I
Rich Kids
Eins zu Eintausend
Was ist Glück? Die Chance auf sechs Richtige im Lotto beträgt 1 zu 1,15 Millionen. Stellen Sie sich vor, Sie haben einmal im Leben richtig Glück gehabt, den Hauptgewinn gezogen. Und dann?
Kennen Sie die Geschichte des Postboten, dem Glück und Reichtum Pech und Elend bringen? Mit siebenundzwanzig Jahren füllt er einen Lottoschein aus, gibt ihn ab und gewinnt sieben Millionen Mark. Er feiert, schenkt und investiert, krempelt sein Leben um – und ist knapp zehn Jahre darauf ein armer Mann, Hartz-IV-Empfänger.
Die Chance, mit einem eineiigen Zwilling aufzuwachsen, liegt bei 1 zu 1000. Ein Glücksfall? Ja – wir haben nie daran gezweifelt. Wir sind mit einem Sechser in der Naturlotterie zur Welt gekommen – aber das bedeutet nicht, dass es immer nur einfach war, zu zweit zu sein.
Vielleicht brauchen wir Talent zum Glücklichsein. Die Gabe, das zu sehen, anzunehmen, was uns mitgegeben wird. Und die Kraft, dazu zu stehen. Wir glauben, Glück ist keine Rechenaufgabe. Es ist eine Frage der Haltung.
You ’n Me
Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?
Haben wir uns tatsächlich entschieden, immer füreinander da zu sein, oder haben wir es hingenommen, wie man sich etwa damit arrangiert, dass auf den Frühling der Sommer folgt und auf den Sommer der Herbst und dass der Winter immer länger dauert, als dir lieb sein kann?
Es war beides.
Und es war nicht leicht.
Julia:
Meine erste Erinnerung bist du. Nicht Mama oder Papa. Dein kleines blasses Gesicht, deine blauen Augen, dein weit offener Mund. Du schreist, die Händchen zu Fäusten geballt, dein ganzer Körper ist angespannt, ein einziger Schrei, ich schreie auch, aus Leibeskräften, wir schreien, als wollten wir nie wieder aufhören, und mein Gefühl sagt, etwas stimmt hier nicht. Irgendwas ist anders, als es sein sollte. Es gibt mich zwei Mal, du bist ich, und du bist immer da und guckst mich an.
Nina meint, ich würde diese Szene nur aus Mamas Erzählungen kennen und hätte sie meiner Erinnerung sozusagen eingemeindet, aber das ist nicht wahr.
Mama lieferte im Nachhinein nur das Setting der Szene: Sie hatte in Wiesbaden einen nigelnagelneuen Zwillingskinderwagen erstanden, in dem wir beide einander gegenübersaßen, und schob uns an einem Samstagvormittag im Frühling durch die Fußgängerzone. Sie dachte, es würde uns gefallen, einander ständig anzusehen, aber das Gegenteil war der Fall. Wir schrien so ohrenbetäubend laut und ausdauernd, dass sie sich nicht zu helfen wusste. Irgendwann kam Oma auf die Idee, uns umzusetzen – hintereinander, wie in einem Omnibus. Sofort war Ruhe.
Diese Szene handelt von jenem Schreckmoment, in dem du deinem Doppelgänger ins Gesicht blickst. Während andere Kleinkinder beginnen, sich selbst in Abgrenzung von ihrer Umwelt wahrzunehmen, spürst du als Zwilling, dass es dich zwei Mal gibt. Was das für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutet, mögen Psychologen sagen. Ich weiß nur, dass dieser Schreckmoment und die Liebe zu meiner Schwester untrennbar miteinander verbunden sind. Hat nicht jede große Liebe auch etwas Erschreckendes?
Nina:
Es gibt da diese Schlüsselszene. Julia und ich waren noch nicht mal neun, als Mama ging. Das klingt entsetzlich, und so fühlte es sich auch an, an jenem Morgen, im Flur unseres Einfamilienhauses in Niederseelbach.
Mama war am Vortag ausgezogen, sie hatte uns zurückgelassen, und meine Schwester war vollkommen lost. Als ich im Schlafanzug aus dem Badezimmer kam, stand sie mit hängenden Armen vor dem Treppengeländer im ersten Stock und weinte. Dicke Tränen liefen über ihre Wangen.
»Julia, was hast du denn?«, rief ich erschrocken.
»Jetzt ist Mama weg!«, schluchzte meine Schwester.
»Das macht doch nichts«, tröstete ich.
»Aber woher sollen wir jetzt wissen, was wir anziehen?«
Da begriff ich.
Mama hatte uns jeden Abend zwei identische Garnituren Kleider über das Geländer gehängt: Unterwäsche, zwei paar Strümpfe, zwei Hosen, zwei Longsleeves und so weiter.
Jetzt war das Geländer blank: ein Sinnbild für das Verlassensein.
Sofort schwang das Zwillingspendel in meinem Inneren aus. Meine Schwester war schwach, also nahm ich meine Kraft zusammen. Sie weinte, also setzte ich ein Lächeln auf. Sie stand da wie festgefroren, also machte ich mich auf den Weg.
Mit zwei großen Schritten war ich beim Schrank und suchte frische Klamotten für uns heraus. Julia sah mich erwartungsvoll an. Dann hörte sie auf zu weinen und zog sich an.
Nun war es entschieden.
Meine Schwester und ich hatten einen Pakt getroffen. Wir würden füreinander da sein, egal, was das Leben für uns vorsah. In dem Spiel von verlassen und verlassen sein machten wir nicht mit.
