EINFÜHRUNG
Weil wir das (fast) alles schon mal hatten
Zu lange haben wir Deutsche geglaubt, das alles ginge uns nichts an: die neue Fremdenfeindlichkeit der früher so weltoffenen Niederländer, die plötzliche nationale Engherzigkeit der Dänen und Schweden, der Rechtsruck in Ungarn, Polen und Tschechien, das Brexit-Votum der Briten, die Begeisterung so vieler Franzosen für Marine Le Pen, der Erfolg rechter Parteien in Italien und Österreich, der täglich neue Schock namens Donald Trump. Für fast ein Jahrfünft hatte es so ausgesehen, als sei rechter Populismus nur das Problem der anderen, die Bundesrepublik hingegen das kerngesunde Bollwerk westlicher Demokratie. Spätestens seit der Bundestagswahl vom September 2017 aber wissen wir, dass der globale Rechtsruck auch Deutschland erfasst hat.
Der Einzug der AfD in den Bundestag war eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Zwar scheint die Partei auf Bundesebene – anders als in den ostdeutschen Ländern, vor allem in Sachsen – von einer Regierungsbeteiligung momentan noch weit entfernt. Aber das kann sich ändern.
Darum ist es an der Zeit, sich klarzumachen, was die Renaissance rechten und rechtsradikalen Denkens bedeutet. Schon jetzt haben die Aktualisierung völkischer Stereotype, das Verlangen nach einer homogenen Nation und die Sehnsucht nach einer fleckenlosen Geschichte – kurz: hat die Rückkehr des Nationalismus – das Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft spürbar erschüttert.
Aus zeithistorischer Sicht stellt sich nicht nur die Frage nach den Gründen dieser Entwicklung, sondern auch nach ihren Vorläufern in unserer Geschichte. Wer die jüngsten Erfolge der Rechtspopulisten verstehen will, tut gut daran, sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Bedingungen in Deutschland nach 1945 rechte Denkweisen verfangen und Anhänger finden konnten. Dabei zeigt sich, dass es der Rechten ungeachtet ihrer hartnäckigen Bemühungen und mancher Konjunkturen über die Jahrzehnte nicht gelungen ist, ihre zeitweiligen Erfolge in dauerhaften politischen Einfluss zu übersetzen. Richtig ist allerdings auch, dass keiner ihrer Anläufe so erfolgreich war wie der gegenwärtige.
Das besorgniserregend Neue sind nicht die alten Parolen, von denen wir einige als Überschriften für die folgenden Kapitel verwenden. Schaut man genauer hin, haben sich die rechten Sprüche über die Jahrzehnte kaum verändert. Neu aber ist, dass und in welchem Ausmaß die unermüdlich recycelten Forderungen nach »Schlussstrich« und »sicheren Grenzen«, nach einer heilen Geschichte, einer »reinen« Nation und nationalstolzen »Leitkultur« auf Resonanz stoßen. Plötzlich erzielen sie, wie von einer Welle getragen, politische Wirkungsmacht – und verunsichern sogar Menschen, die von sich sagen, mit rechten Überzeugungen nichts im Sinn zu haben.
Dass der Nationalismus – ein im 19. Jahrhundert entstandenes politisches Konzept – wieder derart attraktiv geworden ist, stellt eine ebenso gefährliche wie erklärungsbedürftige Entwicklung dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich vor allem im Westen, langsam aber sicher und weit über die akademische Forschung hinaus, die Erkenntnis durchgesetzt, dass »Nationen« Imaginationen sind; dass sie, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson gezeigt hat, auf »erfundener« Gemeinschaft beruhen. Parallel dazu entstanden alternative Ordnungskonzepte: zum Beispiel das der Europäischen Integration, die zur Sicherung von Frieden und Wohlstand auf eine gemeinsame Werte-, Rechts- und Wirtschaftsordnung setzt statt auf die Idee einer historisch vorbestimmten, ewiggültigen Volks- oder Schicksalsgemeinschaft. Der inzwischen fast in Vergessenheit geratene »Verfassungspatriotismus« der alten Bundesrepublik war zugleich Ergebnis und wichtiger Antrieb dieses alternativen, postnationalen Denkens.
Nach dem Ende des Kalten Krieges hofften nicht wenige, dieses Denken könnte sich in ganz Europa oder gar weltweit durchsetzen; manche glaubten gar an ein Ende der Geschichte. Inzwischen sehen wir: Der Untergang des Kommunismus ermöglichte nicht nur Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit auch im Osten, sondern zugleich die Rückkehr des Nationalismus. Die gemeinschaftsstiftende Kraft dieser Vorstellung entfaltet seitdem einen gefährlichen Sog. In den Staaten Ost- und Südosteuropas folgt der neue Nationalismus als Reaktion auf jahrzehntelange politische Unterdrückung, in vielen westlichen Staaten huldigen ihm populistische Bewegungen als vermeintliches Allheilmittel gegen die Defizite und Krisen der liberalen Demokratie.
Es ist dieser weltweit zu beobachtende, nun auch in die Mitte der deutschen Gesellschaft reichende Vorstoß nationalistischer Polemik, Programmatik und Politik, der beunruhigt. Er verlangt, über Gesellschaftsanalyse und Gegenwartsdiagnose hinaus, gerade auch nach historischer Einordnung – zumal angesichts der wiederholt von Deutschland ausgegangenen hypernationalistischen Gewalt.
