Leseprobe Einleitung Die in diesem Band vereinigten Essays zur Geschichte Deutschlands von 1918 bis 1945 behandeln wichtige Schnittpunkte auf dem Weg zur Errichtung der NS-Diktatur, zur Krise und zum Zerfall des Dritten Reiches. Zugleich werden der Widerstand gegen Hitler und seine innen- und außenpolitischen Zielsetzungen an exemplarischen Beispielen und im Hinblick darauf dargestellt, welches die historisch möglichen Alternativen zum NS-Herrschaftssystem waren. Der größere Teil der Beiträge ist bislang nicht oder nur in entlegenen Publikationen veröffentlicht worden. In einzelnen Fällen wurde auf bereits gedruckte Texte zurückgegriffen, die angesichts der gegenwärtigen zeitgeschichtlichen Debatten erneute Aktualität beanspruchen können. Gerade in Anbetracht der Welle von zeitgeschichtlichen Veröffentlichungen, die eine neuartige Gesamtinterpretation der NS-Herrschaft propagieren, die von einer Dichotomie zwischen der Monokratie Hitlers und der deutschen Volksgemeinschaft ausgeht, stellen die in diesem Buch veröffentlichten Aufsätze darauf ab, die Rolle Adolf Hitlers in den jeweiligen historischen Kontext einzuordnen und die strukturellen Faktoren hervorzuheben, welche die NS-Diktatur und die von ihr in Gang gesetzte Eskalation von Gewalt und Terror ermöglicht haben. Ein erster Teil dieses Buches hat die Auflösung der Weimarer Republik und die NS-Machteroberung von 1933 zum Gegenstand und untersucht einerseits, inwieweit Mängel der Weimarer Reichsverfassung zum Niedergang des parlamentarischen Systems beigetragen haben, andererseits welche Konsequenzen 1948 /49 vom Parlamentarischen Rat bei der Verabschiedung des Grundgesetzes daraus gezogen wurden. Es wird dabei deutlich, dass das Scheitern des parlamentarischen Systems zum wenigsten auf verfassungspolitische Faktoren zurückgeführt werden kann, wenngleich die dem Reichspräsidenten eingeräumten Prärogativen den Übergang zur Diktatur Hitlers erleichterten. Entscheidend für den Untergang der Republik war der Einfluss der konservativen Kamarilla und der Reichswehrführung auf den Reichspräsidenten, die sich für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler aussprachen, um den von ihr befürchteten Rückfall in das parlamentarische System zu verhindern. Hitler war der Nutznießer dieser Konstellation, in der er offene Neuwahlen fürchten musste. Er und seine Adlaten verfolgten keineswegs eine von langer Hand vorbereitete Machteroberungsstrategie und ebenso wenig eine revolutionäre Umwälzung, wenngleich die ursprüngliche Kalkulation, sich bei einem von der KPD angestrebten Umsturz als Retter der Nation aufzuspielen und die politische Macht in Form einer Bartholomäusnacht zu usurpieren, auch nach dem 30. Januar 1933 nicht völlig verschwand. Vielmehr bestand Hitlers improvisiertes Strategiekonzept in einer Kombination aus pausenloser nationalistischer Propaganda und systematischer Gleichschaltung öffentlicher und privater Institutionen. Sehr zur Enttäuschung des radikal eingestellten SA-Flügels begnügte sich Hitler damit, die bestehenden staatlichen Institutionen gleichzuschalten und einen pseudolegalen Kurs einzuschlagen, was auch darin zum Ausdruck kam, dass er die formelle Führung der NSDAP dem eher farblosen Rudolf Heß übertrug. Ein zweiter Teil des Buchs analysiert Hitlers Stellung im NS- Herrschaftssystem und die zunehmende Unterstützung seiner Politik durch die deutsche Öffentlichkeit in den Anfangsjahren des Regimes. Als Reichskanzler behielt Hitler seinen bisherigen Führungsstil bei, sich um politische Details möglichst wenig zu kümmern, und er begann schon unmittelbar nach der Übersiedlung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg nach Neudeck die täglichen Regierungsgeschäfte zu vernachlässigen. Die aufgrund der Reichstagsbrandverordnung und