Nichts kam zwischen uns.
Sollte der Rhein über die Ufer treten und erst Mainz-Kastel, dann Wiesbaden, Naurod und Niederseelbach mitreißen, unsere Schule und die Arztpraxis, in der Papa so viel Zeit verbrachte, und vor allem die Wohnung, zwei Dörfer weiter, in die Mama gezogen war. Julia und ich würden ganz oben in einer schwankenden Pappel sitzen, uns an den Händen halten und das Schauspiel beobachten.
»Nach dir!«
»Du warst schneller. Immer schon. Schon seit dem allerersten Augenblick«, sagt Julia.
Tatsächlich wurde ich als Erste von der Ärztin aus Mamas Bauch gezogen – Sekunden vor meiner Schwester. Eine Frage des Zufalls oder Fügung?
Jedenfalls nahm ich die Rolle der Älteren an und füllte sie aus. Papa behauptet, im Brutkasten hätte ich keinen Moment stillgelegen.
»Du wolltest raus aus diesem Inkubator, das war eindeutig«, sagt er. »Eine Entdeckerin. Deine Schwester war viel ruhiger.«
In den dreiunddreißig Jahren, die vergangen sind, seit Papa vor zwei Brutkästen stand und das Wunder des doppelten Lebens bestaunte, das er gezeugt hatte, hat sich nichts geändert.
Julia und ich sind unseren Rollen treu geblieben. Ich bin laut, schnell und manchmal unbedacht. Wenn ich im Wilden Westen leben würde und meine Zunge ein Colt wäre, müssten meine Mitmenschen sich schusssichere Westen zulegen. Offen gesagt neige ich zu Querschlägern.
Zum Glück habe ich Julia.
Meine Schwester nimmt sich Zeit. Sie sieht hin und hört zu. Dann formen sich allmählich Gedanken hinter ihrer Stirn, nehmen Gestalt an und marschieren der Reihe nach auf. Julia prüft jeden einzelnen Gedanken auf Herz und Niere, bevor sie ihn in die Welt entlässt. Was sie sagt, wenn sie etwas sagt, ist meistens richtig. Ein Schuss, ein Treffer. Meine Schwester ist viel stärker, als sie denkt.
Ihr Freund Alex – der erste Mann in unserem Leben, der es liebt, Zwillingsrätseln auf den Grund zu gehen – meint, das sei gar nicht verwunderlich. »Eine geht vor«, sagt er, »und die andere ist das Back-up. Die perfekte Symbiose.«
Mir gefällt dieser Gedanke.
Julia gibt mir Deckung. Sie steht aber nicht hinten an. Sie ist nicht die Letzte, genauso wenig, wie ich die Erste bin. Solche Kategorien gibt es bei uns nicht.
Zuerst kommt immer dein Zwilling. Julia – aus meinem Blickwinkel – und ich aus ihrem.
Stellen Sie sich vor, nicht Kate Winslet und Leonardo Di Caprio würden beim Untergang der Titanic um ihr Überleben kämpfen, sondern Julia und ich. Die offene See, Eisberge, ein wurmstichiger Holzplanken und ein eineiiges Zwillingspaar. Die Frage, wer diese Situation für sich entscheiden würde, erübrigt sich: der Sieger wäre die See. Julia und ich müssten beide untergehen – und zwar aus einem sehr einfachen Grund: Keine von uns würde sich als Erste auf das Holzbrett ziehen. Wir würden so lange »Nach dir!« sagen, bis der liebe Herrgott uns zusammen zu sich riefe.
Zum Glück würde niemand diese Szene aus Titanic mit uns besetzen wollen. Tragik liegt uns nicht besonders – wir sorgen ja schon mit unserem Aussehen für gute Laune.
Aber ich will nicht abschweifen.
Als Ältere mache ich meistens den Anfang. Im Alltag, im Business und auf unseren Trips. Warum sollte es hier anders sein? Julia und ich haben vereinbart, dass ich zu erzählen beginne. Sie übernimmt, wenn sie sich davon überzeugen konnte, dass die Sache läuft. Diese Regelung passt für uns beide. Falls ich mich um Kopf und Kragen rede, falls ich den Karren in den Dreck fahre, wie man so sagt, holt sie ihn wieder raus.
Dafür behält meine Schwester, wie so oft, das letzte Wort.
Ein guter Deal.
Early Baby Birds
Wir waren Frühchen. Das Wort klingt lustig, nach Früchtchen und frühen Vögeln und Frühaufstehern. Als hätte man mehr vom Leben, je eher man damit anfängt. In den Achtzigerjahren waren Frühgeburten mit höheren Risiken verbunden als heute. Unsere Eltern hatten wochenlang Angst um uns.
Der Trouble mit uns Zwillingen hatte allerdings längst begonnen, schon als die Schwestern Mama in den OP schoben.
Zu diesem Zeitpunkt war sie seit ganzen vier Wochen im Krankenhaus unter Beobachtung. Die Schwangerschaft hatte sie ans Bett gefesselt; sie hatte nicht einmal die Erlaubnis, alleine ins Bad zu gehen. Fesseln ist ein gutes Stichwort. Für sie muss Muttersein anfangs wie ein Gefängnis gewesen sein. »Ihr habt mich ja kaum atmen lassen«, sagt sie, »Ihr beide wart das Gegenteil von Freiheit!« Aber ich will nicht vorgreifen.
In den Wochen vor der Entbindung bekam sie Infusionen, die Einstichstelle entzündete sich, der Arm schwoll an und schmerzte.
»Es war einfach...