„Man kann sich nicht selber therapieren“
Ein Knoten an der rechten Hand von Selma Braune-Yilmaz entpuppt sich als unheilbarer Muskeltumor
Selma Braune-Yilmaz
26.03.2006 – 30.10.2015
Für Aykut Yilmaz und seine Frau Jana Braune-Yilmaz gehören als Ärzte schwere Erkrankungen zum beruflichen Alltag. Doch diese Diagnose kündigt den schlimmsten Schicksalsschlag an, der einer Familie widerfahren kann: Im September 2014 entpuppt sich ein verdächtiger Knoten an der rechten Hand ihrer 8-jährigen Tochter Selma als Rhabdomyosarkom, ein Muskeltumor. Diese Krebsart gilt als besonders bösartig und ist auch im Fall von Selma, trotz intensivster Behandlung, nicht zu besiegen. Sie stirbt am 30. Oktober 2015. Eine Reha für verwaiste Familien in Tannheim im Januar 2017 hilft der fünfköpfigen Familie dabei, mit diesem Verlust leben zu lernen, denn auch Ärzte können sich nicht selbst therapieren.
Nur ein Jahr vergeht von der Krebsdiagnose bis zu Selmas Tod. Ein Jahr voll unglaublichen Leidens, Bangen und Hoffen. „Selma überstand fünf Operationen, die für sie sehr belastende Chemotherapie und die Strahlentherapie. Gerade als die Therapie als erfolgreich beendet galt, wird eine Metastase am linken Oberschenkel diagnostiziert. Und schließlich Metastasen in der Lunge“, schildern die Eltern. Selma verliert zunehmend an Kraft, die Schmerzen beginnen. Tapfer verbringt sie die letzten Wochen ihres Lebens zu Hause, betreut durch ihre Familie und das Palliativteam eines Berliner Kinderhospizes.
Jana und Aykut Braune-Yilmaz mit ihren Kindern Ela, Helin und Ava (v. links). Das Foto zeigt die Familie bei ihrer Reha in Tannheim vor dem Schmetterling, geschaffen von Bildhauer Hubert Rieber. Der Schmetterling gilt als Symbol für den Seelenflug ins Jenseits.
Selmas letzte Ruhestätte – ein kleiner, idyllischer Friedhof in Mücheln. Hier ist die Mutter aufgewachsen und leben auch die Großeltern. Auf der anderen Seite der Friedhofsmauer steht in einem Reitstall Selmas früheres Lieblingspferd Lilli.
Zwei Wochen vor ihrem Tod saß sie noch auf ihrem Lieblingspferd Lilli in Mücheln, das in der Heimatstadt der Mutter in einem Kinderheim im Reitstall steht. Die Großeltern leben hier. Sie haben das Kinderheim aufgebaut, das heute die Schwester von Jana Braune-Yilmaz leitet. Direkt an den Reitstall grenzt ein kleiner Friedhof. Er ist sehr idyllisch, mittlerweile kaum noch genutzt – hier wird Selma begraben. Mauer an Mauer zu ihrem einstigen Lieblingspferd.
Die Trauerfeier gestaltet die Familie selbst: Die Schwestern Helin und Ava pflücken Blumen und Kräuter für Sträuße. Bastelarbeiten, in Regenbogenfarben bemalte Steine und Muscheln – ein Engel aus Holz, Lichter, rote und weiße Rosen, eine Fotografie von Selma und auch ein Rosenstrauch mit gelben Blüten schmücken diesen so besonderen Ort der Liebe und Erinnerung.
Alle trauern, alle verlieren ihre Sorglosigkeit und Unbeschwertheit
Eltern brauchen nach einem derart schweren Schicksalsschlag Hilfe, auch Ärzte: „Man kann sich nicht selbst therapieren“, schildert Aykut Yilmaz die Situation. Dringende Hilfe benötigen auch die Schwestern von Selma: Helin (13) hat ihre Seelenkameradin verloren. Die beiden steckten immer zusammen, verbrachten nahezu jeden Nachmittag miteinander. Selbst Selmas Freizeitgestaltung begleitete Helin, indem sie sie wie selbstverständlich wöchentlich zur Musikschule brachte und sie mit zum Ballettunterricht nahm. Auch Ava (7) fühlte sich ihrer Schwester sehr nah, sie schaute zu ihr auf wie Selma zu Helin. Beide verlieren mit ihrer geliebten Schwester neben einer Spielkameradin ihre Sorglosigkeit und Unbeschwertheit, mit der sie bisher durch ihr Leben gehen konnten. Die vierjährige Ela kam im September 2014 zur Welt, einen Tag, nachdem die Krankheit bei ihrer Schwester diagnostiziert wurde. Selma erlebte noch das erste Lebensjahr ihrer Schwester Ela. Selma lebt für Ela über die Fotos und Erzählungen auch in ihrer Erinnerung fort.
Selmas Kinderzimmer blieb lange unverändert. Die Eltern: „Es ist schön für uns, nach Hause zu kommen – an den Ort, an dem Selma mit uns gelebt hat. Ihr Bett ist für uns nicht das Bett, in dem sie gestorben ist, sondern in dem sie schlief.“ Mittlerweile lebt Ava in diesem Zimmer.