des Ermächtigungsgesetzes vollzogene Ausschaltung des Reichstags bei gleichzeitiger Entmachtung des Reichskabinetts als Entscheidungsorgan schuf ein institutionelles Vakuum. Anders als im Sowjetsystem, wurde diese Leerstelle nicht durch ein entsprechendes Parteigremium ausgefüllt, nachdem Hitler im Dezember 1932 den von Gregor Straßer aufgebauten zentralen Führungsapparat aufgelöst hatte. Fortan rivalisierten mehr als 36 Gauleiter um die Gunst des »Führers«, und dazu trat eine Reihe von »sekundären Bürokratien«, die als führerimmediate Behörden einen Wildswuchs ohnegleichen auslösten. Diese Konstellation sowie das an die Stelle des Verwaltungshandelns tretende Prinzip der »Menschenführung« bewirkten einen sozialdarwinistisch geprägten Kampf aller gegen alle und eine tendenzielle Auflösung der Verwaltungseinheit. Sebastian Haffner hat in seinem Essay über »Jekyll & Hyde« die inneren Antagonismen von Hitlers Herrschaftssystem frühzeitig beschrieben und vor einer Überschätzung der »staatsmännischen« Eigenschaften des Diktators gewarnt. Während in der gegenwärtigen Forschung die Tendenz vorherrscht, der demagogischen Verführungskunst des Diktators die Bereitschaft großer Teile der deutschen Bevölkerung, ihm bedingungslos zu folgen, gegenüberzustellen und von einer Dichotomie von Führer und Gefolgschaft auszugehen, analysieren die folgenden Essays die psychologischen Wurzeln des Hitlerkults und dessen Grenzen. Im Gegensatz zu der von einigen Forschern vertretenen geradezu dithyrambischen Hochschätzung der »Volksgemeinschaft« konnte das Regime nur auf dem Höhepunkt seiner spektakulären außenpolitischen Erfolge auf eine ungeteilte Zustimmung der Bevölkerung rechnen. Dafür war die von Hitler eingenommene Rolle des Friedensbewahrers von konstitutiver Bedeutung. Doch schon mit Kriegsbeginn und spätestens seit dem Herbst 1941 setzte eine zunehmende Ernüchterung ein, die sich zunächst freilich in erster Linie gegen das System der »Bonzenherrschaft«, nicht gegen die Person Hitlers richtete. Die von der NS-Propaganda systematisch herausgestellte »Volksgemeinschafts-Parole« evozierte ein Gefühl sozialer Gleichheit. Aber mit Ausnahme einiger weniger symbolischer Akte wie der Einführung des obligatorischen Eintopfessens blieben die sozialen Unterschiede bestehen, hielt sich der ökonomische Aufstieg für die breiten Massen in Grenzen und waren auch die Versprechen für eine Besserstellung des Mittelstandes überwiegend leere Worte. All dies bewirkte den Rückzug des einfachen Bürgers in den privaten Raum und eine fortschreitende Entpolitisierung. Die Hypothese, die »Volksgemeinschaft« habe mittels der Exklusion von Juden und angeblicher »Gemeinschaftsfremden« die Radikalisierungsspirale selbsttätig in Gang gesetzt, widerspricht den verfügbaren sozialen Daten und ist nicht geeignet, die kumulative Radikalisierung des Systems, die auf der faschistischen Parteistruktur beruht, zu erklären. Die zunehmende Auflösung der gesetzesstaatlichen und moralischen Grundlagen des NS-Systems war in der antagonistischen Struktur der NSDAP angelegt. Am Beispiel der Eskalation der Judenverfolgung wird die fortschreitende Aushöhlung des Rechtsbewusstseins und die unbeschränkte Indienststellung des Justizapparats für die Zwecke der Partei geschildert, desgleichen der Übergang zum Rassenvernichtungskrieg, der die Bevölkerung in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion völliger Rechtlosigkeit unterwarf. Neben die nun einsetzende »Endlösung« der Judenfrage aufgrund der Mordaktionen von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes trat die von Heinrich Himmler als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums vorangetriebene Germanisierungspolitik des »Generalplans Ost«, der die Deportation und Liquidation von Millionen