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E-Book

Zeitfresser

Wie uns die Industrie zu ihren Sklaven macht

AutorCraig Lambert
VerlagRedline Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783864147364
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Ein Phänomen greift um sich, schleichend und unmerklich: Immer mehr Dinge »darf« man heutzutage selbst erledigen, die früher noch Angestellte für einen gemacht haben. Ob man per App am Flughafen eincheckt, eine Banküberweisung durchführt, am Automaten eine Fahrkarte zieht oder den Terminkalender für die Arbeit organisiert, dank der Technik geht der Trend zum »Do it yourself!«. Diese Entwicklung wird uns als Vorteil verkauft. Doch stimmt das wirklich? Nein, sagt Craig Lambert. Für ihn ist ganz im Gegenteil das Maß voll. Er belegt, dass dieser Trend in Wirklichkeit nur zu unseren Lasten geht und viel Zeit kostet - unsere Zeit! Und Arbeitskräfte obendrein. Anhand alltäglicher Beispiele öffnet er den Lesern die Augen, wie viele Lebensbereiche bereits von dieser Verlagerung durchsetzt sind. Die Dimension ist frappierend. Ein Buch, das aufrüttelt und dazu aufruft, sich die zeitfressende, unbezahlte, unfreiwillige Mehrarbeit nicht länger gefallen zu lassen.

Craig Lambert ist Doktor der Soziologie und war über zwanzig Jahre lang Journalist und Herausgeber des Harvard Magazine. Darüber hinaus hat er auch Artikel für Sports Illustrated, Town & Country und das New England Journal of Medicine verfasst.

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Leseprobe

Erstes Kapitel: Die Knechtschaft der Mittelschicht


Wäre Tom ein großer und weiser Philosoph gewesen, wie der Verfasser dieses Buches, würde er nun verstanden haben, daß Arbeit immer nur das ist, was man tun muß, und Vergnügen das, was man gern tut. […] Es gibt in England viele Leute, die im heißen Sommer einen Vierspänner an einem Tag zwanzig oder dreißig Meilen weit kutschieren, nur weil das Anrecht darauf sie eine ungeheure Summe Geld kostet. Wenn man ihnen aber vorschlagen wollte, dasselbe um Lohn zu tun, dann würden sie sich weigern, denn dann würde sich das »Dürfen« in »Müssen« und damit das Vergnügen in Arbeit verwandeln.3

Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer

In seinem 1876 veröffentlichten Roman Die Abenteuer des Tom Sawyer erschafft Mark Twain eine Figur, die zu den Pionieren der Schattenarbeit zählt. In einer berühmten Passage des Buches erhält Tom Sawyer von seinem Vormund Tante Polly die Anweisung, am Samstag den Zaun zu streichen. »Fünfunddreißig Meter Gartenzaun! Neun Fuß hoch!« Zu allem Überfluss ließ sich der Samstag auch noch als herrlicher Sommertag an: »Der Samstag brach an. Die sommerliche Welt leuchtete frisch und sprudelnd vor Leben. Jedes Herz war voll Gesang, und wenn das Herz jung war, strömte er über die Lippen.« Tom, der am liebsten mit seinen Freunden gespielt hätte, macht sich verdrossen an die lästige Streicharbeit – bis ihm der rettende Einfall kommt. Zufällig geht sein Freund Ben Rogers auf dem Weg zum Schwimmen vorbei und zieht Tom prompt auf mit Sprüchen wie »Aber ich glaube, du arbeitest lieber, was? Viel lieber, nicht?«.

Tom weist weit von sich, dass Zaun streichen Arbeit wäre, und erklärt dem verblüfften Ben, er streiche gern: »›Kriegt unsereiner vielleicht jeden Tag einen Zaun zu pinseln?‹ Das setzte die Sache in ein neues Licht«, schreibt Twain. Ben vergisst sogar, seinen Apfel zu essen. Tom streicht weiter und gibt sich als Künstler: »Tom schwang den Pinsel ’rauf und ’runter, trat zurück, um die Wirkung zu prüfen, fügte hier und da einen Strich hinzu, kritisierte wieder das Ergebnis«, und weckt damit Bens Interesse. Es dauert gar nicht lang, bis Ben für Tom streicht und ihm für dieses Privileg auch noch seinen Apfel überlässt.

