelze.
Schweden, das Top-Modell der Demokratie, beeindruckendes, widersprüchliches, spannendes Vorbild für Europa. Das Land, das als erstes den Atomausstieg beschlossen – und ihn wieder zurückgenommen hat, das Land, in dem alkoholische Getränke bis heute nur im »Systembolaget«1 zu bekommen sind, das Land der sagenhaft hohen Steuern für Gutverdiener. Hier haben sie ein Tempolimit und eine damit verbundene Entschleunigung, die fast jeden Mitteleuropäer nervös machen kann. Das Land mit einer breiten Volksbildung, mit Bibliotheken in den kleinsten Dörfern, mit vielen gut Englisch sprechenden Menschen – früher habe ich mich oft der Meinung angeschlossen, dass Schweden ein langweiliges Land sei. Inzwischen bewundere ich seine Gesellschaft und Kultur. Auch weil ich weiß: Eine gut funktionierende Demokratie ist oft langweilig. Diese Langeweile ist ein Luxus! Ihr friedliches Klima wirkt wie der Vorgriff auf eine Utopie. Diktaturen, Länder mit notorischer Gewalt und Korruption sind allemal aufregender – nur können die Skandinavier auf solche Aufregungen, nach Jahrhunderten der Konflikte, gut und gern verzichten. Seit mittlerweile 200 Jahren. Ein Symbol dafür sind die nordischen Botschaften in Berlin: In einem einzigen, ästhetisch enorm gelungenen Neubau sind sie untergebracht – Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark und Island teilen sich heute eine Kantine. Ihr Selbstverständnis braucht keine nationalen, repräsentativen Protzbauten.
Dieses Schweden tut gut. Auch darum treffe ich Walter Sittler hier. Er – der Künstler und Aktivist. Ich – der Aktivist und Physiker. Wir wagen ein Experiment, wie es vermutlich nur unsere Epoche erlaubt. Vor einigen Wochen habe ich ihn in Stuttgart kennengelernt. Der großgewachsene, jugendlich wirkende Mann ist Schauspieler. Bundesweit bekannt ist er aber nicht nur wegen seiner Theater- und Filmarbeit, sondern auch für seinen Einsatz gegen das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Eine völlig überraschende Form von Bürgerprotest hat dieses Bauprojekt ausgelöst. Gemeinsam reisen Walter Sittler und ich an Orte, die uns inspirieren, bedrohen, bewegen und setzen uns dort mit den Menschen und Fragen auseinander, die uns und andere akut beschäftigen. Im Europa der Reisefreiheit und der großen Möglichkeiten wollen wir Räume erkunden durch das Gespräch – nicht an einem Kneipentisch, auf einem Podium oder in der Küche, sondern das Gespräch an und mit den Orten, die wir gewählt haben. Philosophy on the road! Looking for common sense.
Mit der Streitschrift Common Sense hat einst der amerikanische Intellektuelle Thomas Paine die Unabhängigkeitsbewegung der nordamerikanischen Kolonien vom britischen Königshaus befeuert. Die Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Freiheit hat damals eine Revolution ausgelöst – und eine Weltmacht entstehen lassen. Im Januar 1776 war seine Schrift Common Sense erschienen. Darin forderte er ein neues, demokratisches System, das sich auf die Prinzipien der Menschenrechte gründete. Man sieht: Transparenz und Demokratie sind ein Erfolgsmodell. Weltweit entstehen heute wieder, völlig überraschend und unorganisiert, Bürgerbewegungen, die sich gegen die Verschwendung von Steuergeldern in großmannssüchtigen Prestigeprojekten zur Wehr setzen und stattdessen Investitionen in Bildung fordern und den freien Zugang zu Informationen.
Die Hamngatan führt am Kungsträdgården vorbei, einem ehemaligen königlichen Platz, auf dem die Kirschbäume schon in zartem Rosa blühen. Und im Berzelii Park mit dem legendären Hotel Berns im Hintergrund haben sich die Bäume in Hellgrün für den Frühling herausgeputzt. Dann die Museumsinsel. Djurgården. Und womit ich nicht gerechnet habe: Schon morgens, kurz nach zehn Uhr, hat sich hier eine schier endlos lange Schlange vor dem Eingang des Vasa-Museums gebildet. Wie vor einem Rockkonzert. Ich stelle mich an und betrachte in der Morgensonne das Gebäude. Ein Museum um ein Schiff herum gebaut – als hätte man eine Decke darüber geworfen, so exakt bildet es die Konturen ab. Nur dass die »Decke« nicht aus Stoff, sondern aus dunklen Metallplatten besteht.
