1. Kapitel: WIE ALLES BEGANN
Klick – und nochmal: klick. Mit dem vertrauten Diddeldi-Diddeldum schließt sich der Bildschirm. Es ist Freitag, 17 Uhr. In mein Büro auf dem Lerchenberg leuchtet die untergehende Sonne. Davor auf der Wiese tollen schon den ganzen Tag vier kleine Kaninchen herum. Ich freue mich auf das Wochenende, auf die Heimfahrt nach München. Wenn ich Glück habe, brauche ich nur vier Stunden. Hoffentlich.
Auf dem Lerchenberg, dem Hauptsitz des ZDF in Mainz, ist schon friedvolle Ruhe eingekehrt; die Parkplätze gelichtet, und wer einem noch begegnet, grüßt freundlich und wünscht ein schönes Wochenende.
Der BMW rollt an Alzey vorbei, den Rhein flussaufwärts. Ich höre Richard Wagners Tannhäuser.
Als meine Augenlider nach dreißig Minuten Fahrt zu blinzeln beginnen, schiebe ich es auf die Sonne. Also: Sonnenbrille auf die Nase. Aber: Es wird nicht besser. Die Abstände zwischen Augen auf – Augen zu erscheinen mir gefährlich lange. Ich fahre auf den Parkplatz, lege eine kleine Pause ein. Bin ich müde?
Eigentlich gibt es keinen Grund dafür. Die Woche war wie immer: Sitzungen, Filmabnahmen für das Ombudsmagazin »Mit mir nicht! – Welsers Fälle«, dann das Einlesen in die Themen der Sendung, Moderationen schreiben, die Fragekarten vorformulieren für die Gesprächsrunden im Studio. Kurze Überlegung: Was ziehe ich an? Nichts Dunkles, das wirkt nicht vor der Kamera, und möglichst keine kleinen Muster, die flirren. Alles gewohnte Routine. Nach fast zehn Jahren und 430 Sendungen »ML – Mona Lisa« und den inzwischen drei Jahren und 50 Sendungen Ombudsmagazin. Ein Programm, das mir immer mehr ans Herz gewachsen ist. Vor allem auch die Kolleginnen und Kollegen, die so fröhlich, schwungvoll und mit ungebrochenem Engagement an der Sendung arbeiten. Dazu Hunderte von Menschen, die uns anrufen, schreiben, motivieren. Sich bedanken, dass wir uns für sie und ihren Kummer, Ärger einsetzen.
Also aus meiner Sicht: kein Grund für Erschöpfung oder gar Müdigkeit. Ich fahre weiter, will ja nach Hause. Es ist Spätsommer, vielleicht können mein Mann und ich noch ein wenig auf der Terrasse im Garten sitzen. Das fehlt mir unter der Woche. Denn da lebe ich von Montag bis Freitag in Wiesbaden-Freudenberg. In einer sehr gemütlichen Zweizimmerwohnung. Aber: allein, ohne meinen Mann. Und ohne meinen roten Berg-Kater Pedro. So kreisen meine Gedanken beim Fahren rund um meine Familie
Komisch: Es hört nicht auf mit dem Blinzeln. Obwohl jetzt schon längst die Sonne untergegangen ist. Ich muss wieder anhalten und noch einmal nach nur zwanzig Minuten. Ein wenig schmerzt die Halswirbelsäule. Das kann jetzt aber auch vom Autofahren kommen In einer Stunde werde ich sicherzumindest am Stadtrand von München sein. Hoffe ich. Doch so schnell geht es dann nicht. Es ist halt Freitagabendverkehr. Und je südlicher ich komme, desto dichter rollen die Schlangen zweispurig über die Autobahn. Inzwischen habe ich Eros Ramazotti eingelegt. Tannhäusers Liebeskummer hat mich doch ein wenig bedrückt. Vielleicht wirkt Eros' Stimme zweifach: gegen den Verkehrsfrust und gegen das Blinzeln.