Den Rest des Tages lockt er »Opfer für seine Schlachtbank« an und überzeugt eine nicht enden wollende Phalanx von Jungen, dass die Chance zum Zaunstreichen ein Opfer wert sei. Am Nachmittag war nicht nur der Zaun gestrichen, sondern Tom war »buchstäblich ein Kapitalist geworden, der im Reichtum schwamm«, besaß er doch neben anderen begehrenswerten Dingen zwölf Murmeln, einen Zinnsoldaten, sechs Knallerbsen und ein lebendiges Kätzchen, das nur ein Auge hatte. »Wenn nicht schließlich die Farbe ausgegangen wäre, hätte er bestimmt sämtliche Jungen des Ortes bankrott gemacht«, schreibt Twain.

Diese Großtat gelingt Tom Sawyer, weil er Arbeit neu definiert. Er überzeugt die anderen Jungen, dass Streichen Spaß macht und kreativ ist – keine stupide Zwangsarbeit. So wird Arbeit zum Spiel, und die Jungen, die von Natur aus gern spielen, stürzen sich an jenem Samstag begeistert aufs Zaunstreichen.

Wenn wir etwas neu definieren, ändern wir unsere Wahrnehmung. Das Konzept der Schattenarbeit kann viele Tätigkeiten neu definieren. Dabei handelt es sich um Aufgaben, die wir vielleicht nie als Arbeit betrachtet haben – selbst wenn viele Menschen dafür bezahlt werden. In den letzten 20 Jahren hat das Phänomen der Schattenarbeit rasch um sich gegriffen. Um seine Bedeutung zu verstehen, können wir als Maßstab anlegen, wie wir gelebt haben, als es noch keine Schattenarbeit gab.

Das Leben vor der Schattenarbeit


Die Sunoco-Tankstelle, an der mein Vater und ich jeden Samstagmorgen unsere Familienkutsche volltankten, lag auf einer kleinen Anhöhe an der Schnellstraße in Denville, New Jersey. Der Mann im Overall, der das Benzin für uns abfüllte, hieß Ralph und war Ende 60. Sein faltenreiches Gesicht lächelte freundlich. Das Motoröl hatte seine Finger dauerhaft eingefärbt. Man sah Ralph an und wusste: Der Mann ist ein guter Mechaniker.

Persönlich legte er bei Reparaturen kaum noch Hand an, doch er stand den Jüngeren mit Rat und Tat zur Seite, und mit dem Knarrenschlüssel konnte er noch umgehen. Das Benzin füllte er mit beiläufigem Geschick ein. Dann öffnete er die Haube unseres 1949er Plymouth, zog den Ölmessstab heraus und prüfte den Ölstand. Er putzte die Vorder- und Rückscheibe mit einem Abzieher. Als ich sieben Jahre alt war – 1955 –, kostete das Benzin 29 Cent pro Gallone, und mein Vater zahlte selbstverständlich bar. Ich liebte den Benzingeruch. Für mich birgt er süße Erinnerungen – ein Aroma, um das moderne Gasrückführungssysteme die Erfahrung an der Zapfsäule geschmälert haben.

Heute übernehme ich Ralphs Aufgaben. Ich zapfe Benzin und prüfe Öl. Ich ziehe die Scheiben ab. Ich mag einen Doktortitel haben und eigentlich Bücher schreiben, doch anders als Ralph werde ich von der Tankstelle nicht bezahlt. Ich betanke nur mein Auto, als Amateur. Und das habe ich mir nicht ausgesucht. In meiner Heimat Massachusetts sind Tankwarte rar geworden.

Tja, seit den 1950er-Jahren hat sich vieles verändert. Verschiedene Jobs gibt es gar nicht mehr. Lästige Pflichten wie das Tanken bleiben uns überlassen. Blicken wir kurz auf die amerikanische Gesellschaft Mitte des 20. Jahrhunderts zurück als Referenz dafür, wie sich unsere Arbeitswelt seither verändert hat.