Nach dem Tod von Selma nehmen beide Eltern nach einiger Zeit ihre Arbeit wieder auf, wenn auch mit reduzierter Arbeitszeit. Die eigene Trauer benötigt viel Zeit und Kraft. Man muss sich auf seine Gefühle einlassen können, um sie zu verarbeiten. Den Familienalltag aufrecht zu erhalten und gleichzeitig diese Zeit aufzubringen, ist nur schwer möglich. Zudem sind die Eltern zusätzlich mit der Trauer der Geschwister konfrontiert. Auch diese benötigen eine intensive Begleitung, sowohl von den Eltern als auch von außenstehenden professionellen Therapeuten.
Familiengefüge verändert sich – Langer Kampf gegen die ablehnende Haltung der Krankenkasse
Neben der Trauer um Selma und den vielen Wunden und Fragen, die die Zeit ihrer Krankheit hinterlassen hat, kommen neue Probleme: Das gesamte Familiengefüge hat sich plötzlich verändert, nachdem die Familie auch vorher schon lange Zeit in einem Ausnahmezustand lebte. Jeder muss seinen Platz neu finden und jeder muss mit all seinen Problemen und Gefühlen aufgefangen werden. Die Familie muss neu zusammenwachsen.
Aykut Yilmaz und Jana Braune-Yilmaz erkennen: Sie und die Kinder haben im Alltag nicht die Möglichkeit, die Trauerarbeit zu leisten, die erforderlich wäre, um mit Selmas Tod besser zurechtzukommen. Von einer Freundin, die ihre Tochter ebenfalls verloren hat, erfährt Jana Braune-Yilmaz von der Reha für verwaiste Familien in Tannheim. Tannheim scheint der Ort, an dem sich diese Möglichkeit bietet. Es beginnt der lange Kampf gegen die Krankenkasse, die eine Behandlung der Gesamtfamilie nicht genehmigt. Zweimal wird die Reha abgelehnt, zweimal legt die Familie Widerspruch ein. Mehrere Ärzte, Therapeuten und auch das betreuende Kinderhospiz setzten sich schriftlich für die Familie ein. Es folgt eine Begutachtung im Auftrag der Krankenkasse, nach Aktenlage, ohne ein persönliches Gespräch.
Die Familie erkennt: Sie hat im Alltag nicht die Möglichkeit, die Trauerarbeit zu leisten, die erforderlich wäre, um mit Selmas Tod besser zurechtzukommen. Von einer Freundin, die ihre Tochter ebenfalls verloren hat, erfährt Jana Braune-Yilmaz von der Reha für verwaiste Familien in Tannheim.
Für die Eltern wird eine psychosomatische Rehabilitation empfohlen, einzeln und ohne Kinder, in einer nicht auf Trauer spezialisierten Klinik. Eine weitere Empfehlung, sowohl Eltern als auch Kinder sollen sich ambulant psychiatrisch betreuen lassen. Für die Familie unverständlich: „Die Krankenkassen wissen um die Notwendigkeit dieser Reha und sperren sich dennoch. Es geht ja gerade darum, den Familien zu helfen, bevor sich chronische seelische Probleme manifestieren, bevor jahrelang psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe notwendig ist“.
Schließlich einigt man sich nach einem Jahr des zermürbenden Kampfes auf einen Vergleich. Gerade mal für ein Drittel der Kosten kommt die Krankenkasse auf. Einen Teil bezahlt die Familie selbst, ein Teil wird von der Deutschen Kinderkrebsnachsorge übernommen.
Das Ärzte-Ehepaar ist sich einig: „Die Krankenkassen, in unserem Fall die Techniker Krankenkasse, stehlen sich aus ihrer Verantwortung. Sie nennen sich Gesundheitskassen, behandeln aber vorwiegend Diagnosen und verweigern präventive Therapien. Bedenkt man die möglichen gesundheitlichen und somit finanziellen Folgen eines so dramatischen Ereignisses wie den Tod des eigenen Kindes für die Krankenkassen, dann ist eine Reha nicht teuer. Langfristig gesehen würden Behandlungskosten bei manifesten Erkrankungen und damit einhergehenden Arbeitsunfähigkeiten um einiges teurer sein. Eine sehr kurzfristige Sicht und noch dazu ein unmenschliches Vorgehen in einer solchen Situation.“
Und Selmas Eltern fügen hinzu: „Uns war bewusst, dass wir den Vergleich eigentlich nicht hätten annehmen dürfen, aber wir hatten einfach nicht mehr die Kraft in ein Klageverfahren zu ziehen. Wir sind uns sicher, dass die Krankenkassen darauf spekulieren, da es anderen Eltern in vergleichbaren Situationen genauso geht. Wir sind überzeugt, dass die Chancen nicht schlecht gewesen wären, einen möglichen Prozess zu gewinnen.“
Intensive Betreuung
Ob für die Eltern oder Geschwisterkinder: Die Betreuung in Tannheim ist intensiv, vom ersten Tag der Reha an öffnet sich in der Nachsorgeklinik ein „innerer Raum für Trauer“, wird die Fähigkeit zu trauern gestärkt. Zwei Gruppensitzungen pro Woche sind das Herzstück der Reha, ergänzt um Einzeltherapie und Paartherapie. In der Gruppe tauschen die Eltern ihre Gefühle und Erfahrungen aus. Eine Erfahrung prägt die Eltern und Geschwister verstorbener Kinder besonders: Das Unvermögen des familiären Umfeldes und des Freundeskreises, zu erkennen, dass die Trauer um den Tod...