Zu Hause – endlich. Als hätte er's gespürt, kommt mein Mann mir entgegen. Kater Pedro dagegen, der seit 16 Jahren mein Gefährte ist, hält es eher umgekehrt: Wenn er mich nach dieser Woche Absenz erblickt, macht er auf der Pfote kehrt und versteckt sich erst mal im Garten.
Macht nichts. Spätestens heute Nacht, wenn mein Mann eingeschlafen ist, kommt er zu mir und schleicht sich wie schon zu seinen Baby-Zeiten zwischen das Kopfkissen und das Kopfteil des Bettes. Da fühlt er sich wohl, versteckt sein Köpfchen dann in meinen Haaren. Vielleicht seine Erinnerungen an den Bergbauernhof auf der Hohen Salve in Tirol, wo ich ihn im Alter von vier Wochen vor einem Katzen mordenden Bauern gerettet habe: »Vor dem Winter müssen die weg …«
Jeder, der nur die Wochenenden zu Hause verbringen kann, kennt dieses wunderbare Freitagsgefühl: vor sich eine schier endlose Zeit (bis Sonntagabend …), wieder daheim in der vertrauten Umgebung, mit den geliebten Menschen. Die ja ihrerseits liebevoll auf die Heimkehrerin zugehen. Probleme, Kummer, Sorgen – das bleibt außen vor. Auf beiden Seiten. Man will ja nicht die kurze Zeit stimmungsmäßig belasten.
Dennoch erzähle ich später – nicht mehr auf der Terrasse, es war dann doch zu kühl – meinem Mann von meinem Blinzeln und Blinkern. Von den Fahrpausen, die ich ungewohnterweise einlegen musste auf der Fahrt nach Hause. Mein Mann, im Berufsleben Pilot, weiß auch sofort des Rätsels Lösung: »Wahrscheinlich kommt irgendwie Abgas in den Innenraum deines Autos; das sind die klassischen Reaktionen, ich kenne das vom Fliegen …
Nächste Woche will er mit mir nach Wiesbaden fahren. Einen Abgastest machen lassen, dann wird sich alles klären. Ich bin beruhigt.
Aber eine Woche später in Wiesbaden schütteln die Feuerwehrleute nach dem Abgastest den Kopf: »Nein, da ist alles in Ordnung, da kommt nichts in den Innenraum Ihres Wagens rein.«
Das war's wohl. Nur: Was ist es dann? Ich habe es doch nur beim Autofahren, nur da fällt es mir auf, dieses vollkommen unwillkürliche Blinzeln, die aus meiner Sicht zu langen Abstände, bis ich wieder ganz klar sehen kann. Vielleicht doch ein Augenproblem? Ich nehme mir vor, mich mal nach einem Augenarzt im Rhein-Main-Gebiet zu erkundigen.
Aber vorerst schiebe ich das alles auf. Denn ganz andere, zurzeit wichtigere Dinge stehen an: Mein Mann und ich wollen ins Rhein-Main-Gebiet umziehen. Drei Jahre lang Wochenendehe, nein, so hatten wir uns unser Leben nicht vorgestellt, als wir 1994 geheiratet haben. Wir haben damals aus zwei eins gemacht, unsere alten Wohnungen aufgelöst und gemeinsam neu begonnen. Weil wir zusammen alt werden wollen. Eine Wochenendehe war da nicht eingeplant.
Nur zu gut kann ich mich noch an unser Gespräch an einem frühen Morgen auf dem Flughafen von Mailand erinnern. Wir waren uns gerade erst vor zehn Tagen zum ersten Mal begegnet. Auf schäbigen Plastikstühlen saßen wir uns gegenüber und gestanden uns fast zeitgleich, dass wir beide keine »informelle Beziehung« wollten. Was bedeutete, dass nicht der eine in Wunstorf, der andere in München sein normales Leben führen sollte. Nein, uns war klar, wir wollten heiraten. Und dann am gleichen Ort zusammen leben. Vielleicht für alle anderen eine verrückte Geschichte. Nur für uns nicht. Denn seit damals sind wir jetzt zehn Jahre zusammen. Zehn überaus glückliche Jahre.
