Ein Testfall: Die Fatwa gegen Salman Rushdie
Am 14. Februar 1989 sprach Ajatollah Chomeini, der politische und religiöse Führer der Islamischen Republik Iran, eine Fatwa aus, in der er alle gläubigen Muslime aufforderte, den britischen Schriftsteller Salman Rushdie sowie alle an der Publikation des Romans Die Satanischen Verse1 beteiligten Verleger und Verlagsmitarbeiter zu töten. Das Buch, so Chomeinis Rechtsauskunft, richte sich gegen den Islam, den Propheten Mohammed und den Koran und kränke die religiösen Gefühle aller Muslime. Wenig später setzte eine iranische Stiftung ein Kopfgeld in Höhe von einer Million US-Dollar auf Rushdie aus. Die Fatwa veränderte das Leben des Schriftstellers für immer: Er musste sich verstecken, lebte für Jahre unter Polizeischutz in wechselnden Unterkünften. Sein japanischer Übersetzer wurde ermordet, der italienische schwer verletzt, Rushdies norwegischer Verleger wurde niedergeschossen und überlebte vermutlich nur, weil die Angreifer ihn für tot hielten.2
Im Kontext dieses Essays ist vor allem interessant, wie der Westen auf die Rushdie-Affäre reagierte. Eigentlich hätte man erwartet, dass Großbritannien und die anderen Staaten, deren Souveränität durch Chomeinis Fatwa infrage gestellt wurde, mit äußerster Schärfe darauf antworten würden. Bei aller anfänglichen Rhetorik fielen die Reaktionen insgesamt jedoch eher gedämpft aus, man war in erster Linie bemüht, die Gemüter zu beruhigen. In gewisser Hinsicht war dies durchaus verständlich: Um die Sicherheit ihrer Bürger und die öffentliche Ordnung zu wahren, sind Politiker häufig gezwungen, Kompromisse zu schließen. Großbritannien hatte schon damals Millionen muslimischer Bürger und wollte jede weitere Eskalation vermeiden. Zudem war das Verhältnis des Westens zum Iran ohnehin bereits belastet, weshalb das Interesse vorherrschte, zusätzliche Komplikationen möglichst zu vermeiden. Rushdies Situation verschlimmerte sich weiter, als die Boulevardpresse darüber berichtete, was der Schutz des Schriftstellers die britischen Steuerzahler kostete – ein weiterer Impuls für die Politik, die Affäre herunterzuspielen und auszusitzen. Doch alle Hoffnungen, die ganze Sache würde schon irgendwann im Sande verlaufen, erwiesen sich vorerst als haltlos: Es sollte fast ein Jahrzehnt vergehen, bis die iranische Regierung sich von der Fatwa distanzierte.
Überraschender und auch enttäuschender als die Reaktion der Politik fiel die vieler Schriftstellerkollegen aus. Vor allem der 2011 verstorbene Essayist Christopher Hitchens, der mit Rushdie eng befreundet war, hat deren Verhalten immer wieder kritisiert.3 Eigentlich sind Intellektuelle im Westen in einer privilegierten Situation, sie tragen keine politische Verantwortung und können sich somit klarer zu Grundsatzfragen äußern. Die internationale Schriftstellervereinigung P. E. N. tat sich zunächst schwer, eindeutig Position zu beziehen. Viel Aufsehen erregte die Stellungnahme des Thrillerautors John le Carré, der sich in einem Leserbrief gegen die Veröffentlichung der Taschenbuchausgabe der Satanischen Verse aussprach; niemand habe »das gottgegebene Recht, eine großartige Weltreligion zu beleidigen und dann ungestraft veröffentlicht zu werden«, so le Carré, der noch hinzufügte, er habe mehr Angst um die Hände der Frau in der Poststelle von Rushdies Verlag als um die Einnahmen des Kollegen. Der Konflikt sollte dann 1997 eskalieren, als le Carré wegen der Verwendung vermeintlich antisemitischer Klischees selbst am Pranger stand und Rushdie in einem Leserbrief erklärte, es falle ihm schwer, sich mit jemandem zu solidarisieren, der sich an einer vergleichbaren Kampagne gegen einen Schriftsteller beteiligt habe; le Carré erneuerte daraufhin seine Vorwürfe und betonte, er habe damals einen »weniger kolonialistischen und selbstgerechten Ton« in die Debatte bringen wollen.4 Dass der P. E. N. sich schließlich doch entschieden auf die Seite Rushdies stellte und die Fatwa als inakzeptablen Versuch verurteilte, das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken, war vor allem Susan Sonntag zu verdanken, der damaligen Präsidentin des amerikanischen Ablegers der Schriftstellervereinigung.5