Menschen vorsah. All das mündete in eine Eskalation ungebremster Gewaltausübung, die in den maßlosen Mordaktionen während der letzten Wochen des Regimes gipfelte und nun verstärkt auch die eigene Bevölkerung erfasste. Ein dritter Teil der Beiträge befasst sich mit der fortschreitenden Auflösung des Dritten Reiches. Hier geht es um die Facetten der zunehmenden Selbstzerstörung des Systems sowie das Ausbleiben überfälliger Rationalisierungsschritte durch Hitler und dessen Weigerung, eine durchgreifende Reform der militärischen Spitzengliederung und politischen Führungsstruktur vorzunehmen. Spätestens die Niederlage von Stalingrad ließ Letztere als unabweisbar erscheinen. Das Scheitern der Bewegung des 20. Juli 1944 und die danach eintretende vollständige Blockierung jeglicher Kursänderungen durch den im Führerbunker von der Realität abgeschnittenen Diktator hatte zur Folge, dass sich Gegenkräfte gegen die forcierte Durchhaltepolitik des Regimes nicht artikulieren konnten und der Weg in den Abgrund unaufhaltsam war. Man hat dem Regime eine ungewöhnlich große Stabilität zugesprochen. Der sich über mehrere Jahre abzeichnende militärische Zusammenbruch stand jedoch in kommunizierenden Röhren mit der Auflösung der öffentlichen Institutionen und der Aushöhlung der inneren und allgemeinen Verwaltung auf der Mittelebene wie auch auf der kommunalpolitischen Ebene infolge der usurpierten Befugnisse der NSDAP und der SS. Seit dem Sturz Mussolinis betrieben Martin Bormann als Leiter der Parteikanzlei und Robert Ley als Reichsorganisationsleiter die Revitalisierung der NSDAP, mithin die Umwandlung der schwerfälligen und sterilen Massenpartei in eine schlagkräftige politische Formation. Aber für eine derartige Parteireform fehlten alle inneren Voraussetzungen. Die Strategie Bormanns beschränkte sich auf eine fanatisierte ideologische Mobilisierung zugunsten eines Durchhaltens um jeden Preis. Mit der damit verknüpften Politik der »Partifikation« suchte die Parteikanzlei gleichsam im letzten Moment jene Kompromisse rückgängig zu machen, die Hitler und die NSDAP durch die Gleichschaltungspolitik nach dem 30. Januar 1933 mit dem herkömmlichen Staatsapparat eingegangen waren. Bezeichnenderweise beabsichtigten Bormann und Himmler, den »Deutschen Volkssturm« der Partei zu unterstellen und damit die Niederlage Ernst Röhms rückgängig zu machen. Die kumulative Radikalisierung des NS-Herrschaftssystems fand ihren Höhepunkt in der »Endlösung« der Judenfrage. Die Führungselite stimmte darin überein, dass alles getan werden sollte, um Deutschland »judenfrei« zu machen. Jedoch gab es bis 1940 keine reale Alternative zur Forcierung der jüdischen Auswanderung, und die später betriebene Ermordung des jüdischen Bevölkerungsteils lag noch außerhalb jeder realistischen Erwägung. Zudem erwies sich aus dieser Sicht die erzwungene Auswanderung nach der Annexion Polens mit mehr als drei Millionen jüdischer Bürger endgültig als ein »Tropfen auf den heißen Stein«. Ebenso wenig versprachen die verschiedenen Reservatspläne von Nisko bis zum Madagaskarplan eine »Lösung«. Die Sprengung des gordischen Knotens und der Schritt zur »Endlösung« waren gleichwohl ein komplexer Prozess. In der Forschung überwiegt die Annahme, dass Hitler im Spätherbst 1941 - nachdem die deutsche Kriegserklärung gegen die USA bisherige außenpolitische Rücksichten obsolet zu machen schien - die Entscheidung zur systematischen Liquidierung des europäischen Judentums getroffen hat, für welche die Massaker der Einsatzgruppen und die Errichtung der ersten Vernichtungslager in den besetzten Gebieten der Sowjetunion eine Perspektive geöffnet hatten. Der »Wendepunkt zur Endlösung«, der im dritten Abschnitt dieses Buches behandelt wird, erbringt demgegenüber den Nachweis, dass noch zum Zeitpunkt der