Was heißt hier Zuversicht?
»Jeder Tag ist ein Geschenk
Er ist nur scheiße verpackt
Und man fummelt am Geschenkpapier rum
und kriegt es nur mühsam wieder ab.«
Aus dem Song »Das Leichteste der Welt«
von Kid Kopphausen
Stellen Sie sich vor, Sie starten in Ihr Erwachsenenleben, sind Anfang zwanzig und voller Ideen und Zukunftshoffnung. Da wird bei Ihnen eine rätselhafte Krankheit diagnostiziert, die unheilbar ist und – so eröffnen Ihnen die Ärzte bedauernd – allmählich zur Lähmung und über kurz oder lang zum Tod führen wird. Wie viele Jahre Ihnen noch bleiben, kann niemand genau sagen, aber den betroffenen Mienen der Ärzte entnehmen Sie, dass es offenbar nicht mehr allzu viel Zeit ist.
Wie gehen Sie damit um? Wüten Sie gegen Ihr Schicksal und stürzen sich in eine Verzweiflungsaktion? Versinken Sie in Selbstmitleid und einem depressiven Es-hat-ja-alles-eh-keinen-Sinn-mehr-Gefühl? Oder hoffen Sie auf ein Wunder und bitten Sie – je nach Glaubensrichtung – um eine Audienz beim Papst/Dalai Lama/Wunderheiler?
Das ist mehr als ein hypothetisches Gedankenspiel. Es ist einerseits die wahre Geschichte eines persönlichen Schicksals (und vielleicht ahnen Sie schon, um wen es geht); andererseits ist es eine gute Metapher für das Lebensgefühl unserer Zeit, das von Krisen- und Endzeitstimmung geprägt ist. Denn die gewohnte Welt wirkt wie aus den Fugen, die Tage unseres vertrauten Lebensstils scheinen gezählt. Angesichts einer Vielzahl existenzieller Bedrohungen – Terrorismus, Atomkriegsgefahr, Klimawandel, Wirtschaftskrisen – wirkt das demokratische System wie von einer Lähmung befallen und ohne Hoffnung auf eine rettende Therapie. Zwar kann niemand genau sagen, wie lange die gewohnten Mechanismen noch funktionieren, doch der Zusammenbruch scheint nur eine Frage der Zeit.
Die Gesellschaft reagiert auf diese Krisenstimmung ähnlich wie ein Todkranker auf die Nachricht von seinem baldigen Ende: Nicht wenige Bürger flüchten sich in Wut und Verzweiflung, toben ihre Angst und ihren Hass in sozialen Netzwerken oder radikalen Parteien aus und machen für alle Übel passende Sündenböcke aus – in Deutschland sind die Flüchtlinge schuld, bei Donald Trump die Mexikaner, in Russland die Westler … Andere versinken in Depression, ziehen sich zurück und lesen sinistre Bücher, wie etwa Michel Houellebecqs Unterwerfung, die mit großer Geste den Untergang der abendländischen Kultur beschwören.
Stephen Hawking hat nichts von alldem getan, als ihm sein bald bevorstehendes Ende angekündigt wurde. Dabei hätte er allen Grund zur Wut oder Depression gehabt. Kurz nach seinem 21. Geburtstag war es, als ihm die Ärzte eröffneten, dass er an einer seltenen Muskelerkrankung leide, für die es keine Therapie gäbe. Wie lange er noch zum Leben habe, konnte ihm niemand sagen, aber es war klar, dass mit einer kontinuierlichen Verschlechterung seines Zustandes zu rechnen sei. Der junge Physik-Doktorand wusste nicht einmal, ob ihm noch genügend Zeit bliebe, seine Promotion abzuschließen.
Doch dann überlebte Hawking alle ärztlichen Prognosen und erreichte das respektable Alter von 76 Jahren. Und nicht nur das: Als er im März 2018 starb, wurde der gelähmte Kosmologe für eine Weltkarriere gerühmt, die selbst für kerngesunde Forscher märchenhaft gewesen wäre: bekanntester Physiker seiner Zeit, sensationell erfolgreicher Bestsellerautor und nebenbei noch mehrfacher Vater und Großvater. Welche Zuversicht hielt ihn aufrecht, woraus schöpfte Hawking seinen erstaunlichen Lebensmut? Und was lässt sich daraus lernen für unseren eigenen Umgang mit unabwendbaren Krisen und lebensbedrohlichen Situationen?
Stephen Hawking in der Schwerelosigkeit eines Parabelfluges – © picture-alliance/dpa
Üblicherweise sind beim Thema Zuversicht ein paar typische Antworten schnell bei der Hand: Man dürfe die Hoffnung nicht verlieren, dass am Ende doch alles gut ausgehe; müsse sich in positivem Denken üben und zum Beispiel darauf vertrauen, dass auch bei unheilbaren Krankheiten noch Spontan- oder Wunderheilungen möglich seien; oder es wird empfohlen, sich der Religion zuzuwenden und seinen Glauben wiederzuentdecken.
Stephen Hawkings Geschichte ist deshalb so bemerkenswert, weil bei ihr all diese gängigen Antworten nicht greifen: Weder erlebte er eine wundersame Heilung, noch ging seine Krankheitsgeschichte »gut« aus. Im Gegenteil, die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), an der er litt, hat seinen Körper genau so unerbittlich in den Schraubstock genommen, wie es die Ärzte vorhergesehen hatten. Die Nervenerkrankung raubte ihm nach und nach die Kontrolle über seine Muskeln und schließlich noch die Stimme. Über vierzig Jahre saß er im Rollstuhl, die letzten dreißig Jahre seines Lebens konnte er sich nur noch mithilfe eines Sprachcomputers und einer roboterhaften Kunststimme mitteilen.