Kulturgeschichtlich ist die Affäre um Rushdies Satanische Verse symptomatisch, wobei ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen möchte, dass ich im Folgenden keine eurozentristische Position vertrete und dass es mir keineswegs darum geht, die Rechte und Anschauungen weißer Christen oder Atheisten über die der Angehörigen anderer Ethnien oder Religionen zu stellen. Schon ein Blick auf die Herkunft des Protagonisten dieses historischen Dramas sollte dies klarmachen: Salman Rushdie wurde 1947 wenige Wochen vor der Teilung Britisch-Indiens im indischen Bombay (dem heutigen Mumbai) geboren; wenige Wochen nach seiner Geburt übersiedelte seine Familie ins muslimische Pakistan. Ab seinem 14. Lebensjahr besuchte Rushdie ein College in Großbritannien, jenem Land, dessen Königin ihn Jahrzehnte später zum Ritter schlagen sollte. Rushdie ist also alles andere als ein Vertreter des europäischen Imperialismus, seine Identität ist auf komplexe Weise sowohl durch den indischen Subkontinent als auch vom Westen geprägt. Seine Familie war muslimisch, der Geburtsname seines Vaters lautete Khwaja Muhammad Din Khaliqi Dehlavi. Dieser wandte sich jedoch früh vom Glauben ab, wurde Atheist und änderte seinen Namen im Erwachsenenalter aus Bewunderung für den (im Westen als Averroës bekannten) spanisch-arabischen Arzt und Philosophen Ibn Ruschd in Anis Rushdie. Ibn Ruschd, 1126 in Cordoba geboren, verfasste unter anderem einflussreiche Kommentare zu den Werken des Aristoteles. Sein auf dessen Logik beruhender Rationalismus brachte Ibn Ruschd zeitlebens immer wieder in Konflikt mit den islamischen Autoritäten, die damals Südspanien beherrschten. Für die Philosophiegeschichte hat er eine enorme Bedeutung, weil die Schriften des Aristoteles im Westen damals nur über den Umweg ihrer arabischen Übersetzungen zugänglich waren, die auch die Basis des Denkens des größten jüdischen Philosophen des Mittelalters, Maimonides, darstellten; der wohl einflussreichste christliche Denker dieser Zeit, Thomas von Aquin, musste teilweise ebenfalls auf lateinische Übertragungen aus dem Arabischen zurückgreifen.
In seiner Autobiografie Joseph Anton schreibt Rushdie, sein Familienname sei das erste große Geschenk gewesen, das sein Vater ihm gemacht habe. Er selbst habe diesen Namen stets als schicksalhaftes Vermächtnis empfunden, da er seinen Weg als vor keiner Kontroverse zurückschreckender Freigeist vorgezeichnet habe. Rushdies Lebenswerk ist in vielerlei Hinsicht eine liebevolle, zugleich aber schonungslos kritische Auseinandersetzung mit seinem Geburtsland Indien sowie mit Pakistan, wo er zunächst aufwuchs. Mitternachtskinder, der Roman, mit dem Rushdie der internationale Durchbruch gelang und für den er 1981 den renommierten Booker Prize erhielt, ist eine magisch-realistische Allegorie auf die Geburt Indiens; in Scham und Schande (1983) befasst er sich mit der Geschichte Pakistans, in den Satanischen Versen mit dem Islam, der Religion, in die sein Vater hineingeboren wurde, von der er sich löste, von der er aber zeitlebens fasziniert war – eine Faszination, die Salman übernahm. In Shalimar der Narr (2005) geht es um Kaschmir. Rushdie hat die Liebe zu seiner Heimatregion nie verleugnet, auch wenn der Roman, die Kunstform, der er sein Leben widmete, europäischen Ursprungs ist. Die tragischen Verbindungen zwischen dem indischen Subkontinent und der britischen Kolonialmacht hat er immer wieder thematisiert, allerdings betrachtete er seine Herkunftsländer nie stereotyp als Opfer des Imperialismus.
Rushdie studierte Geschichte am King's College in Cambridge. Als dort ein Kurs über Mohammed und die frühe Geschichte des Islam wegen mangelndem Interesse abgesagt wurde, protestierte Rushdie, so dass er schließlich eine Art Privatissimum bei dem großen Historiker und Biografen Arthur Hibbert absolvieren konnte, der ihm viel über historische Vorstellungskraft beibrachte. Bei dieser Gelegenheit hörte Rushdie erstmals von der Anekdote aus der Biografie Mohammeds, laut der dieser Koranverse über drei weibliche Göttinnen nicht vom Erzengel Gabriel, sondern vom Teufel empfangen habe. Diese Geschichte inspirierte Rushdie zum Titel des Romans, der sein Leben für immer verändern sollte und ihn für Jahre zu einem Dasein im Untergrund verurteilte. Als er dieses Dasein nicht länger ertrug und zu dem Eindruck gelangte, er werde für Großbritannien zu einer Last, übersiedelte er schließlich im Jahr 2000 nach New York.
Spätestens hier gibt es gewisse Parallelen zwischen der Biografie Rushdies und der Geschichte von Ayaan Hirsi Ali.6 Hirsi Ali wurde 1969 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu in eine muslimische Familie geboren. Ihr Vater war Oppositionspolitiker und wurde kurz nach ihrer Geburt inhaftiert; in seiner Abwesenheit setzte ihre Großmutter, eine orthodoxe Muslimin, durch, dass man Ayaan der traditionellen Klitorisbeschneidung unterzog. Später wurde sie streng muslimisch erzogen; als Frau durfte sie lediglich eine Ausbildung zur Sekretärin absolvieren. Als sie 21 war, arrangierte ihr Vater eine Heirat mit einem in Kanada lebenden Cousin, von dem sie noch nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Auf der Reise nach Nordamerika nutzte Hirsi Ali einen Zwischenstopp in Deutschland, um sich abzusetzen und in den Niederlanden Asyl...