Wannseekonferenz von Anfang 1942 der Schritt zur systematischen Massenvernichtung nicht vollzogen war und sich selbst der Diktator an die generelle Sprachregelung einer Abschiebung der zu deportierenden Juden »nach Osten« hielt. Das dann von Adolf Eichmann systematisch umgesetzte Programm der europäischen »Endlösung« begann erst mehrere Wochen nach der Wannseekonferenz. Es spricht daher alles dafür, dass Hitler, sosehr er die Ausrottung des europäischen Judentums herbeiwünschte, gleichwohl keinen förmlichen Befehl für die von Himmler und Eichmann in die Tat umgesetzte Gesamtlösung erteilt hat. Das entsprach seiner Neigung, unbequeme oder unpopuläre Entscheidungen zu umgehen und die Verantwortung dafür zu kaschieren. Dieses Halbdunkel der politischen Willensbildung war jedoch für die Genesis des Holocaust als Gesamtprogramm bezeichnend und hilft zu erklären, warum sich kein systeminterner Widerstand gegen dessen Implementierung erhob und weshalb auf die schließlich von Heinrich Himmler im Oktober 1943 aufgedeckten Mordaktionen von den Satrapen mit kollektiver Verdrängung reagiert wurde. Der vierte Teil dieses Bandes umfasst Beiträge zur Geschichte der Opposition gegen Hitler und schildert die unterschiedlichen Phasen und Zielsetzungen der sich 1943 in der Bewegung des 20. Juli zusammenschließenden Widerstandskreise. Bis 1939 gelangte die entstehende bürgerliche Opposition über eine Strategie der Kriegsverhinderung nicht wirklich hinaus, und Hitlers unerwartet rascher Sieg über Frankreich und auch der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion bewirkten eine nachhaltige Schwächung des sich formierenden Widerstands. Zwar bestand zum Zeitpunkt des Münchner Abkommens ein engerer Kern von Gegnern des Systems, aber nicht vor dem Spätherbst 1941 bildete sich eine breiter aufgestellte Verschwörungsgruppe aus. Die nationalkonservativen Verschwörer durchliefen einen langen Lernprozess, bis sie erkannten, dass korrigierende Eingriffe in die Führungsstruktur der Verstrickung des Regimes in einen verhängnisvollen militärischen Amoklauf ebenso wenig Abhilfe schaffen konnten wie der Versuch, die Westmächte zu einer festen Haltung gegenüber Hitlers Lebensraumpolitik und deren Vorstufen zu bewegen. Während die unter der Führung Henning von Tresckows sich bildende Militäropposition nach vergeblichen Bemühungen, eine Änderung der militärischen Spitzengliederung zu erreichen, die Konsequenz daraus zog und sich entschloss, Hitler mittels eines Attentats auszuschalten, blieben bei der zivilen Opposition, so bei Carl Friedrich Goerdeler, auf lange Zeit hinaus Vorbehalte bestehen, die dann von Claus Schenk Graf von Stauffenberg vorangetriebenen Attentatspläne zu unterstützen. Die Initiative ging 1943 an Tresckow, Friedrich Olbricht und Stauffenberg über, während Ludwig Beck als Verbindungsglied zwischen Militäropposition und den Kreis um Goerdeler fungierte. Für Stauffenberg und seine Mitverschwörer spielte die Überlegung eine Rolle, die politische und militärische Handlungsfähigkeit des Deutschen Reiches nicht durch eine Fortsetzung des Rassenvernichtungskriegs gegen die Sowjetunion endgültig zu gefährden. Beim Goerdelerkreis standen moralische Motive, insbesondere die Ablehnung der verbrecherischen Politik Hitlers und der NSDAP und SS, im Vordergrund, zugleich ging es um die Schaffung einer verfassungspolitischen Neuordnung, die Alternativen zu dem als gescheitert betrachteten parlamentarischen System von Weimar eröffnete. Anders als bei den Mitgliedern des Kreisauer Kreises, die frühzeitig bereit waren, auf eine deutsche Führungsstellung im Nachkriegseuropa zu verzichten, löste sich der konservativ-nationale Flügel unter Goerdeler und Ulrich von Hassell nur zögernd von diesem Anspruch zugunsten der Bildung einer europäischen