So ist zu fragen, wie die Entwicklung der letzten drei, vier Jahre möglich wurde in einer Gesellschaft, die ihre – zum Teil doppelte – Diktaturerfahrung mustergültig »bewältigt« zu haben schien. Wie konnten diese Verschiebungen geschehen in einem Land, das wegen seiner ernsthaften, wenn auch hindernis- und windungsreichen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust anderen Staaten mit diktatorischer Vergangenheit für geraume Zeit sogar als Vorbild galt? War die Bereitschaft zu historischer Aufarbeitung und Erinnerung am Ende bloß das Trugbild von Deutungseliten, die sich abgekoppelt hatten von den tatsächlichen Auffassungen und Einstellungen breiter Bevölkerungsschichten? Oder sind, wie manche meinen, die Abwehr selbstkritischer Fragen an die eigene Nation und der Einzug einer rechten Partei ins Parlament nur ein Ausweis demokratischer Normalität?
Die Geschichte der zweiten deutschen Demokratie war immer auch die Geschichte einer – im Großen und Ganzen – erfolgreichen Auseinandersetzung mit Autoritarismus und antidemokratischem Denken. Aber um zu verstehen, was derzeit auf dem Spiel steht und wie es dazu gekommen ist, gilt es, die Geschichte der beiden deutschen Staaten nach 1945 noch einmal neu in den Blick zu nehmen. Sie unter dem Eindruck der gegenwärtigen rechten Konjunktur anders denn als gängige Erfolgsgeschichte zu erzählen: Das versuchen wir in den folgenden Kapiteln.
Das Wort Versuch ist dabei ernst gemeint. Dieses Buch ist keine Streitschrift, auch kein Leitfaden oder Ratgeber, der einen einfachen Weg aus der Krise weist. Vielmehr geht es uns darum, die gegenwärtigen Herausforderungen klarer herauszuarbeiten, indem wir sie zeithistorisch perspektivieren. Die Dinge im größeren Kontext der langen Geschichte Nachkriegsdeutschlands zu betrachten heißt auch, sich von den oft eher situativen Befunden der Politik- und Sozialwissenschaften zu lösen – und sich von einer medialen Alarmstimmung fernzuhalten, die mitunter zu befördern scheint, was sie zu bekämpfen sucht.
Die zweite deutsche Demokratie steht nicht vor ihrem Zusammenbruch, und schon gar nicht stehen wir vor einem neuen 1933; dafür sind die ökonomisch-sozialen, vor allem aber auch die historisch-politischen Rahmenbedingungen viel zu verschieden. Dennoch sind die jüngeren Entwicklungen, die aktuell verbreiteten Verunsicherungen, Konflikte und Krisengefühle als fundamentale Herausforderung unserer Gesellschaft zu verstehen, die sich ihrer Liberalität, ihrer Weltoffenheit und ihrer erfolgreichen »Aufarbeitung« der Vergangenheit vielleicht allzu gewiss geworden ist – und dabei zu wenig beachtet hat, dass unter dem Dach des seit 1990 in ganz Deutschland gültigen Grundgesetzes nach wie vor zwei sehr verschiedene politische Kulturen wohnen.
Der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 war nur der vorläufige Höhepunkt einer nicht leicht zu entschlüsselnden Entwicklung. Denn die rechtspopulistische Mobilisierung von Bevölkerungsschichten, die besonders, aber nicht nur im Osten Deutschlands von den Partizipationsmöglichkeiten eines demokratischen Gemeinwesens zuletzt kaum noch Gebrauch gemacht hatten, hat Grundsatzfragen der demokratischen Gesellschaft auf die Tagesordnung gebracht: Wer oder was ist deutsch? Was bedeuten Heimat, Patriotismus und Nation? Welche Grundrechte gelten für wen? Welchen Wert hat eine kritische Geschichtskultur? Und wie weltoffen und zugleich streitbar soll die Demokratie in Deutschland künftig sein?
In den Feuilletons der Republik wurden all diese Fragen zwar auch zuvor schon diskutiert, gesellschaftliche Gräben aufgerissen haben sie aber erst im Laufe der letzten Jahre, vor allem seit 2015. Ein wenig erinnert die Situation inzwischen auch hierzulande an die culture wars in den Vereinigten Staaten: an die fundamentale politische Polarisierung der Gesellschaft, die durch eine aggressive, um keine Verzerrung, Zuspitzung und im Zweifel auch Lüge verlegene Medienstrategie der Rechten vorangetrieben wird und die eine wichtige Rolle für den Wahlsieg von Donald Trump gespielt hat.
Die derzeit dominante Form nationalistischer Politik ist der Populismus. Rechtspopulistische Erfolge sind in Europa schon seit den neunziger Jahren zu verzeichnen – man denke an Silvio Berlusconi in Italien, der mit seinen Zoten, großspurigen Sprüchen und seinem Vorsatz, das Land zum vermeintlichen Wohle des Volkes wie ein Unternehmen zu führen, einige Charakteristika Donald Trumps vorweggenommen hat, sowie an den Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider in Österreich. Auch wenn das Phänomen des Populismus,...