Auch mit der Hoffnung auf Gott oder andere höhere Mächte brauchte man Hawking nicht zu kommen. Der Physiker war ein durch und durch nüchterner Kopf, der mit religiösen Anwandlungen ebenso wenig anfangen konnte wie mit allen Arten von Wunderglauben oder esoterischem Hoffnungskitsch. Im Gegenteil. Im Leben wie in seinen physikalischen Theorien hatte er sich der Logik und der kühlen Ratio verschrieben. Anders als sein berühmter Kollege Albert Einstein hat er auch niemals Spekulationen darüber angestellt, was »der Alte« (wie Einstein Gott gern bezeichnete) wohl täte oder ob Gott würfelt oder Ähnliches. In seinen Theorien, so sagte Hawking einmal, sei für einen Schöpfer schlicht kein Platz.*
Es ist aber auch nicht so, dass Hawking ein übermenschlicher Superheld gewesen wäre, dem jegliche Verzweiflung und Schwermut fremd waren. Auf die Eröffnung, dass er an einer unheilbaren Krankheit litt, reagierte er so, wie wohl jede/r von uns darauf reagieren würde: Er empfand die Nachricht als »Schock« und fragte sich, warum ausgerechnet ihm so etwas passiere. »Ich fühlte mich irgendwie als tragische Gestalt«, erzählt er in seinen Memoiren, er habe zunächst viel Musik von Wagner gehört und wirre Träume gehabt.1 Die Zeitschriftenberichte aber, denen zufolge er unmäßig getrunken habe, so insistierte Hawking, seien »übertrieben« gewesen (was nicht ausschließt, dass er sich hin und wieder ein Glas genehmigte). Kurz und gut: Stephen Hawking zeigte sich als ganz normaler Mensch, der seine tiefe Krise nicht mit übernatürlichen Fähigkeiten meisterte, sondern mit denselben Mitteln, die uns allen zur Verfügung stehen.
Genau das macht ihn als Beispiel für die Kraft der Zuversicht so interessant. Denn in dem Maße, wie ihm die äußere Bewegungsfähigkeit genommen wurde, war Hawking gezwungen, seine innere Freiheit zu entdecken. Das ist ihm offenbar so gut gelungen, dass er daraus einen enormen Überlebenswillen entwickelte, unabhängig von seiner körperlichen Verfassung. Fairerweise muss man hinzufügen, dass Hawking außergewöhnlich intelligent war und eine eindeutige Begabung zum physikalischen Denken hatte – ein solches Talent hat nicht jeder. Dennoch kann er auch jenen, die am aktuellen Zustand der Welt verzweifeln, als Vorbild dienen: Obwohl der junge Hawking nach gängigen Maßstäben kaum eine Chance hatte, hat er sie exzellent genutzt.
Um diese Kraft der inneren Freiheit und die Bedeutung der Zuversicht geht es in diesem Buch. Im Folgenden begegnen Sie zahlreichen Menschen, die mit Stephen Hawking eines gemein haben: Sie alle standen vor der Frage, wie man den Lebensmut bewahrt, wenn die äußeren Bedingungen unerfreulich, düster oder gar aussichtslos erscheinen. Und ihre Geschichten handeln alle von der Kunst, unter solchen Umständen die richtige innere Haltung zu finden und auch dann noch Anlass zur Zuversicht zu sehen, wenn jene Quellen erschöpft sind, aus denen wir üblicherweise schöpfen.
Was Zuversicht und Optimismus unterscheidet
Um es allerdings gleich vorweg zu sagen: Dabei geht es nicht um die naive Hoffnung, dass am Ende irgendwie alles gut werde; dieses Buch ist auch kein Ratgeber im positiven Denken oder eine Empfehlung zum unbeirrten Optimismus, demzufolge es keine Krisen und niemals leere Gläser gibt, sondern immer nur Chancen und halb volle Gläser. Diese Art von stählernem Optimismus ist mancherorts – wie etwa in den USA – ja schon fast zur Staatsideologie erhoben. Dabei trübt der ständige Blick durch die rosarote Brille die Sicht eher, als sie zu schärfen. Gerade wenn echte Katastrophen drohen, ist diese Haltung wenig hilfreich und oft sogar kontraproduktiv.
Eingängig lassen sich die Unterschiede zwischen Optimismus, Zuversicht und Pessimismus anhand der berühmten Parabel von den drei Fröschen illustrieren, die in einen Topf Sahne fallen. Der Pessimist denkt: »O je, wir sind verloren, jetzt gibt es keine Rettung mehr.« Sagt’s und ertrinkt. Der Optimist hingegen gibt sich unerschütterlich: »Keine Sorge, nichts ist verloren. Am Ende wird Gott uns retten.« Er wartet und wartet und ertrinkt schließlich ebenso sang- und klanglos wie der Erste. Der dritte, zuversichtliche Frosch hingegen sagt sich: »Schwierige Lage, da bleibt mir nichts anderes übrig, als zu strampeln.« Er reckt also den Kopf über die Sahneoberfläche und strampelt und strampelt – bis die Sahne zu Butter wird und er sich mit einem Sprung aus dem Topf retten kann.
Zuversicht heißt also nicht, illusionäre Hoffnungen zu hegen, sondern einen klaren Blick für den Ernst der Lage zu behalten; zugleich heißt Zuversicht aber auch, sich nicht lähmen zu lassen, sondern die Spielräume zu nutzen, die sich auftun – und seien sie noch so klein. Allerdings ist die Begriffsverwirrung...