Union. Der Pervertierung des deutschen Staatsgedankens stellten die Verschwörer ein umfassendes Reformprogramm entgegen, das an berufsständische Ideen anknüpfte und sich für Selbstverwaltung und Föderalismus - bei beträchtlichen Varianten im Einzelnen - einsetzte. Insbesondere der Kreisauer Kreis trat mit umfassenden Neuordnungskonzepten hervor, die weit reichende soziale Reformen mit gesamteuropäischer wirtschaftlicher Kooperation verknüpften. Im Unterschied zu der Bewegung des 20. Juli 1944 plädierte die maßgeblich von Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack inspirierte »Rote Kapelle« für eine enge Anlehnung an die Sowjetunion und eine sozialistisch geprägte Nachkriegsordnung. Entgegen der von der Gestapo stammenden und im Zeichen des Kalten Krieges verfestigten Interpretation spielte prosowjetische Spionage eine eher marginale Rolle. Ähnlich wie bei der Opposition der »Weißen Rose« ging es darum, breitere Bevölkerungsgruppen gegen die Fortführung der verbrecherischen und militärisch sinnlosen Kriegsführung zu gewinnen. Infolge schwerwiegender Indiskretionen des sowjetischen Geheimdienstes fiel die ausgedehnte Widerstandsorganisation der »Roten Kapelle« schon 1942 dem Zugriff der Gestapo zum Opfer. Abschließend erinnert der vorliegende Band an meinen akademischen Lehrer Hans Rothfels, den Nestor der Erforschung des deutschen Widerstandes gegen Hitler und langjährigen Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Es kann nicht darum gehen, ihn gegenüber der massiven Polemik einer jüngeren Historikergeneration zu rechtfertigen, wohl aber darum, ihn von dem Vorwurf zu befreien, dem Nationalsozialismus vorgearbeitet und nach 1945 einen Neuanfang verhindert zu haben. Zwischen den Generationen stehend, erblickte Rothfels nach seiner Rückkehr aus der erzwungenen Emigration seine Aufgabe als akademischer Lehrer primär darin, zwischen der nicht zuletzt vom Historismus geprägten Geschichtswissenschaft der zwanziger Jahre und der Richtungslosigkeit der Nachkriegsjahre zu vermitteln und eine Kontinuität des Geschichtsbewusstseins zu stiften. Teil I Von Weimar zum Dritten Reich Kapitel 1 Von der Weimarer Republik zum nationalsozialistischen Führerstaat Die meisten Zeitgenossen sahen in dem am 30. Januar 1933 gebildeten Kabinett der nationalen Konzentration mit Adolf Hitler als Reichskanzler lediglich eine der vielen kurzlebigen Präsidialregierungen und gaben der neuen Regierungskoalition eine Lebensdauer von nur wenigen Monaten. Dass sich aus diesem letzten Präsidialkabinett von Gnaden Paul von Hindenburgs der totalitäre Führerstaat entwickeln würde, ahnten die wenigsten politischen Beobachter. Auch Hitlers konservative Bündnispartner rechneten damit, dass das Präsidialkabinett, wenn es erst einmal gelungen war, die sogenannten »marxistischen Parteien« auszuschalten und die Freien Gewerkschaften zu eliminieren, in autoritärem Sinne umgebildet werden würde. Selbst führende Nationalsozialisten gaben sich der Illusion hin, die nach der Zerschlagung der Linksparteien in ihren Augen überflüssig gewordene NS-Massenbewegung in einen kleinen Orden zur Führerauslese umzubilden.1 Tatsächlich aber war mit der Etablierung der Reichskanzlerschaft Adolf Hitlers der Rückweg zum parlamentarischen System definitiv versperrt. Seine Bündnispartner im Lager der DNVP und der Umgebung des Reichspräsidenten befürchteten, das Präsidialsystem, in dem sich eine Rückbildung der politischen Parteien in weltanschauliche Lager anzukündigen schien, könne rückgängig gemacht werden und in den Parlamentarismus zurückfallen. Um dies zu verhindern, waren sie Hitler weit entgegengekommen und hatten der Auflösung des Reichstages und anschließenden Neuwahlen zugestimmt, Von Weimar zum Dritten Reich die sie gerade hatten verhindern