Mit der Geschichte der Vasa, des weltweit einzigen original erhaltenen Schiffes aus dem 17. Jahrhundert, starten Walter Sittler und ich unser gemeinsames Projekt. Zwischen 1998 und 2001 war ich Vorstandssprecher von Greenpeace Nordic, dem Greenpeace-Büro für Schweden, Dänemark und Finnland. Damals war ich mit einer Gruppe von Greenpeace-Mitstreitern schon einmal hier, denn die Vasa birgt eine sagenhafte Geschichte, von der wir in der Gegenwart einiges lernen können. Symbolisch steht sie für ein Großprojekt – und für den sensationell modern wirkenden Umgang mit dessen Scheitern.
Im Januar 1626 hatte der schwedische König Gustav II. Adolf das Kriegsschiff bei dem berühmten niederländischen Schiffsbauer Henrik Hybertsson in Auftrag gegeben. Mit ihm wollte er die Vorherrschaft im Baltikum gewinnen, im Kampf gegen seinen langjährigen Hauptfeind Sigismund, seinen Cousin, König von Polen. Schweden sollte die dominante Macht im Norden werden. Sigismund hatte einst Schweden regiert, war aber wegen seines katholischen Glaubens entthront worden – beste Voraussetzungen für einen spektakulären Showdown im Nordmeer. So wurde der Schwede zum Prahlhans: Sein beeindruckendes Schiff sollte den polnischen Vetter schon beim Anblick erbleichen lassen. 400 Menschen ließ er an der Vasa arbeiten – Zimmermänner, Bauschreiner, Bildhauer, Maler, Glaser, Segelmacher, Schmiede und zahlreiche andere Handwerker. Nach zweijähriger Bauzeit war es endlich so weit: Im August 1628, kurz vor der Jungfernfahrt, ließ Flottenchef Vizeadmiral Klas Fleming das Schiff einrichten und systematische Tests durchführen. Denn er war skeptisch: Der König hatte während der Bauzeit die Pläne ändern lassen, um noch mehr, am Ende insgesamt 64, Kanonen an Bord unterzubringen – so viele wie auf keinem anderen Schiff dieser Zeit. Seine größenwahnsinnige Galeone hatte er sich noch gigantischer ausgemalt als jene, die die Seeräuber-Jenny in Brechts Dreigroschenoper besingt »Und ein Schiff mit acht Segeln, und mit 50 Kanonen!« Ihm schwebte noch mehr vor.
Tatsächlich wurde die Vasa eins der beeindruckendsten Kriegsschiffe ihrer Zeit, mit einem hohen Aufbau und zwei Decks nur für Kanonen. Wie aber würde sie diesen Aufbau verkraften? Welchen Einfluss auf die Stabilität würde der nachträgliche Eingriff haben? Eine der Proben des Vizeadmirals bestand darin, 30 Mann seiner Besatzung von einer Seite des Schiffes zur anderen rennen zu lassen. Der Test musste abgebrochen werden: Die Vasa schwankte so sehr, dass sie zu kentern drohte. Trotzdem ließ Kapitän Söfring Hansson Jute am 10. August 1628 die Anker lichten. Salut wurde geschossen. Vier der zehn Segel wurden gesetzt. Und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung glitt das mächtige Schiff langsam aus dem Hafen. Es war fast windstill. Und es kam, wie es kommen musste. Schon nach wenigen Metern geriet die Vasa in eine bedrohliche Schräglage. Ein erster kräftigerer Windstoß blähte die Segel – und brachte des Schweden Stolz zum Kentern. Eins der teuersten Schiffe der damaligen Zeit war gerade einmal einen Kilometer weit gesegelt, bevor es für immer auf dem Meeresgrund verschwand. Die Fahrt der Vasa hatte keine 20 Minuten gedauert. Mindestens 30 Menschen verloren bei dem Unglück ihr Leben.
An der Museumskasse frage ich die Mitarbeiterin, ob ich auch für einen Kollegen, der gleich kommen würde, ein Ticket lösen dürfe – damit er sich, wenn er kommt, nicht ganz hinten anstellen müsse. Sie antwortet mit unnachahmlicher schwedischer Freundlichkeit: »Selbstverständlich. Sie können gern schon reingehen und wenn er kommt, holen Sie ihn halt draußen ab. Sie haben doch ein Handy dabei? Mit Ihrem Ticket können Sie jederzeit raus und rein.« Ich bin irritiert – ich kann mit meinen beiden Tickets jederzeit raus und rein, und niemand kontrolliert das? Ich könnte einen florierenden Handel mit meinen beiden Tickets beginnen. Schwedens Liberalismus offenbart sich auch im Detail.
Im Museum ist es dunkel, die Augen müssen sich erst an das spärliche Licht gewöhnen. Und es ist kühl – gerade so hell und so warm, dass es für die Besucher akzeptabel und für das alte Holz des Schiffes nicht schädlich ist. Und dann stehe ich davor: die Vasa! Da steht sie in ganzer Pracht. Denn: Nicht für immer war das Schiff gesunken. Der Forscher Anders Franzén hatte zu Beginn der 1950er Jahre versucht, das Wrack zu orten. Schon...