Zusammengeführt hat uns der Krieg auf dem Balkan. Ein Krieg, der Tausenden so viel Leid brachte, schenkte uns das Glück. Ich war, als »ML – Mona Lisa«-Leiterin und Reporterin auf dem Weg nach Sarajewo. Anfang Dezember wollte das ZDF unter dem damaligen Chefredakteur Klaus Bresser den 300 000 eingeschlossenen Menschen in Sarajewo helfen. »Sarajewo soll leben«, hieß der Titel der Sendung, ich hatte dafür den »Mona-Lisa«-Sendeplatz geräumt und sollte zusammen mit Ruprecht Eser, damals Chefreporter, eine 60-minütige Spendensendung moderieren. Petra Gerster übernahm den Moderationspart in Mainz. Wir berichteten aus der eingeschlossenen, hungernden und frierenden Stadt. Mit Filmen und in Gesprächen.
Unser Zeitplan für diese Livesendung war mal wieder äußerst knapp. Ich hatte noch am Sonntag eine »Mona-Lisa«-Sendung in Unterföhring bei München. Konnte also erst am Montag um 8 Uhr in München starten. Eine Maschine der Luftwaffe sollte uns von der italienischen Basis in Falconarain die belagerte Stadt bringen. Doch schon der Flug nach Falconara glich einer Weltreise: erst über Wien nach Zagreb. Dort auschecken, mit einer ZDF-Mitarbeiterin und einem Fahrer durch die ganze Stadt zur UNHCR, um die persönliche Akkreditierung mit Foto zu bekommen. Dann auf dem schnellsten Weg wieder zurück zum Flughafen. Knapp geschafft. Und ab nach Split. Mit der nächsten Maschine dann nach Rom, eine Stunde Aufenthalt, umsteigen, Gepäck abholen, wieder einchecken. Letzte Flugstrecke: Rom-Ancona. Hier holten uns freundliche Soldaten der Luftwaffe ab. Inzwischen hatte auch das ganze Team. zusammengefunden: Ruprecht Eser, mein Kollege, ein Kamerateam, ein Cutter. Und unglaubliche Mengen an Gepäck, Kameras, Schnitteinheiten, Licht. Fernsehen kann manchmal richtig mühsam sein. Wenigstens war eine Reporterin schon einige Tage zuvor mit einem Kamerateam nach Sarajewo aufgebrochen. Wir hofften jetzt auf einen Abflug am nächsten Tag, in der Frühe. Die Luftwaffe wollte uns mit einer Transall hinüberbringen. Aber sicher ist in solchen Zeiten gar nichts.
Was sich gleich am nächsten Morgen zeigen sollte. Denn die Serben gaben keine Ruhe, schossen einer norwegischen Maschine einen Tragflügel in Stücke. Gott sei Dank konnte der Pilot noch sicher in Falconara landen. Aber wir saßen erst mal fest auf diesem Mini-Flughafen, der die Basis der gerade neu installierten Luftbrücke der Alliierten war. Jede Stunde konnte hier eine Transportmaschine starten und den Menschen in Sarajewo Lebensmittel, Decken, Medikamente bringen. Aber die Serben schossen unberechenbar auf die einschwebenden Flugzeuge. So gab es Tage in diesen Wochen und Monaten der Luftbrücke, an denen die Piloten in Falconara aufs Meer schauten und Däumchen drehten. Weil gerade mal wiedereine Maschine getroffen worden war oder weil auf der sehr knappen Anfluglinie hinunter über den Berg Igman zum Flughafen Sarajewo dichter Nebel waberte. Im Winter ein häufiger Gast. Oder weil die Piloten mithilfe eines von den Israelis nachträglich eingebauten Spezialgerät erkannten, dass die Serben eine Rakete auf das Flugzeug abgeschossen hatten. »Tracken«, nennen das die Piloten, wenn bei ihnen der...