wollen. Denn sie wollten das Risiko nicht eingehen, dass in offenen Neuwahlen eine Mehrheit der Linksparteien zustande kam und damit der Weg zur ersehnten autoritären Verfassungsreform verbaut war.2 Die NSDAP hatte nach den fulminanten Wahlerfolgen seit dem September i930, die in der Erringung von 37 Prozent der Stimmen in den Juliwahlen i932 gipfelten, ihren Höhepunkt überschritten und in den Novemberwahlen signifikante Stimmenverluste erlitten, die in den anschließenden lokalen und regionalen Wahlen im Dezember bis zu 40 Prozent der Stimmen betrugen. Die Krise der NS-Bewegung schlug sich in innerparteilichen Spannungen, insbesondere in einer wachsenden Unbotmäßigkeit der SA, in einer Baisse der Parteikassen und zurückgehender Attraktivität ihrer Wahlwerbung nieder. Hindenburgs schroffe Zurückweisung des Anspruchs Hitlers auf die Übernahme der Kanzlerschaft am 13. August 1932 hatte ihm einen schweren Prestigeverlust eingetragen. Die innere Krise der NS-Bewegung war nicht mehr zu verbergen. In dieser Lage hatte sich Gregor Straßer, Hitlers fähigster Parteiführer, dem das Verdienst zukam, der amorphen Partei einen funktionierenden Parteiführungsapparat aufzustülpen, dazu entschlossen, dem Parteichef seine Alles-oder-nichts-Strategie auszureden, welche die Partei ins Abseits zu führen drohte. Er versuchte Hitler dazu zu bewegen, eine Koalition mit dem Kabinett des General von Schleicher einzugehen, was dieser kategorisch ablehnte. Denn für einen erfolgreichen Wahlkampf war die NSDAP Ende 1932 nicht in der Lage. Als sich Hitler als unbelehrbar erwies, legte Straßer im Dezember i932 seine Parteiämter nieder, möglicherweise um den Parteiführer dadurch von der Ernsthaftigkeit seines Kalküls zu überzeugen. Doch witterte Hitler Verrat, zumal Straßer von Schleicher ein Ministerposten angeboten worden war.3 Menschlichem Ermessen nach musste Hitlers Strategie in einer politischen Katastrophe enden, wäre nicht Franz von Papen gewesen. Er brachte gegen Hitlers starkes Misstrauen und hinter dem Rücken des amtierenden Kanzlers das Kabinett der nationalen Konzentration zustande, indem er dem skeptischen Reichspräsidenten insinuierte, dass die Zentrumspartei alsbald in das Kabinett eintreten werde, und dass dieses zu einer virtuellen Mehrheitsregierung würde. Das enthob den Reichspräsidenten der lästig gewordenen Bürde, die Verantwortung für die sich häufenden Notverordnungen zu übernehmen, die an die Stelle der ordentlichen Gesetzgebung getreten waren. So bewirkte die bloße Fiktion einer Mehrheitsregierung - denn Papen hatte die Zentrumsverhandlungen nur zum Schein eingeleitet - die Bildung des Kabinetts der nationalen Konzentration. Hindenburg, der Hitler mit größter Skepsis betrachtete, sah keinen Ausweg und ihn beruhigte die Versicherung von Papens, dass Hitler in dem Kabinett von bewährten konservativen Ministern eingerahmt und von diesen in jeder Weise abhängig sein würde. Auch die republikanischen Parteien und die bürgerliche Presse gingen davon aus, dass Alfred Hugenberg, der neben Franz von Papen zu den hauptsächlichen Architekten des Kabinetts der nationalen Konzentration gehörte und der allein drei Ministerposten ausfüllte, der eigentliche Kopf des Kabinetts sein werde. Trotz eines nun mit dem Kanzlerbonus geführten und von Goebbels mit allen erdenklichen Mitteln unterstützten Wahlkampfes vermochte Hitler am 5. März 1933 nur 43,9 Prozent der Stimmen und zusammen mit der DNVP eine knappe parlamentarische Mehrheit zu erringen. Die Koalition war jedoch von vornherein entschlossen, den Reichstag durch die Vorlage eines umfassenden Ermächtigungsgesetzes zur Selbstausschaltung zu bewegen. Unter massiven Pressionen und der Androhung revolutionärer Mittel stimmten die bürgerlichen Von Weimar zum Dritten Reich Parteien am 23. März