1955 blieben die meisten Mütter wie meine zu Hause, versorgten den Haushalt, kochten und kümmerten sich um die Kinder. Das war die traditionelle »Frauenarbeit«, die Ehefrauen und Mütter seit jeher übernahmen. Für die Hausarbeit erhielten sie natürlich keinen Lohn – es sei denn, sie verrichteten sie für andere. Es war die »Frauenarbeit«, in der das Familienleben verankert war. Seit der industriellen Revolution konnten Männer dadurch außer Haus gegen Bezahlung arbeiten gehen. Hausarbeit wurde zwar nicht bezahlt, doch Institutionen wie die Ehe, die Familie und sogar die Wirtschaft hätten ohne sie nicht überlebt. Für die wichtigsten Arbeiten, die wir erledigen, werden wir nicht unbedingt bezahlt. Hausarbeit ist die ureigentliche und grundlegendste Form der Schattenarbeit.

In den 1950er-Jahren waren es im Großen und Ganzen die Männer, die das Familieneinkommen erwirtschafteten. Sie gingen arbeiten. Dass jemand sein Büro zu Hause hatte, kam selten vor – höchstens bei Zahnärzten oder anderen Medizinern, die ihre Praxis in Anbauten untergebracht hatten. Telearbeit gab es nicht: Die Menschen pendelten noch mit Autos und Zügen und kommunizierten nicht über Glasfaserkabel. In den Büros gab es »Hilfskräfte« wie Sekretärinnen, Datentypistinnen, Büroleiter, Boten, Hausmeister – die das übrige Personal unterstützten, indem sie Routinearbeiten übernahmen. All diese Aufgaben erledigen Sie in Ihrem Homeoffice heute alleine. Und auch in den Büros in den Innenstädten werden solche Stellen immer seltener.

Zum Einkaufen ging man auch in den 1950er-Jahren schon in einen Shop. Dass es sich dabei um ein reales Gebäude handelte, muss wohl nicht eigens erwähnt werden, denn etwas anderes gab es nicht. Ja, man kannte wohl schon Versandhauskataloge, doch vom Online-Handel träumte man noch nicht einmal. Homeshopping trat in Gestalt der Avon-Beraterin, des Fuller-Brush-Manns oder der Vertreter auf den Plan, die die Encyclopaedia Britannica feilboten – oder auf Tupperpartys. Handlungsreisende, die Sie zu Hause aufsuchten, waren wie die Verkäufer in den Läden gut ausgebildet und kannten ihre Produkte aus dem Effeff. Sie konnten jede Ihrer Fragen beantworten. Es war ihr Job, die Informationen zu beschaffen, die Sie sich heute im Internet oder auch in Großmärkten selbst besorgen müssen, wo fachkundige Verkäufer mitunter so selten anzutreffen sind wie eine Scharlachtangare im Stadtpark. Im Supermarkt klingelten die Kassen im eigentlichen Wortsinn (mechanische Registrierkassen machten tatsächlich ein Klingelgeräusch!), und die Kassiererinnen nahmen das Geld entgegen. Ein Trinkgeld erhielten sie dafür nicht. Selbstbedienungskassen gab es keine.

Alles, was wir nach Hause schleppten, produzierte tonnenweise Abfall. Den warfen wir weg. Er wurde auf Deponien gekippt, die im Müll einer Konsumgesellschaft erstickten. Recycling kannte man noch nicht.

In den 1950er-Jahren gingen wir nicht oft essen. Gehörte man nicht zu den ganz Reichen, war ein Restaurantbesuch ein besonderes Ereignis. Die wenigen Fast-Food-Ketten, die es gab, waren lokal oder regional tätig, nicht landesweit. Ging man zum Essen aus, war Selbstbedienung die Ausnahme. In Restaurants brachten Kellner und Kellnerinnen das Essen an den Tisch – auch den Salat, denn eine Salatbar suchte man vergeblich. Nach dem Essen zahlten Sie, standen auf und gingen. Zum Abräumen gab es Personal.

In Ermangelung des Onlinehandels mussten Sie in die örtliche Drogerie oder an den Kiosk gehen, um peinliche Dinge wie Kondome, Diaphragmen, Hämorrhoidenmittel, Schundromane oder Pornohefte zu kaufen. Schwangerschaftstests für zu Hause gaben Frauen noch nicht das Vorrecht, sich als Erste und vielleicht Einzige über ihren Fortpflanzungsstatus zu informieren. In der Kleinstadt war das Diskretionsproblem ungleich größer, denn wer hinter dem Ladentisch stand, der kannte Sie und Ihre Familie meist – und wusste womöglich ganz genau, warum Sie...

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