dem Ermächtigungsgesetz zu. Zunächst auf vier Jahre befristet, dann zweimal verlängert sollte dieses Gesetz zur formalen Rechtsgrundlage der NS-Herrschaft werden. Schon zuvor hatte die Brandlegung im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes am Abend des 27. Februar durch den jungen holländischen Rätekommunisten eine neue Lage geschaffen.4 Die nationalsozialistische Führung ging davon aus, dass die KPD die schrittweise Ausschaltung der Linksparteien nicht hinnehmen und mit gewaltsamen Aktionen antworten würde, die sie für den Abend nach den Reichstagswahlen vom 5. März erwartete. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die KPD, deren kämpferische Agitationsparolen und Generalstreiksaufrufe vor allem den Sinn hatten, ihre Strategie des einstweiligen Stillhaltens zu kaschieren, untätig bleiben würde. In der Tat war die KPD-Führung in der Nacht des Reichstagsbrandes wegen einer geheimen Tagung in Friedrichsfelde nicht erreichbar und konnte nicht angemessen auf die einsetzende Verhaftungswelle reagieren. Unter dem Eindruck des brennenden Reichstagsgebäudes und der irrigen Information, der sogleich gefasste Attentäter gehöre der KPD an, sprachen Hitler und die eilig an den Brandherd geeilten NS-Größen von einem »Fanal des Kommunismus«. Hitler zweifelte nicht daran, dass die Kommunisten durch diese Aktion die Reichstagswahlen verhindern wollten. Damit war das eingefädelte Machteroberungskonzept, die Parteien mittels des Ermächtigungsgesetzes auszuschalten, infrage gestellt, und es tauchte die Befürchtung auf, dass Hindenburg unter diesen Umständen der Reichswehr die vollziehende Gewalt übertragen werde, womit Wahlen einstweilig hinfällig gewesen wären. Um eine solche Konstellation zu verhindern, beschloss eine im preußischen Innenministerium zusammengekommene Expertengruppe unter Göring und Wilhelm Frick, dem neuen Reichsminister des Innern, angesichts der eingebildeten Bürgerkriegsdrohung seitens der KPD auf die Notstandsplanung zurückzugreifen, die für einen solchen Fall bereitlag. Die in aller Eile vorbereitete und dann anderntags durch das Reichskabinett verabschiedete »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« rückte an die Stelle des militärischen Ausnahmezustandes den zivilen. Die niemals wieder aufgehobene Verordnung ist mit Recht als informelles »Grundgesetz des Dritten Reiches« bezeichnet worden. Mit der Aufhebung der Grundrechte schuf es die Basis für die Unterdrückung der KPD und von Teilen der SPD sowie für die Beseitigung der Länderautonomie, bewirkte also eine vorgezogene Machtergreifung in den Ländern. Dem Ermächtigungsgesetz, das dann unter größtem politischem Druck auch von der Zentrumspartei verabschiedet wurde, kam de facto nur noch die Funktion zu, den Schritt zur autoritären Diktatur zu legalisieren. Karl Dietrich Bracher hat im Hinblick auf die Anfänge des Kabinetts Hitler von einer »Machtergreifung neuen Stils« gesprochen, die sich formal legaler Methoden bediente und einen offenen Bruch der Verfassungsordnung vermied. Das Vorbild für dieses Vorgehen war Benito Mussolinis Weg zur Macht. Wie bei diesem stand hinter dem pseudolegalen Verfahren die unverhüllte Drohung eines gewaltsamen Vorgehens seitens der SA, die zu einem Millionenheer aufgeschwellt war. Von Legalität konnte jedoch kaum die Rede sein. Denn die nach dem 30. Januar eingeschlagene Strategie der NS-Führung implizierte eine Vielzahl von Verfassungsverstößen, insbesondere was die Regierungsbildung im Vorfeld der Wahlen und die Behinderung der Opposition anging.5 Das galt auch für die irreführende Begründung der Verabschiedung der Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat«. Dass von einem kommunistischen Aufstandsversuch keine Rede sein konnte, war schon am Vormittag des 28. Februar klar.